»Es gibt keine Worte für solche Abgründe kreischenden und uralten Wahnsinns«

Lovecraft rezensiert von Johann Haberlah

»Die Uhr schlug Elf.« Dann führt uns der finster hingewischte Kapuzenmann – oder ist es der Illustrator Alberto Breccia? – hinaus in die Welt Lovecrafts: In unergründlichen Schatten tummeln sich körperlose Gestalten, dickbäuchige Flötenspieler, tentakelbewährte Alien-Götter und breitmäulige Fischgesichter...

So begleiten wir in der ersten Geschichte des Comics, die den Namen Das Fest trägt, einen namenlosen Protagonisten dabei, wie er sich auf der Suche nach seiner Familiengeschichte in das mysteriöse Küstenstädtchen Innsmouth begibt – und das ausgerechnet zum Julfest. Dort folgt er nun dem unter einer tiefen Kapuze verhüllten Wesen. Eine ganze Horde jener vermummten Gestalten stößt hinzu. Gemeinsam zieht man vorbei an alten Grabkreuzen und Totenlichtern, drängt in eine Kirche, wo sich schließlich alle in einem langen Glied geordnet in das Dunkel einer endlos scheinenden Krypta schlängeln. Im gesamten Spektrum, das zwischen dem leersten Weiß hin zu dem tiefsten Schwarz liegt, öffnet sich ein Albtraumgewölbe, das lediglich in seinem malerischen Gestus besteht. Expressive Bewegungsspuren aus schwarzer Farbe legen sich wie Schlieren über den Bildraum. Es entsteht ein formloses Raumgebilde, das sich jeder Lesbarkeit und Eindeutigkeit entzieht und in das es unseren Protagonisten, eingereiht zwischen den anderen Klecksgestalten, entgegen aller Vernunft hineinzieht. Folgen wir dem Protagonisten noch einige Seiten, kommen wir zu einem Wendepunkt. Der Zeichner Alberto Breccia beschwört eine visuelle Klimax herauf, die eindrucksvoll zeigt, wie das Medium Comic auf einer rein bildlichen Ebene zu kommunizieren vermag. Über sieben komplett textlose Panels vollzieht sich ein dynamisches Wechselspiel.

Abb. 1: »Dabei fiel ihm durch die jähe Bewegung die Maske herunter.« (Lovecraft, 12)

Das Wesen vom Beginn der Geschichte offenbart unserem Helden nun sein Gesicht. Von Gesichtspunkt zu Gesichtspunkt zeigt sich einem zuerst die groteske Fratze des Erstgenannten: Eine birnenförmige Aussparung im umgebenden Düster beschreibt die Form eines Kopfes, im Inneren organisieren sich einige Tintenkleckse mehr oder weniger deutlich zu einem leeren, starrenden Gesicht. Dann sehen wir den Protagonisten, eingefroren in einen entsetzten Schrei und halb verdeckt von gestischen Farbwischern (Abb. 1). So geht es mehrmals hin und her. Während die schwer identifizierbare Kreatur jedoch mit jedem neuen Shot näher an uns Betrachtende rückt, vollzieht sich bei unserem Protagonisten eine entgegengesetzte Bewegung. Er wird vor diesem Ding immer kleiner, sein Gegenüber wird immer größer. Dies spitzt sich so weit zu, dass im auflösenden achten Panel der Bildraum von der alpraumhaften Physiognomie gesprengt wird. Der Protagonist rettet sich durch einen Sprung in den »öligen Unterweltfluss« (Das Fest, S. 12).

Der argentinische Illustrator Alberto Breccia begann 1972 mit dem Projekt, die alten Romane vom Horrorautor H.P. Lovecraft in gekürzten Fassungen zu illustrieren. Er arbeitete dafür mit dem Autor und guten Freund von ihm, Norberto Buscaglia, zusammen, der die Texte entsprechend zusammenfasste. Ab dem Folgejahr erschienen diese Adaptionen dann fortlaufend in der italienischen Zeitschrift Il Mago. 2018 endlich, ganze 45 Jahre nach der ersten Publikation, sind diese neun Geschichten nun auch erstmalig im deutschsprachigen Raum als Sammelband erschienen; mit darunter: Schatten über Innsmouth, Das Grauen von Dunwich, Cthulhus Ruf und viele andere Manifestationen aus Lovecrafts berühmten Cthulhu-Universum.

