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Nicht-narrative Comics

Ãœber diese Ausgabe

Was verbindet zwei Panels, die nebeneinander stehen? Die Antwort auf diese Frage lautet zumeist ›eine Erzählung.‹ So verlangt zum Beispiel Scott McCloud, ›einige der Geheimnisse zu lüften, die die unsichtbare Kunst des Comic-Erzählens umgeben‹ (74). In CLOSURE #8 möchten wir diese Reduzierung von Comics auf ihre Narrativität kritisch hinterfragen und stattdessen nicht-narrrative Ansätze des Mediums in den Blick nehmen. Aus einer Vielzahl von Forschungsperspektiven lösen sich die Beiträge von der Idee des Narrativs, hinterfragen das Prinzip der closure, lassen den Plot in den Hintergrund treten – und ebnen damit den Weg für eine Theoretisierung des Nicht-Narrativen. Es geht unseren Autor_innen dabei um die Vielzahl formaler, abstrakter, nichtfiktionaler oder poetischer Konstellationen, die in den Blick geraten, sobald die narrative Lesart nicht mehr die allein gültige ist. ›Müssen wir auf die Erzählung verzichten?‹ (Groensteen, 174) Unsere Beiträge beantworten diese Frage mit einem ›Ja‹ und richten damit den Fokus auf die logischen, formalen, affektiven, konstruierten Verbindungen, die an die Stelle der Erzählung treten.

Obwohl unsere Ausgabe nicht-narrative Comics jenseits von Diegese, Sequenz oder Figuren untersucht, ist sie nicht allein der Abwesenheit vertrauter Formen der Narration gewidmet. Vielmehr fragen unsere Beiträge nach dem Reservoir von Darstellungsmöglichkeiten, das verborgen bleibt, wenn immer bereits ereignishafte, narrative Zustandsveränderungen als Prinzip der Panelverknüpfung vorausgesetzt werden. So kann etwa ›Abstraktion‹ als eigenes Ordnungsprinzip hervortreten, sobald die Kontinuität gezeichneter Charaktere und ihrer raumzeitlichen Veränderungen experimentell aufgehoben wird. Anstatt nicht-narrative Comics als Subgenre zu klassifizieren, schlagen wir vor, Abstraktion als formales Angebot des Mediums zu betrachten, durch das die Parameter des Comics neu ausgelotet werden können: sein doppelter Blick auf die Sequenz und das Layout der Panels, sein Zeichengeflecht, seine Verteilung textueller und visueller Elemente, sowie die gezeichneten Spuren, die sich nicht in der Erzählung einhegen lassen. Eine solche ›über das Diegetische und das Narrativ hinausgehende‹ (Molotiu, 87) Bewegung findet sich zuhauf in abstrakten und experimentellen Comics – und darüber hinaus. Unsere Artikel wenden sich auch Möglichkeiten nicht-narrativer Darstellung zu, die sich in den Zwischenräumer populärer Comics und ihrer dynamischen Handlungen finden lassen.

Unsere Beiträge bieten somit Lektüren an, die sich von sequenziellen, linearen oder episodischen Modi der Darstellung lösen. Das nicht-narrative Potential des Comics verlangt dabei nach einer Neubewertung seiner Form sowie einem Fokus auf die Materialität des Mediums. Wie Bukatman es formuliert, bedarf der so betrachtete Comic einer ›Aufmerksamkeit für die Fläche, Vernachlässigung der linearen Sequenz, sowie einer auf Abstraktion abzielenden Bewegung‹ (113). Unser Versuch ›das Medium kritisch neu zu denken‹ (Baetens, 104) zielt darauf ab, unterschiedlich ausgeprägte Formen von Narrativität durch das Prinzip der Abstraktion zu ersetzen. Welche neuen ›Logiken‹ treten durch eine Bewegung hervor, die die narrative Ordnung unterläuft? Welches ›kohärente gedankliche Modell‹ (Kukkonen) wenden Leser_innen an, sobald das Konzept der Erzählung wegbricht? Welche diagrammatischen, abstrakten, flachen, statischen Zeichen und welche konzeptuellen Modelle formen graphische Lesarten – und welches Wissen generieren sie?

Schließlich erschöpft sich die Funktion des Nicht-Narrativen nicht in einer formalistischen Revision der Comic-Medialität. Wenn es keine Geschichte ist, so hat es doch Methode – oder zumindest eine Funktion, die sowohl der künstlerischen Suche nach Darstellungsmöglichkeiten jenseits des Narrativen und den alternativen Lesarten der Rezipient_innen zugrunde liegt. Wenn der ›Zustand eines guten Lebens für Viele ein gänzlich nicht-narratives Unterfangen ist‹ (Strawson), können wir analog dazu das gute Betrachten eines Comics im Sinne nicht-narrativer Formfindung verstehen? In diesem Sinne zeigen unsere Beiträge, dass Darstellungsweisen jenseits der Erzählung etwa der Modellierung revolutionärer Zeitlichkeit (Aramburú-Villavisencio) dienen können, sowie auch einer medienspezifischen Untersuchung traumatischer Erlebnisse (Hindrichsen) oder der Verbildlichung statischen, scheinbar unveränderlichen Alltagslebens (Picado/Senna/Schneider). All diese Beiträge teilen die Prämisse, dass ›Nicht-Narrativität‹ weder unpolitisch noch funktionslos zu sein hat, sondern vielmehr unentwirrbar mit der kulturellen Verhandlung von Macht, Klasse und Gender verflochten ist. Die Erfahrungen und Affekte, denen unsere Autor_innen in Comics am Rande des Narrativen nachspüren, erscheinen dabei zuweilen als zu ungeordnet, um narrativer Logik oder linearer Sequenz zugänglich zu sein. Ihr formales Äquivalent ist stattdessen der Bruch in der Entfaltung des Plots oder ein Emblem, das sich bewährten narrativen Mustern entzieht.

Anstatt schlicht Comics ihre Erzählung abzusprechen, beobachten die Beiträge Besonderheiten des Comics abseits der Sequenz: so können die Materialität des Comics, Farben, Linien, Soundeffekte, Symbole, Design, Diagrammatik, Performativität, Gesten, das Einzelpanel und die Simultanität der Zeichen in den Vordergrund rücken, sobald wir die Frage ›Was passiert als nächstes?‹ hinter uns lassen. Und wer wäre besser geeignet, uns den Weg in diese abstrakte Welt zu weisen als Gareth A. Hopkins? Hopkins’ Werk setzt sich seit geraumer Zeit mit den Ausdrucksmöglichkeiten abstrakter, sequenzieller Kunst auseinander. Als Titelbild unserer Ausgabe hat er einen ›abstrakten Landschaftscomic‹ beigesteuert, der zunächst in Panels unterteilt zu sein scheint. Aber: nicht alle Rechtecke tragen zu der kohärenten Form bei. Das Panel am unteren linken Rand scheint sich dem Überblick zu entziehen. Diese Dissonanz im Gleichklang bricht mit der zunächst angenommenen Ordnung und zieht die Kohärenz des Gesamtbildes in Zweifel.

Spannungen dieser Art – zwischen Muster und Kollaps, Ordnung und Bruch – liegen auch dem Comic zugrunde, den Hopkins eigens für diese Ausgabe erstellt hat. Zunächst etablieren seine Doppelseiten eine beruhigende Symmetrie, bei der auf der linken Seite fließende Farbverläufe und auf der rechten Seite organische, geschwungene schwarze Formen zu sehen sind. Diese changieren zwischen Vordergrund und Hintergrund, scheinen zum Teil von einer grauen Masse überdeckt, aus der sie wiederum in anderen Panels hervorgehen. Diese deutliche Opposition verändert sich allerdings plötzlich auf der vierten Doppelseite: Hier tauschen die Panels ihre Positionen und werden neu in diagonalen Serien angeordnet, die sich kreuz und quer über beide Seiten hinweg erstrecken. Hopkins’ Formexperiment macht uns mit einer Zeichenwelt vertraut, die eigene Rhythmen, Bewegungen und Ordnungsprinzipien etabliert – visuelle Ereignisse, die nicht ohne weiteres erzählt werden können.

