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Being Old – or: Doing Age? Entwürfe des Alters im Comic

Ãœber diese Ausgabe

»Nur den Göttern ist des Alters Bürde fremd« (608). Bereits Sophokles beklagte in seinem Werk Ödipus auf Kolonos das Alter und alles, was damit einhergeht, als beschwerlich. Die Wahrnehmung der natürlichen Veränderung des Körpers taugt tatsächlich schon seit Jahrhunderten zur Angstvision. Die Rezeption des Alters unterliegt der Einordnung in eine an- und abschwellende Kurve: Nach dem Heranwachsen, der Blüte, folgt unweigerlich der Zerfall, auch wenn der genaue Beginn dieser Lebensphase undefiniert bleibt. Deren Lesart wird bestimmt von schwindender Attraktivität und sexueller Anziehungskraft/Aktivität, nachlassenden motorischen und geistigen Fähigkeiten sowie Krankheit und dem bevorstehenden Tod, kurz: Alter/n wird als Negativdifferenz zum gesellschaftlichen Ideal lesbar.

Im Bereich des Comics hat die Pathographie als Forschungsfeld in den letzten Jahren erhebliche Beachtung erfahren. In Bezug auf den alte(rnde)n Körper und Geist werden hier häufig explizite Krankheitsbilder, wie z.B. die Demenz in den Blick genommen. Dabei wird größtenteils aus der Perspektive der Angehörigen oder der Pflegenden erzählt (Couser, 21), seltener – wie im Falle von Rebecca Rohers Bird in a Cage (2016) – sind die Erkrankten hier die Protagonist_innen. Die Frage nach dem Alt-werden der (Groß-)Eltern wird mit Erkrankung und Pflegebedürftigkeit gleichgesetzt und wird zum Narrativ von der Besorgnis der Jüngeren.

Aber die Auffassung oder das Erleben von Alter ist nicht allein anhand körperlicher und geistiger Entwicklungen oder Vergleiche relevant. Das ›Alter‹ kommt auch im Generationen-Begriff zum Tragen, und hier zeichnete sich in der Mitte des 20. Jahrhunderts. eine prägnante Zäsur ab, die gerade in der sprachlichen Verwendung seit Ende der 1960er in den westlichen Industrienationen verstärkt eine diametrale Auffassung vermittelt. Es stehen sich Jung und Alt gegenüber, wobei letztere Gruppe überkommene Traditionen, eine reaktionäre Haltung und Stillstand verkörpern. Dies sind »kulturelle[s] Deutungsmuster« (Parnes/ Vedder / Willer, 10), deren Stereotypen bis heute nachwirken. Ob familiär gewachsene (Großmutter/-vater) oder durch gemeinsame Generationserlebnisse geformte Einheiten (›Babyboomer‹, Senioren): Die vermeintliche Opposition zu den jüngeren Kohorten wurde in der Folgezeit durch den demografischen Wandel in den 1980ern vom ideellen zum »ökonomische Generationenkonflikt« (Krüger, 361) stilisiert. Somit prägten zunehmend die wirtschaftlichen Konsequenzen aus der sogenannten. ›Überalterung‹ der Gesellschaft den öffentlichen Diskurs.

Abb. 1: Katharina Gschwendtner, Cover für CLOSURE #9.

In Deutschland fand dies bspw. einen sprachlichen Tiefpunkt im Ausdruck ›Renterschwemme‹ (dwds), der die finanziellen Belastungen des Sozialsystems durch den überproportional ansteigenden Anteil von Pensionär_innen negativ zusammenfasste. In jüngster Vergangenheit scheint sich die Debatte erneut um die vermeintliche Kluft in Bezug auf Werte und Ideale zu drehen. Dies drückt sich unteranderem in der Berichterstattung und Bewertung der Verteilung von Voten für den ›Brexit‹ 2016 aus, bei der die Berechtigung Älterer zur Abstimmung über die Zukunft des Landes diskutiert wurde (statista).

Die sozialen Deutungsmuster und Rollenzuweisungen haben sich erheblich gewandelt. Es gibt heute vielfältige Lebensentwürfe für und von alten Menschen, an die inzwischen genauso hohe Erwartungen geknüpft werden, wie an die der Jugend. Auch unzählige Comics greifen dies auf, und dabei sind Senior_innen nicht mehr nur Sidekicks sondern Protagonist_innen. Dies können die Alten Knacker (Lupano/ Cauuet, 2014–) oder die Old Farts (Vazelina, 2020) sein. Die Erinnerung ist nicht nur aufgrund ihrer Abwesenheit Thema, sondern wird inhaltlich untersucht, genau wie das sich verändernde Zusammenleben (so in Special Exits: A Memoir von Joyce Farmer, 2010).

Wie diskutiert der Comic nun diese Debatten, in denen Klassismus, Materialismus und normative Ideale prägnant hervortreten? Welches Bild, welches Erleben des Phänomens ›Alter‹ wird gefunden – und wer erzählt darüber? Sind es nach wie vor die ›Anderen‹, indirekt Betroffenen? Denn: Der demografische Wandel macht sich auch jenseits der Panels in der Comic-Industrie bemerkbar, Leser_innen ebenso wie Künstler_innen werden älter. Kaoru Endo, Professor für Soziologie an der Gakushuin University in Tokio, konstatiert hierzu beispielsweise für den Manga-Markt:

Different social problems and concerns rise up as opposed to when society is centered around young people, and manga that show the reality of an aging society are in demand from both readers and writers. Demand for stories focused on the elderly has grown alongside their audience: 27.7 percent of Japanese are older than 65, up from 21.5 percent just a decade ago. (Lies)


Diese Aspekte lassen sich auf den gesamten Markt übertragen, wie zum Beispiel die über lange Zeit gewachsenen Karrieren von Posy Simmonds oder Alan Moore zeigen.

Die neunte Ausgabe von CLOSURE versammelt Beiträge zu diesen und weiteren Facetten des Alter(n)s im Comic, seiner Leserschaft und der Autor_innen.

Assunta Alegiani’s autobiographischer Comic Entgleiten eröffnet unsere Ausgabe über Altern in Bildern und Sequenzen. In dieser eindringlichen Arbeit zeichnet die Künstlerin die Auswirkungen von Autismus-Spektrum-Störungen auf die betroffene Person, ihre Familie und ihre Beziehungen nach. In rhythmisch inszenierten Sequenzen registriert der Comic mehrere Akte des Entgleitens und möglichen Wiedererlangens von Kontrolle angesichts einer späten Diagnose. Dabei wird das Alter als entscheidender Faktor für das Verständnis der Diagnose, ihrer Vorgeschichte und Nachwirkungen deutlich. Durch ihre sensible und selbstreflexive Herangehensweise ist Entgleiten nicht nur ein autobiografischer Comic, sondern auch ein Comic über die Bedingungen autobiografischen Denkens unter dem Einfluss von Erkrankung, Diagnose, familiären und emotionalen Systemen – und, vielleicht vor allem, Zeit.

In ihrem begleitenden Artikel »Panel by Panel: Considering Life on the Autism Spectrum Through Making an Auto/Biographical Comic« bietet Assunta Alegiani eine parallele Untersuchung der Schnittstellen von Krankheit, Behinderung, Geschlecht und Alter. Der Artikel argumentiert, dass es entscheidend ist, das Zusammenwirken von Alter und dem ›erweiterten Körper‹ einer ASS-Betroffenen in vielfältigen sozialen und natürlichen Umwelten zu begreifen. Der Artikel, der aktuelle Forschungsergebnisse zu Autismus-Spektrum-Erkrankungen, Alter und Geschlecht vorstellt, erscheint hier begleitend zum Comic Entgleiten und bietet dadurch Überlegungen zu grafischem Arbeiten als Verständnis- und Verständigungsarbeit, eine Neubetrachtung der Bedingungen für ein »blühendes Leben«. Oder besser gesagt: Leben, plural, in aller intersektionalen Vielfalt und gelebten Realität.

Ruth Gehrmann und Lisa Brau-Weglinski stellen in ihrem Beitrag »The Boys intersektional und multimedial betrachtet. Age und Gender als machtkonstituierende Kategorien in Comicreihe und Serie« die unterschiedlichen Verkörperungen des Charakters Stillwell in Comic und Serie gegenüber. Die Figur ist dem Superhelden Homelander sowohl in der Quelle als auch der Adaption Eltern-ähnlich zugeordnet. Anhand der Differenz zwischen der Vorlage, in welcher der Charakter männlich ist, und der seriellen Adaption mit einer weiblichen Madelyn Stillwell, analysieren sie die spezifisch gegenderte Inszenierung des Alters – und inwiefern sich Alter hier als relationales Phänomen zeigt.

Irmela Marei Krüger-Fürhoff spricht im Beitrag »Grafische Erzählungen als Generationenporträt« mit der Berliner Illustratorin und Kunsttherapeutin Charlotte Müller über deren im Frühjahr 2022 veröffentlichten Comic Ein Haus mit vielen Fenstern. Gesammelte Lebensgeschichten. Mit dieser Publikation war sie Finalistin des Berthold-Leibinger-Preises 2021 und ist aktuell für den Opera Prima Award der BRAW – Bologna Ragazzi nominiert. Die Künstlerin berichtet von ihren Erfahrungen mit den Menschen, deren Geschichten Eingang in den Comic fanden und gewährt Einblicke in die konzeptionellen sowie ästhetischen Entscheidungen zu dessen Entstehung. Irmela Krüger-Fürhoff diskutiert mit ihr mögliche über Ansätze der Analyse, die neben den Age Studies auch Ding- und Erinnerungstheorien umfassen.