Breccia scheint dabei genau der richtige für dieses Projekt gewesen zu sein. Einige Jahre zuvor illustrierte er bereits Bram Stokers Dracula (Carlsen, 1994) und Edgar Allan Poes Das verräterische Herz (Il Mago, 1975). Bei seiner dritten großen Gruselliteratur-Adaption beweist er nun ein weiteres Mal sein Können, eine literarische Atmosphäre in einen bildlichen Ausdruck zu übersetzen. Dies gelingt ihm durch ein ständiges Wechselspiel zwischen dem Deutlichen und dem Undeutbaren: Er arbeitet mit Fotografien und grob gerissenen Fetzencollagen, mit aufgeräumten Graphitzeichnungen und expressiv aufgetragener, teils nur in Sprenkeln angelegter, tiefschwarzer Farbe. Er spielt mit extremen Hell-Dunkel-Kontrasten und einer zyklisch voranschreitenden und abschwellenden Verzerrung der Bildkompositionen.

Diese Dynamik verläuft synchron zu Lovecrafts literarischen Welten, in denen es auch stets das Natürliche, Menschliche auf der einen Seite, und das Übernatürliche, ein Universum an überirdischen Götterwesen auf der anderen Seite gibt. Dort wo es um das Erstgenannte geht, zeichnet sich der Autor durch eine hohe Dichte an ausführlichen Beschreibungen aus. Tritt nun das Übernatürliche hinzu, wird dieses stets als etwas Unbeschreibliches inszeniert. Bei Breccia geschieht dies auf die gleiche Weise. Das Dargestellte wird immer unkenntlicher, umso mehr das Ungeheure hervortritt. Der Mensch als Protagonist ist den höheren Mächten ausgeliefert, sie sind in seiner Realität nicht in Worte zu fassen: »Das Ding entbehrt jeglicher Beschreibung und es gibt keine Worte für solche Abgründe kreischenden und uralten Wahnsinns.« (Cthulhus Ruf, S. 77)

Das abgedruckte Nachwort von Latino Imperato, Herausgeber der Breccia-Comics in Frankreich und persönlicher Freund des Illustrators, zitiert Breccia dazu wie folgt: »Ich begriff ziemlich schnell, dass die traditionellen Mittel des Comics nicht ausreichten, um Lovecrafts Universum darzustellen. So begann ich mit anderen Techniken wie Monotypie oder Collage zu experimentieren. Ich habe den Ungeheuern der Cthulhu-Mythen […] eine amorphe Form gegeben, weil ich wollte, dass der Leser selbst etwas hinzufügt, meine Gebilde nutzt, um darauf seine eigenen Ängste zu projizieren. […] Ich wollte wissen, ob ich in der Lage war, mit Zeichnungen dasselbe zu erreichen wie Lovecraft mit seinen Texten« (S. 126).

Aufgrund dieser stilistischen Besonderheit ist es Alberto Breccia mit seiner Adaption gelungen, eine Atmosphäre zu schaffen, wie es wohl kaum ein späterer Lovecraft-Comic geschafft hat – und davon gab es mehrere: Neben Comiclegenden wie Alan Moore (Providence, Panini ab 2015) und Mike Mignola, der den Cthulhu-Mythos in sein Hellboy-Universum einfließen ließ, stellte der niederländische Illustrator Erik Krieg mit seiner Adaption Vom Jenseits und andere Erzählungen (Avant, 2013) eine cartoonesque Version des Cthulhu-Universums dar. Bartolo Torres visualisierte mit der Reihe Der junge Lovecraft (Diabolo Comics, ab 2013) auf humorvolle Weise den Autor selbst in seiner Welt und seit dem letzten Jahr gibt es auch eine Manga-Adaption von dem japanischen Mangaka Gou Tanabe, die in Deutschland unter dem Titel H.P. Lovecrafts ›Der Hund‹ und andere Geschichten 2019 im Carlsen Verlag erschienen ist.

Trotz seines einzigartigen Stils blieb Breccia in Deutschland lange ein eher unbekannter Name. 1992, ein Jahr vor seinem Tod, wurde er für sein Lebenswerk auf dem Comic-Salon Erlangen mit dem Max und Moritz-Preis ausgezeichnet. Es dauerte noch einmal weitere 25 Jahre, bis zwei seiner wichtigsten Werke erstmalig vom Avant-Verlag im deutschsprachigen Raum publiziert wurden: 2017 erschien Eternauta 1969, die Adaption eines argentinischen Sci-Fi-Klassikers, ein Jahr später Lovecraft.

 

Lovecraft
Alberto Breccia (Z), Norberto Buscaglia (A)
Berlin: Avant-Verlag, 2018
125 S., 29,00 Euro
ISBN: 978-3-945034-82-8