Gareth A. Hopkins, Cover for CLOSURE #8

In seinem dritten Beitrag für CLOSURE #8, dem »Closure Process Comic,« führt uns Hopkins durch den Entstehungsprozess seiner seltsamen Sequenzen. Sein »non-abstract comic« über die Gestaltung abstrakter Sequenzen stellt Kontingenz und Entscheidungen als eigene Gestaltungsprinzipien vor. Dieser Meta-Comic ist eine Studie künstlerischer Zufälle und zugleich ein Appel dafür, das Ungeplante zuzulassen, ihm zu folgen und es in den künstlerischen Prozess zu integrieren. Damit bietet Hopkins zum einen eine Erzählung künstlerischen Schaffens und einer Form des Denkens mit (statt nur über) den Comic. Auch hier sind allerdings die Möglichkeiten des Mediums nicht auf eine lineare Erzählung beschränkt. Statt einer Anleitung deutet Hopkins’ Darstellung des künstlerischen Entscheidungsprozesses eine eigene, nicht-narrative Ebene an, eine Auseinandersetzung mit Materialien und Umgebung, die nicht als Plot zu fassen ist.

Statt klarer Abgrenzungen, entwickeln sich in den Comics dieser Ausgabe Mischzonen, in denen Sequenzen narrativ beobachtet werden können – aber keineswegs erzählbar werden müssen. Dazu passend zeigt Jan Baetens in seiner systematischen Darstellung, dass es vorteilhaft sein kann, Narrativität und Nicht-Narrativität auf einer ›konträren Achse‹ anzuordnen, statt von eine starren Opposition auszugehen. Indem er die Aufmerksamkeit auf Übergänge der Erzählbarkeit lenkt, zeigt sein Artikel – »Nonnarrative or noncomics? (with some notes on Holz by Olivier Deprez and Roby Comblain)« – das Comics ›beides zugleich‹ sein können. Baetens argumentiert, dass jegliche Annahme essentieller Handlungslosigkeit zum Scheitern verurteilt ist. Dieser methodische Zweifel gilt auch für schematische Versuche, Abstraktion mit der Aufhebung von Erzählungen gleichzusetzen. Baetens schlägt stattdessen eine subtilere Form der Interpretation vor, aus der ›non-narrative‹ als eine kontextsensible und verhandelbare Zuschreibung hervorgeht. Statt eines Labels, das einzelnen Comics mit taxonomischer Gewissheit qua Medium aufgedrückt wird, erlaubt es Baetens’ Ansatz, mehr oder weniger intensive Annahmen der Erzählbarkeit zu unterscheiden, mitsamt der Alternativen, die sie jeweils möglich machen. Auf diese Weise kann er faszinierende Zwischenzustände in den Blick nehmen, etwa Comics als »Erzählungen, die an Fahrt verlieren.« Die Vorteile von Baetens’ Verweigerung eines Medienessentialismus zeigen sich insbesondere in seinem Beispiel des ›noncomic‹ Holz, einem vielgestaltigen, multimedialen Projekt. Das ›non‹ in ›nonnarrative‹ wird in diesem Artikel zum Kippbild. Sobald es in den Vordergrund rückt, bietet es die Gelegenheit, die Materialien und Prozesse, die wir mit dem Medium ›Comic‹ verbinden, experimentell neu zu bestimmen.

