»Ich führe nirgendwo hin«

Kleine Satelliten rezensiert von Sabine Popanda

Kleine Satelliten ist ein Experiment mit Worten, Sprachen und Zeichnungen. Vier kurze Gedichte aus der Feder der Berlinerin Lydia Daher reißen auf unterschiedlich sanfte oder gewaltige Weise die großen Themen des Lebens an und kommen zu nichts- oder aber allessagenden Antworten wie »Das Leben ist selten / das Universum fast leer. / Und immer gehen wir in die Zukunft […]«. Doch sie sollen nicht allein funktionieren – der amerikanische Comiczeichner Warren Craghead III setzte ausgehend von verschiedenen Übersetzungen die Verse in Bleistiftzeichnungen um.

Das Aussehen des Buches ist ungewöhnlich. Auf dem Cover sind die Namen aller Beteiligten und des Verlags scheinbar mit Bleistift geschrieben – man könnte sogar sagen: gekritzelt – und halten sich an keine Konventionen: Leerschritte zwischen Vor- und Nachnamen fehlen, die Buchstaben tanzen aus der Reihe. Das passt zum Augsburger Maro-Verlag, der Nischenprodukten eine Chance gibt und dem Mainstream Geheimtipps wie Kleine Satelliten entgegensetzt.

Außergewöhnlich geht es mit der formalen Gestaltung der Publikation weiter: Der Umschlag enthält eine Klappe, auf deren Innenseite ein Brief von Warren Craghead III (Zeichner) an Lydia Daher (Autorin) abgedruckt ist. Der Buchblock selbst ist untypischerweise nicht mit dem Umschlagrücken, sondern nur über ein Vorsatzpapier mit der Rückseite verbunden. Die andere Klappe ermöglicht es, den Block zu umschließen, sodass die Publikation quasi zwei geschlossene Rücken mit identischer Beschriftung hat. Dem Inhalt ist ein Faltblatt mit Lydia Dahers Gedichten, deren Übersetzungen und einem Brief beigelegt, diesmal von der Autorin an den Zeichner.

Die beiden kurzen Nachrichten erklären das Projekt: Lydia Daher schrieb vier Gedichte, ließ sie jeweils von zwei Übersetzern ins Englische übertragen und übergab alle drei Versionen an Craghead. Er interpretierte die Worte und übersetzte sie in Bilder. Es ist ein Experiment, das zeigt, auf welch unterschiedliche Weise man einen Text visualisieren kann, ohne dass bewusst eine inhaltliche Analyse vorgenommen muss. Schon das Übersetzen in eine andere Sprache erfordert die Interpretation des Textes. Die englischen Versionen stammen darum von einem professionellen Übersetzer (Paul-Henri Campbell) sowie von einem Laien (Lukas Wahden), was Abweichungen geradezu provoziert. Auch wenn inhaltlich vergleichbare Gedichte entstanden sind, gibt es markante Unterschiede. Beispielsweise wurde das deutsche Wort ›Trans‹ einmal für den Genitiv von ›Tran‹ (dickflüssiges Fischöl) gehalten, ein anderes Mal für die Vorsilbe ›trans-‹ (hindurch/über/hinaus). So werden hier zum einen Assoziationen an eine zähe, undurchsichtige Flüssigkeit, die etwa metaphorisch für alles, was wir im Leben nicht begreifen steht, möglich. Zum anderen – denkt man an die Vorsilbe – ginge es möglicherweise um die Theorie von allem, was von einem Individuum auf ein anderes oder die Welt übergeht bzw. anders herum. