Messlatte mit Mic Drop
Chris Gavalers detailbesessene Bestandsaufnahme der Erzähl- und Bildtheorie des Comics

The Comics Form: The Art of Sequenced Images rezensiert von Lukas R. A. Wilde

Viele Comictheoriewerke der letzten Jahre, die einen gewissen Grundlagenanspruch vertreten haben, entwickelten ihre jeweiligen Zugänge – Perspektiven, Methodiken und Begrifflichkeiten – doch eher spezifisch: etwa Simon Grennan (2017) mit einer phänomenologischen Prägung, Kai Mikkonen (2017) narratologisch oder Paul Fisher Davies (2019) aus der multimodalen Linguistik heraus. Chris Gavaler legt nun die wohl breiteste Bestandsaufnahme der letzten zwei Dekaden Comictheorie vor, in einer fast obsessiven Suche nach immer präziseren Unterscheidungs- und Beschreibungsmöglichkeiten der narrativen Funktionszusammenhänge sequenzieller Bilder.

Größere Theoriewerke der Comicforschung scheinen in gewissen zyklischen Wellen verfasst zu werden und erst mit einigem Abstand Einzug in den weiteren Diskurs zu halten. Unzählige jährliche Aufsätze greifen auch heute noch rasch zu Thierry Groensteen (2007; im deutschsprachigen Raum vielleicht auch zu Martin Schüwer, 2008), obgleich anderthalb Jahrzehnte seit den Erstveröffentlichungen ins Land gezogen sind. Parallel zu einem aktuellen Schub an neuen Handbüchern und Einführungswerken (vgl. etwa allein in den letzten 12 Monaten Fawaz/Whaley/Streeby 2021; La Cour/Grennan/Spanjers 2022; Pedri/Howitt 2022) sind nun aber wieder einige bemerkenswerte Theoriearbeiten erschienen (vgl. neben Grennan 2017; Mikkonen 2017; Davies 2019 etwa auch Kwa 2020 oder Earle 2021), die noch einmal sehr grundsätzlich die Frage danach stellen, wie Comics überhaupt zu betrachten sind und wie eine angemessene Theorie, letztlich auch jede Grundlage ihrer Analyse, aussehen sollte. Chris Gavalers Projekt wirkt im Vergleich zu den einführend genannten Werken zunächst fast schon bescheiden oder aber überambitioniert – je nach Blickwinkel: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um eine rein formale Beschreibung des Comics und seiner daraus resultierenden notwendigen (aber auch viele seiner typischen) Darstellungsmittel. Aus einer zunächst wenig überraschenden Definition heraus, nämlich sequenzielle Bilder (»both the most repeated and the least contested features in comics definitions«, TCF, 9), leitet das Einführungskapitel ein transmedial anschlussfähiges und medien- bzw. formspezifisch fundiertes Verständnis von Discourse vs. Diegese ab. Gavaler bleibt dabei zunächst dezidiert beim schriftfreien Einzelbild. Was zunächst sehr literaturwissenschaftlich anmuten mag, hat gerade die Ãœberwindung des bekannten Dilemmas zum Ziel, Comics entweder narratologisch oder kunstwissenschaftlich zu begegnen: »I do use literary tools, but my focus is not on the narrative qualities that sequenced images may produce, but on the image features that may produce them« (TCF, 15). Ein großes Versprechen, das eingelöst werden soll, indem Schritt für Schritt die folgenden Ebenen abgleitet werden: Von den Erzählmöglichkeiten (und -grenzen) des schriftlosen Einzelbildes (Kapitel 2) über die Bestimmungsmöglichkeiten von nicht materiell (sondern eben rein ästhetisch) determinierten Bildgrenzen und Bildverbindungen (Kapitel 3); daraufhin zur Frage, welche prä- Verbindungen zwischen Einzelbildern formal überhaupt bestehen können (Kapitel 4) und wie diese wiederum spatio-topisch im Layout angeordnet sein können und mit diesem interagieren, etwa als Blickführung (Kapitel 5). Erst danach – wir befinden uns mit Kapitel 6 nun bereits auf Seite 139 – kommt Gavaler auf die eigentliche Sequenzialität der Comic-Form zu sprechen, der Darstellung von Zeitlichkeit, womit viele andere Werke allzu begierig einsteigen. Ein abschließendes Kapitel 7 bezieht schließlich erst Text-Bildverbindungen mit ein und dekliniert anhand derer nochmal alle vorigen Fragen systematisch durch. 

All das scheint man bereits hunderte Male gehört und gelesen zu haben und tatsächlich maßt sich der Autor nirgendwo an, das Rad neu zu erfinden. Stattdessen verbindet er bestehende Annahmen auf der Höhe der Zeit zu einem kohärenten, vielfach verblüffend-originellem Ganzen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Ebenso überraschend belegt seine Diskussion des Zeichenstils im Comic diesen als »semi-darstellend« (vgl. TCF, 37–50), insofern die Transparenz cartoonisierter Zeichnungen immer ambivalent bleiben muss und von einem reinen Darstellungsmittel jederzeit zu einem Aspekt der dargestellten Welt umschlagen kann (»Though cartoon objects are impossible in our reality, their transparently drawn qualities could accurately depict a cartoon reality«, TCF, 46). Spiegelbildlich dazu wird Layout als »pseudo-formal« ausgewiesen (vgl. TCF, 61–85), weil bereits die grundlegenden Panels des Comics eben nie materiell gegeben, sondern selbst Resultat eines ersten Darstellungsverhältnisses sind. Im Falle von Panel-Ãœberlagerungen kann so eine theorietechnisch folgenreiche ›Semi-Diegese‹ ausgemacht werden (»Pseudo-depth is a drawn effect no different from other drawn effects and so is a diegetic quality«, TCF, 66). Auch in den weiteren Kapiteln wird kaum eine comictheoretische Diskussion der letzten Jahrzehnte ausgelassen – etwa die Frage nach comicspezifischen Erzählinstanzen oder Fokalisierungsmöglichkeiten – zu der nicht die relevantesten Probleme, Klassifizierungs- und Unterscheidungsmöglichkeiten handlich zusammengefasst und dann substanziell erweitert werden. 

Was diesen Parforceritt dabei ebenso beeindruckend wie maßgeblich macht, sind sicherlich zwei Aspekte: Zum einen ist die schiere Zahl der comictheoretischen Referenztexte, die Gavaler einer kritischen und detaillierten Prüfung unterzieht, gerade auch ganz aktuelle Arbeiten aus den letzten fünf Jahren, einigermaßen beispiellos. Selten sieht man so viele Fäden gebündelt und originell neu zusammengeführt. Auch Autor_innen, deren Arbeiten aus eigentlich sehr heterogenen Richtungen stammen – etwa Neil Cohns Kognitionspsychologie (2013), Hannah Miodrags eher linguistische Arbeiten (2013) oder Barbara Postemas semiotische Orientierung (2013) – werden ebenso wohlwollend wie streng in- und gegeneinander übersetzt, um immer feingliedrigere Unterschiede freizulegen – die tatsächlich einen Unterschied machen! Denn, und das muss man bei aller Detailbesessenheit besonders anerkennend zugestehen, Gavaler bleibt geradezu jargonfrei und immer an tatsächlichen Sachfragen, an narrativen Unterschieden, interessiert, die er an vielen hunderten aktuellen Beispielen anschaulich durchdiskutiert. Die herangezogenen Werke stammen überwiegend aus dem anglophonen Kontext (übersetzte französische Comics sind auch darunter), beziehen aber weithin diskutierte Graphic Novels ebenso mit ein wie eine riesige Bandbreite an Marvel- und DC-Abenteuern oder Image- und Dark Horse-Comics. Tatsächlich wird sogar eine große Breite an Artefakten der bildenden Kunst, der Malerei, Fotografie und des Mediendesigns kenntnisreich hinzugezogen, um die Werkzeuge der Comictheorie zu schärfen und ihre Anschlussfähigkeit in anderen Feldern unter Beweis zu stellen. 

Man muss mit den unendlich feinen begrifflichen, definitorischen und analytischen Verästelungen von The Comics Form nicht immer übereinstimmen. Viele Überlegungen und Schlussfolgerungen dürften sicherlich nicht unkontrovers aufgenommen werden. Dort aber, wo man dem Autor widersprechen möchte, wird man nicht nur in die komfortable Lage, sondern auch in die strenge Pflicht versetzt, nun sehr viel präziser angeben zu können – und zu müssen – an welchen Annahmen sich die Wege trennen. Die Messlatte wurde zweifellos erhöht. So darf das Buch auch mit einem wenig bescheidenen Mic Drop im letzten Satz schließen: »These are the qualities of sequenced images, which together explain the comics form« (TCF, 210). Widerspruch wird spannend.

Bibliografie

    • Davies, Paul Fisher: Comics as Communication. A Functional Approach. Cham: Palgrave Macmillan, 2019.
    • Earle, Harriet E. H.: Comics. An Introduction. New York: Routledge, 2021.
    • Fawaz, Ramzi, Deborah Whaley u. Shelley Streeby (Hg.): Keywords for Comics Studies. New York: NYU Press, 2021.
    • Grennan, Simon: A Theory of Narrative Drawing. New York: Palgrave Macmillan, 2017.
    • Groensteen, Thierry: The System of Comics. Ãœbers. v. Bart Beaty und Nick NguyenJackson: Univ. Press of Mississippi, 2007.
    • Kwa, Shiamin: Regarding Frames. Thinking with Comics in the Twenty-First Century. Rochester: RIT Press, 2020.
    • La Cour, Erin, Simon Grennan u. Rik Spanjers (Hg.): Key Terms in Comics Studies. Cham: Palgrave Macmillan, 2022.
    • Mikkonens, Kai: Narratology of Comic Art. New York: Routledge, 2017.
    • Miodrag, Hannah: Comics and Language: Reimagining Critical Discourse on the Form. Jackson: University Press of Mississippi, 2013.
    • Pedri, Nancy u. Charles Howitt (art): A Concise Dictionary of Comics. Jackson: University Press of Mississippi, 2022.
    • Postema, Barbara: Narrative Structure in Comics. Making Sense of Fragments. Rochester: RIT Press, 2013.
    • Schüwer, Martin: Wie Comics erzählen. Grundriss einer intermedialen Erzähltheorie der grafischen Literatur. Trier: WVT, 2008.

 

The Comics Form
The Art of Sequenced Images
Chris Gavaler
London u.A.: Bloomsbury Academic, 2022
248 S., 107,63 Euro
ISBN 978-1-3502-4591-4