Über diese Ausgabe
Obszönität und Tabubruch in den Comics der Familie Crumb

Kalina Kupczynska (Łódź), Véronique Sina (Köln)

»[...] in Worten läßt Crumb ständig die Hosen runter, in den zahllosen Zeichnungen aber zieht er sie wieder hoch und schreitet mit festem Schritt sein Terrain ab« schrieb Robert Gernhardt 1982 in Der Spiegel, anlässlich der Veröffentlichung von Robert Crumbs Sketchbook 1966–1967 im deutschen Verlag Zweitausendeins.1 Zu dieser Zeit war Aline Kominsky-Crumb in Deutschland weitgehend unbekannt, und dies obwohl Crumb ›sein Terrain‹ bereits seit 1972 immer wieder in Form kollaborativer Arbeiten mit ihr teilte. In diesem Zusammenhang spricht Hillary Chute völlig zurecht von einem kulturtypischen »double standard« (Chute, 31).2 Denn während die Künstlerin wiederholt für ihre als ›pornografisch‹ und ›primitiv‹ bezeichneten Werke kritisiert, verkannt und aus der ›kanonischen‹ Comicgeschichtsschreibung sowie -forschung ausgeschlossen wird, wird Robert Crumb, dessen Werke nicht minder kontrovers oder tabubrechend sind, als genialer Comickünstler gefeiert. Dabei vereint ein Aspekt das Comic-Schaffen von Robert Crumb und Aline Kominsky-Crumb mit verblüffender Konsequenz: Beide zeichnen autobiografisch. Als ›Daumier seiner Zeit‹ gelobt und zugleich als pubertärer Zyniker kritisiert, trennt sich Crumb nie von seinem Comic-Ich, das er im Laufe seines Lebens mit Hilfe diverser Avatare kompulsiv (mit und ohne Hose) zeichnet und be-zeichnet, und inszeniert so eine obszöne Beichte, die durch Selbstironie stets gebrochen wird. Ist Crumb dabei auf die übertrieben sexualisierte Darstellung der ihn faszinierenden ›Honeybunchs‹ fokussiert, so stellt Kominsky-Crumb in ihren teils obszönen und fast immer tabubrechenden feministischen Comics normierte Schönheitsideale, weibliche Körperlichkeit, Sexualität, und geschlechtlich codierte (kulturelle) jüdische Identität(en) in den Vordergrund.

 

Die Beiträge in dieser Ausgabe nehmen die spannungsgeladenen autobiografischen Arbeiten der beiden Künstler_innen sowie ihrer Tochter Sophie Crumb in den Blick. Dabei werden die verschiedenen Ich-Konzeptualisierungen der Crumbs genauso thematisiert wie die ästhetischen Inszenierungen und gesellschaftspolitischen Verhandlungen von Obszönität und Tabubruch, die sich immer wieder in den Comics der Underground-Künstler_innen ausmachen lassen.

Die Ausgabe wird mit Ole Frahms Beitrag »»How could anyone say that our work is repetitious.« »I yam what I yam an’ thass al I yam...« Differenz und Wiederholung der autobiografischen Comicfigur in den gemeinsamen Arbeiten von Aline Kominsky-Crumb und Robert Crumb« eröffnet. Den Tabubruch der Comics von Crumb und Kominsky-Crumb sieht Frahm in der Verweigerung der Identität der dargestellten Ichs. Die den Comics inhärente Instabilität der Identität wird in den autobiografischen Comics von Kominsky-Crumb und Crumb u. a. durch Blicke in den Spiegel und durch Ein-Blicke in das Unheimliche des Ich in den Horrorcomics potenziert, damit stellt Frahm auch die autobiografisch konstruierte Identität als eine Serie diverser (Selbst)-Projektionen heraus. Sein Beitrag folgt einer comichistorischen und -semiotischen Perspektive, die die obszönen Ich-Erkundungen des bekannten Künstler_innen-Paares in eine Reihe von Zeichen-Wiederholungen setzt. Zugleich werden die Zeichen-Wiederholungen in den autobiografischen Comics von the Crumbs zu stereotypen Rollenbildern, die diese demonstrativ herausstellen (Gender-Identität, jüdische Identität) in Bezug gesetzt.

In ihrem Beitrag »»Ärger mit den Frauen«. VerCrumbte Bekenntnisse an der Kreuzung der Diskurse« widmet sich Kalina Kupczynska den diskursiven Überschneidungen zwischen der feministischen Rhetorik (der Women Liberation Movement wie auch der späteren feministischen Anti-Pornographie-Bewegung) und Robert Crumbs tabubrechenden autobiografischen wie auch nicht-autobiografischen Comics seit 1969. ›VerCrumbte‹ Bekenntnisse werden damit als ein Produkt der diskursiven Kollisionen der 1970er und 1980er gelesen, der tabubrechende Impetus und die ihm eigene hyperbolische Struktur der Comics von R. Crumb sind damit Effekte der Diskurse.

Katharina Serles analysiert R. Crumbs Genesis. Illustrated aus kulturwissenschaftlicher und kunsthistorischer Sicht, unter Bezugnahme auf ein breites Panorama von Bildbeispielen auch aus dem Comicbereich. Die ›Schöpfung‹ bekommt damit eine dreifache Konturierung – durch die Referenz auf das Alte Testament, durch den Akt der creatio, des Er-Schaffens einer Zeichenwelt (Serles evoziert »grafische Kosmogonien« des Comics), und durch die konkrete individuelle Autorschaft der »Genesis« aus dem Geiste der Heiligen Schrift und der Comicästhetik. Obszön erscheint aus der von der Autorin gewählten Perspektive vor allem Crumbs Rekurs auf die kanonisierte männliche kunsthistorische Tradition der Repräsentation der Schöpfungsgeschichte.