Warum sollten wir uns also mit Narrativität auseinandersetzen? Und welche Erkenntnisse gewinnen wir durch den Fokus auf Nicht-Narrativität? Andrea Aramburú Villavisencios Beitrag widmet sich dem 2018 erschienenen Comic Waiting von Adriana Lozano Román. Der Comic ist eine Sammlung von Portraits sehr unterschiedlicher Frauen, die jedoch eine Gemeinsamkeit haben: sie wirken unglücklich auf die Betrachter_in. Bezugnehmend auf Sara Ahmeds Konzept des ›guten Lebens,‹ beschreibt die Autorin, wie der Comic die Zweidimensionalität der Comicseite nutzt, um den vermeintlich zeitlichen Prozess des Wartens zu verräumlichen. Aramburú Villavisencio bescheinigt Waiting eine Ästhetik, die an Frauenmagazine aus den 90er Jahren erinnert und argumentiert, dass die einzelnen Bilder eine atmosphärische Spannung erschaffen, ohne dabei jedoch eine ›Erzählung‹ zu etablieren. Durch die Abwesenheit des Erzählens werden die mit Bildern ruhender, sich zurücklehnender Frauen konfrontierten Rezipient_innen zu ›losgelösten Lesenden‹ (›unmoored readers‹), deren Interpretation daraus entsteht, dass ihre Blicke auf den Bildern umherwandern. Aramburú Villavisencios Lektüren einzelner Bilder legen überzeugend dar, dass das Warten bei Lozano entweder als ›endlos und mühsam‹ verstanden oder für sein revolutionäres Potenzial gefeiert werden kann. Letztere Lesart ›lädt uns dazu ein, das Ruhen als einen intersubjektiven, körperlichen Modus des Nachdenkens über weibliche agency zu lesen.‹

Auch Lorenz Hindrichsen untersucht in seinem Artikel »Beyond the Chronotope: De-narrativization in Graphic Trauma Narratives (1980-2018)« die darstellerischen Möglichkeiten, die sich aus der Suspendierung sequenziellen Erzählens ergeben. Er stellt die These auf, dass sich der Kern sowohl individuellen als auch kollektiven Traumas dem narrativen Ausdruck entzieht. Im Kontext eines zeitlich nicht fixierbaren Phänomens wie dem Trauma erscheint der Rückzug sequenziellen Erzählens nur konsequent. Die Ent-Narrativisierung ›kultureller, historischer und biografischer‹ Zeitlichkeit spiegelt die Art und Weise wider, wie die Folgen der Gewalt einer vermeintlich kausalen Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart eine Absage erteilen. Am Ende ist es die traumatische Erfahrung, die die Verletzungen der Vergangenheit priorisiert und die daraus entstehenden Ordnungen immer wieder zerstört, um sie danach neu zu sortieren. Dementsprechend fordern die Brüche, die sich der narrativen Logik der Erzählung entziehen, dazu auf, nicht einfach einen Weg von der Krise zu ihrer Lösung zu erzählen. Comickünstler_innen stellen Traumata nicht einfach nur dar, sondern zeigen, wie die emotionale Reaktion auf die dargestellten Traumata funktioniert, wie sie die vermeintliche Kohärenz von Erinnerung fragmentiert, individuelle Wiederholungsmuster untrennbar miteinander verwebt und eine zukunftsorientierte Vorstellung von Zeitlichkeit untergräbt. Eine derartige Infragestellung von Geschichten durch nicht-narrative Formen kann ›strategisch‹ sein; sie kann die Forderung ›voranzuschreiten‹ oder die Vergangenheit hinter sich zu lassen, verweigern. Comicspezifische Ent-Narrativisierung zeigt uns, dass es ein erster Schritt sein kann, dem Trauma seinen Widerstand gegen das Erzählen zuzugestehen. Nur so können wir sowohl die darstellerische als auch die ethische Bedeutung der Folgen des Leids ermessen.