In ihrem Aufsatz »Narrative des Erinnerns und Vergessens in Alzheimer-Comics« beschreibt Naomi Lobnig anhand von zwei ausgewählten Comics die Sicht auf und den Umgang mit älteren an Alzheimer erkrankten Menschen. Nach einem kurzen Einblick in die Erkrankung, deren Sichtbarmachung in der Populärkultur, sowie das Forschungsfeld der Graphic Patographies , geht der Text in die Analyse von Aliceheimer’s und Vergiss dich nicht über. Die De-konstruktion von Erzähl- und Sehweisen von Alzheimer und Demenz mit einem Fokus auf Genderungleichgewichtungen ist von zentraler Rolle in den Überlegungen Lobnigs. Sie arbeitet die Bedeutung des Mediums Comic für das Narrativ des Erinnerns und Vergessens und das Genre des Graphic Memoirs heraus.

Die Autorinnen von »Aging in/with Comics«, Lucia Cedeira Serantes und Nicole K. Dalmer, stellen ihr von der American Library Association gefördertes Projekt einer Leseliste vor, die Darstellungen des Älterwerdens im Comic kompiliert, strukturiert und reflektiert. Die Autorinnen arbeiten heraus, wie Comics eine Reflektion über den Prozess des Alterns anregen und damit einseitig negativen Assoziationen des Verfalls und Verlusts entgegenwirken können. Die auf comicsandaging.blog einsehbare Sammlung stellt nicht nur eine empirische Grundlage zum Thema zur Verfügung, sie ist zugleich als Plädoyer zu verstehen: Comics verfügen nach Serantesʼ und Dalmers Darstellung über einzigartige Ressourcen, um globale Prozesse des Alterns nicht nur ins Bild zu setzen, sondern auch eine nuancierte Darstellung von ›old age‹ zu ermöglichen. Der Artikel zeigt, dass Comics der demografischen Entwicklung grafische Experimente jenseits ›veralteter‹ Bilder des Alterns gegenüberstellen – und hinterfragt die Implikationen der Zuschreibung als ›veraltet‹.

In ihrem Beitrag »Killing the Colorist? Künstlerische Arbeitsteilung im Produktionsprozess von Batman: The Killing Joke« widmet sich Helene L. Bongers im offenen Bereich der problematischen Zusammenarbeit zwischen Brian Bolland, dem Zeichner von The Killing Joke, und dem Koloristen des Werkes, John Higgins. In einer überzeugenden Vergleichsanalyse zeichnet die Autorin die signifikanten Bedeutungsunterschiede zwischen Higgins analogen Kolorierungen in der Originalausgabe und der digitalen Neukolorierung durch Bolland in der Jubiläumsausgabe nach. Ausgehend von ihrer detaillierten Einzelanalyse leitet sie generellere Aspekte ab, wie beispielsweise die Frage nach Agency und Autor_innenschaft oder die von der Forschung laut Bongers oft vernachlässige Bedeutung von Farbe im Comic. Im Gegensatz dazu belegt der vorliegende Beitrag überzeugend die »Zusammengehörigkeit von Linie und Farbe.«

Ergänzt wird die neunte Ausgabe von CLOSURE durch Rezensionen zu aktuellen Erscheinungen aus der Forschungsliteratur sowie dem Bereich Comic.

Wir danken den Autor_innen ebenso wie den Rezensent_innen, und besonders Katharina Gschwendtner für die Gestaltung unseres Covers (Abb. 1). Die Vorstellung der Künstlerin findet sich hier.

Kiel, März 2023

Susanne Schwertfeger for the CLOSURE-Team

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Bibliografie

  • Couser, G. Thomas: Memoir. An Introduction. Oxford: Oxford University Press, 2011.
  • Dwds: Rentnerschwemme. In: Der deutsche Wortschatz von 1600 bis heute. <https://www.dwds.de/wb/Rentnerschwemme>. Letzter Zugriff am 16. Januar 2023.
  • Elaine, Lies: Manga comics turn grey – but spirited – along with readers. <https://www.euronews.com/2018/09/28/manga-comics-turn-grey-but-spirited-along-with-readers>. 28.09.2028. Letzter Zugriff am 16. Januar 2023.
  • Krüger, Carolin: Diskurse des Alter(n)s. Öffentliches Sprechen über Alter in der Bundesrepublik Deutschland (Diskursmuster 11). Berlin/Boston: De Gruyter Mouton, 2016.
  • Parnes, Ohad/Vedder, Ulrike/Willer, Stefan: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2008.
  • Sopholes: Ödipus auf Kolonos (Oid. K., 608).
  • Statista Research Department: Which way did you vote in the Brexit referendum? Brexit votes in the United Kingdom by age 2016. <https://www.statista.com/statistics/520954/brexit-votes-by-age/>. Letzter Zugriff am 16. Januar 2023.
  • Galen: Real Materialism and Other Essays. Oxford: Oxford UP, 2008.

 

Herausgeber_innen & Redaktion

Cord-Christian Casper
Constanze Groth
Kerstin Howaldt
Sarah Jawaid
Dorothee Marx
Susanne Schwertfeger
Dennis Wegner

Technische Gestaltung

Sandro Esquivel

Cover & Illustrationen

 Katharina Gschwendtner (Ausgabe #9)

 

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