2016 hat die britische Comicautorin und Comickennerin Sarah Lightman im Londoner House of Illustration Aline Kominsky-Crumb interviewt. Ein Teil dieses langen Gesprächs ist hier zu lesen: Die Autorinnen unterhalten sich über Tabubrüche der Underground Comics, wundern sich über die Persistenz gewisser Tabus in der westlichen Popkultur und evozieren die ersten ›unschönen‹ Frauenkörperdarstellungen in den Comics von Kominsky-Crumb. Ein anderer Leitfaden der Konversation ist das Jüdisch-Sein und die prägenden Erinnerungen Kominsky-Crumbs an die Vielfalt des jüdisch-amerikanischen Lebens ihrer Kindheit und Jugend. Last but not least diskutieren Lightman und Kominsky-Crumb über das Spätwerk der Letzteren und ihr aktuelles künstlerisches Engagement in der südfranzösischen zweiten Heimat.

In seinem Aufsatz »»It[’]s a Relief!« Verbal Aspects of Aline Kominsky’s Style« präsentiert Lukas Etter zunächst einige theoretische Überlegungen zur formalen bzw. formaldiskursanalytischen Stilanalyse. Etter bindet die theoretischen Ansätze an die selbstreflexiven, expressionistischen Comics von Aline Kominsky-Crumb zurück, und wirft dabei die Frage auf, wie die Künstlerin die von ihr gestalteten Figuren über Stil sprechen und reflektieren lässt.

Der Beitrag von Véronique Sina nähert sich aus gendertheoretischer, medienästhetischer und kulturwissenschaftlicher Perspektive den autobiografischen Comics von Aline Kominsky-Crumb. Anhand ausgewählter Beispiele verdeutlicht sie, wie die jüdisch-amerikanische Underground-Künstlerin Obszönität und Tabubruch als probate Darstellungsmittel nutzt, um unkonventionelle Themen und (Körper-)Bilder zu verhandeln und so die Grenzen des vermeintlich ›Normalen‹ zu durchbrechen.

Im letzten Beitrag der Ausgabe wirft Joanna Nowotny einen kritischen Blick auf die 2010 von Sophie Crumb veröffentlichte autobiografische Sammlung The Evolution of a Crazy Artist. Wie Nowotny veranschaulicht, handelt es sich hierbei um ein Künstlerinnen-Porträt, das in der anhaltenden Auseinandersetzung mit den obszönen und tabubrechenden Comics von Aline Kominsky-Crumb und Robert Crumb entsteht. Die von Sophie Crumb versammelten Zeichnungen können demnach als ›Nach-Zeichnungen‹ verstanden werden, die sowohl als Hommage an als auch Abgrenzung von dem Comic-Schaffen ihrer Eltern dienen.

 

Die Spezialausgabe #6.5 von CLOSURE geht zurück auf den interdisziplinären Workshop The Crumbs. Obszönität und Tabubruch – Bekenntnisse zum Hin- und Wegschauen, der am 3. Mai 2019 an der Universität zu Köln stattgefunden hat. Bei den hier versammelten Beiträgen handelt es sich zum Teil um über- und ausgearbeitete Fassungen der im Rahmen des Workshops gehaltenen Impulsvorträge. Die Workshop-Beiträge wurden um ausgewählte Positionen und Perspektiven auf das kontroverse Comic-Œuvre der Crumbs erweitert.

Unser Dank gilt der CLOSURE-Redaktion, insbesondere Rosa Wohlers, die die Spezialausgabe #6.5 mit viel Engagement betreut hat. Ferner möchten wir uns ganz herzlich bei allen Vortragenden, Hilfskräften und Diskutant_innen des Kölner Workshops bedanken, die mit ihrem großen Interesse und Einsatz die Grundlage für diese Spezialausgabe geschaffen haben. Für die ideelle und finanzielle Unterstützung des Projekts danken wir dem Institut für Medienkultur und Theater sowie dem Mobility Grants for National and International Young Faculty-Förderprogramm der Universität zu Köln. Aline Kominsky-Crumb und Robert Crumb gebührt unser Dank für die Erlaubnis, ihre kollaborative Zeichnung, die bereits 1974 das Cover der ersten Ausgabe von Aline and Bob’s Dirty Laundry Comics zierte, als Cover- Motiv für die CLOSURE-Spezialausgabe zu The Crumbs. Obszönität und Tabubruch nutzen zu dürfen. Schließlich möchten wir uns ganz herzlich bei allen Autor_innen bedanken, die einen Beitrag zu dieser Ausgabe beigesteuert und damit den interdisziplinären Diskurs um die Comics der Familie Crumb bereichert haben.

 

Köln und Łódź, April 2020
Kalina Kupczynska und Véronique Sina

 

  • 1] Gernhardt, Robert: Runter fallen sie immer. In: Der Spiegel 30 (1982). <https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14341844.html>. 26.07.1982. Letzter Zugriff am 29.03.2020.
  • 2] Chute, Hillary: Graphic Women. Life Narrative and Contemporary Comics. New York: Columbia University Press 2010.