Wenn Comics Narrativität nicht in den Vordergrund rücken, sind sie deshalb nicht automatisch nicht-narrativ. Wie Benjamim Picado, João Senna und Greice Schneider in ihrem Beitrag »Comics, Non-narrativity, Non-Eventfulness: Three Examples from Brazil« zeigen, ermöglicht ein Nebeneinanderstellen von Narrativität und intrigue – narrativer Spannung – eine genauere Comiclektüre. Dieser Blickwinkel erlaubt es uns, die Idee einer stringent verwobenen Handlung im Comic in der Hintergrund treten zu lassen, ohne dabei jedoch per se auf Narrativität verzichten zu müssen. Picado, Senna und Schneider gehen davon aus, dass die Betrachtung einer nur mehr oder weniger handlungsstiftenden Panelanordnung es uns erlaubt, ›geringfügige Ereignishaftigkeit‹ von absoluter ›Nicht-Narrativität‹ zu unterscheiden. Diese theoretischen Vorüberlegungen zu einer ›reduzierten‹ Handlung kommen anschließend in der Analyse zeitgenössischer brasilianischer Comics zur Anwendung. Die von den Autor_innen gewählten Beispiele inszenieren das Alltägliche, indem sie die Aufmerksamkeit der Lesenden auf ein Nebeneinander von Sequenzialität und Flächigkeit und einer Vielzahl von Formen oder Wiederholungen lenken. Der Beitrag zeigt, dass das inhaltliche Interesse an einer Poetik der Alltäglichkeit eine wandelbare Vorstellung dessen, was ›Ereignis‹ ist, voraussetzt ohne jedoch zu irgendeinem Zeitpunkt zu einem stabilen, nicht-narrativen Gebilde zu werden. Aus diesem Grund kann der Artikel auch als Aufruf gelesen werden, jedwede Dichotomien zwischen Narrativität und ihrem vermeintlichen Gegenteil, der Nicht-Narrativität, kritisch zu hinterfragen.

Die Bedeutung nicht-narrativer Zeichen (und die nicht-narrativen Lektürestrategien, die sie zutage fördern), denen die Beiträge von Aramburú-Villavisencio, Hinrichsen sowie Picado, Senna und Schneider nachspüren, sollten jedoch keinesfalls als eindeutig oder grundlegend greifbar verstanden werden. Die Betrachtung des ›Nicht-Narrativen‹ verlangt danach, dass jede noch so vermeintlich stabile Konstante von Narrativität kritisch hinterfragt wird. Ein gelungenes Beispiel hierfür ist Thierry Groensteens Beitrag »Quasi-Figuren. Im Grenzbereich der Körperlichkeit.« Der Autor unterzieht die etablierte Kategorie der ›literarischen Figur‹ einer Neubewertung. Er geht davon aus, dass traditionelle Vorstellungen der literarischen Figur darauf basieren, dass die Lesenden bereit sind, sich mit dieser Figur zu identifizieren (Groensteen bezeichnet dies als ›referenzielle Illusion‹). Er macht allerdings auch deutlich, dass es einen großen Unterschied macht, ob von einer auf dem Papier konzipierten Figur oder von einer durch ein_e Schauspieler_in verkörperten Figur die Rede ist. Eine Figur im Comic, so Groensteen, ist untrennbar mit ihrem ›grafischen Code‹ verbunden. Im zweiten Teil seines Beitrags diskutiert der Autor eine Vielzahl minimalistischer Comics, denen er attestiert ›eine Welt reiner Zeichnungen ohne jeglichen anthropomorphischen Bezug‹ zu erschaffen. Unter anderem zeigt Groensteen, dass die miniaturisierten Zeichnungen von Maaike Hartjes und Lewis Trondheim durch ihre starke Vereinfachung das Konzept der literarischen Figur kritisch hinterfragen; außerdem erklärt er, warum José Parrondos Eggman durchaus noch als Figur zu betrachten ist, obwohl sie auf nichts anderes als ihr ›gezeichnet sein‹ reduziert zu sein scheint. Der Beitrag schließt mit einer Betrachtung von Marion Fayolles Comics. Hier sind die Figuren – ganz im Gegensatz zu den zuvor besprochenen Beispielen – ›realistisch‹ gezeichnet, und dennoch treten ihre papiernen Merkmale unmissverständlich in den Vordergrund. Obgleich alle in diesem Beitrag besprochenen Beispiele die Formhaftigkeit der Figuren und die Interaktion von Figur und Grund betonen, gelangt Groensteen zu der Schlussfolgerung, dass unser Wunsch nach Narrativität uns dazu verleitet, Figuren in allen erdenklichen Gestalten, Formen und Punkten zu sehen.

Neben unserem Sonderbereich zu nicht-narrativen Comics, liefert der offene Themenbereich von CLOSURE #8 drei weitere Forschungsansätze zu Theorie und Praxis sequenzieller Kunstformen. In »Graphic Storytelling: Teaching Experience and Utility« untersucht Darren C. Fisher die soziale Dimension des Zeichnens. Er betont die Bedeutung, die der kulturellen Praxis des Zeichnens bei der Entwicklung unzähliger Kunstformen zukommt und hebt zugleich hervor, dass es auch im Kontext mentaler Gesundheit und Achtsamkeit eine wichtige Rolle spielt. Fisher argumentiert, dass Zeichnen eine fundamentale Möglichkeit menschlichen Ausdrucks ist, deren Ausübung jedoch in unterschiedlichen Altersgruppen und kulturellen Kontexten stark variiert. Der Beitrag denkt Zeichnen als ein ›Werkzeug des Genusses‹ und sucht zugleich zwei konträre Annäherungen an die Praxis des Zeichnens – ›beobachtendes Zeichnen‹ und ›Zeichnen aus dem Gedächtnis‹ – zusammenzudenken. In diesem Kontext merkt er allerdings auch an, dass bestehende Konzepte, wie zum Beispiel Csikszentmihalyis ›Flow Theory,‹ in starkem Gegensatz zu zeitgenössischen gesellschaftlichen Normen wie dem omnipräsenten Verlangen nach einer allumfassenden Produktivität stehen. Diese Normen, so Fisher, ›sind herausfordernde Hindernisse, die es insbesondere dann zu überwinden gilt, wenn es darum geht, Erwachsenen das Zeichnen beizubringen.‹ Der Beitrag schließt mit einer kurzen Beschreibung eines Workshops, der im Rahmen der CLOSURE International Autumn School (2020) gehalten wurde. Hier veranschaulicht Fisher, wie die zuvor dargelegten theoretischen Prämissen in der Praxis zur Anwendung gelangen können.

Barbara M. Eggerts Aufsatz trägt den Titel »Never Judge a Book by Its Cover? Picturing the Interculturally Challenged Self in the Japanese Journals of European Comics Artists Dirk Schwieger, Inga Steinmetz, and Igort.« Sie geht davon aus, dass Japan – bekannt als Geburtsort von Manga und Anime – seit den 1990er Jahren viele europäische Comickünstler_innen angezogen hat, die dort arbeiten oder auf der Suche nach Inspiration sind. Der Beitrag nimmt Dirk Schwiegers Moresukine (2006), Igorts Quaderni giapponesi/Japanese Notebooks (2015/17) und Inga Steinmetz’ Verliebt in Japan (2017) in den Blick; die Autorin analysiert und vergleicht diese drei sehr unterschiedlichen Beispiele hinsichtlich ihrer comic-spezifischen Darstellung interkultureller Erfahrungen in Japan. Fokussiert auf die Art der Selbstdarstellung, die sich mit Phänomenen wie dem Kulturschock oder Anpassungsprozessen auseinandersetzt, diskutiert sie ob, wie, und mit welchen Folgen diese autobiographisch inspirierten Comics ›etablierte‹ Theorien interkultureller Anpassung widerspiegeln oder diesen widersprechen – trotz oder gerade wegen ihres unterschiedlichen Grades an Fiktionalität und Comicfizierung. Zum einen verortet Eggert ihre Fallstudien in der Tradition des Reisetagebuchs. Gleichzeitig untersucht sie aber auch die ›medienspezifischen Möglichkeiten des Comics, wie zum Beispiel Fokussierung, Übertreibung und Auslassung.‹ In ihrer konzisen Analyse dieser Art der interkulturellen Repräsentation zeigt die Autorin, dass Comics sich auf einzigartige Weise der Kultur anderer annähern, sie wahrnehmen oder eben auch missverstehen können.

In ihrem Beitrag »Rhetoric of Images. Emblematic Structures and Craig Thompson’s Habibi« geht Julia Ingold der Frage nach, inwiefern die Rhetorik des Bildes und die Figurativität des Textes im Comic und im Emblem ähnliche Strategien verfolgen. Im ersten Teil ihres Aufsatzes analysiert die Autorin ausgewählte Embleme aus Alciatios Emblematum liber, um der komplexen Verbindung von Text und Bild auf den Grund zu gehen. Im Einzelnen beschreibt sie den Einsatz von Symbolen und Metaphern in Emblemen und zeigt auf, wie diese sich zu größeren allegorischen Einheiten verbinden. In ihrer darauffolgenden Lektüre von Habibi gerät dann – wie schon in den anderen Beiträgen dieser Ausgabe – erneut das mediale Potenzial des Comics in den Blick: Ingold stellt fest, dass Bilderzählungen Metaphern und Symbole aus der ›Welt der Leser_innen‹ so nutzen können, dass sie nicht Teil der dargestellten Welt werden. In Comics wird ›das, was für gewöhnlich in Worte gefasst wird, zu einer mimetischen Zeichnung und ähnelt darin den Bildern im Emblem.‹ Ingold identifiziert zwei Strategien, die sie sowohl dem Comic als auch dem Emblem zuschreibt: beide hinterfragen kritisch die jeweilige Funktion von Worten und Bildern und ermöglichen dadurch eine neue Sprache, die, wie die Autorin schlussfolgert, das Unsichtbare in sichtbare Bilder verwandelt, die ihrerseits rhetorisch werden.

Neben den oben vorgestellten Aufsätzen bietet die achte Ausgabe von CLOSURE auch wieder eine Vielzahl von Rezensionen, die sich sowohl aktueller Forschungsliteratur als auch neuen Comics und Graphic Novels widmen. In der Rubrik ›Comic Context‹ lassen wir unsere CLOSURE Autumn School noch einmal Revue passieren. Im Herbst 2020 haben wir hier mit internationalen Vorträger_innen diskutiert, wie Wissen sich in sequenzielle Kunstformen einschreibt und von diesen medial inszeniert wird. Wir haben uns also gefragt: ›Was wissen Comics?‹ Diese Rubrik beinhaltet eine graphische Aufzeichnung von Tim Eckhorst, der den Workshop nicht nur geleitet, sondern auch unsere Diskussionen auf unnachahmliche Weise festgehalten hat. Hieraus ist ein nichtfiktionaler Comic entstanden, der zugleich an die zentrale Frage nach dem ›Nicht-Narrativen‹ unserer aktuellen Ausgabe anschließt.

Kiel, November 2021

Cord-Christian Casper und Kerstin Howaldt für das CLOSURE-Team

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Bibliografie

  • Baetens, Jan: Abstraction in Comics. In: SubStance 40 (2011), p. 94–113.
  • Bukatman, Scott: Sculpture, Stasis, the Comics, and Hellboy. In: Critical Inquiry 40 (2014), p. 104–117.
  • Kukkonen, Karin : Studying Comics and Graphic Novels. Chichester, Malden, MA, Oxford: Wiley-Blackwell, 2013.
  • McCloud, Scott: Understanding Comics. New York: HarperPerennial 1994.
  • Molotiu, Andrei: Abstract Form. Sequential Dynamism and Iconostasis in Abstract Comics and in Steve Ditko’s Amazing Spider-Man. In: Critical Approaches to Comics. Theories and Methods. Ed. Matthew J. Smith and Randy Duncan. New York: Routledge 2012, p. 84–100.
  • Strawson, Galen: Real Materialism and Other Essays. Oxford: Oxford UP, 2008.

 

Herausgeber_innen

Victoria Allen
Cord-Christian Casper
Constanze Groth
Kerstin Howaldt
Julia Ingold
Gerrit Lungershausen
Dorothee Marx
Garret Scally
Susanne Schwertfeger
Simone Vrckovski
Dennis Wegner
Rosa Wohlers

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Victoria Allen
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Gerrit Lungershausen
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Cover & Illustrationen

Gareth A. Hopkins (Ausgabe #8)

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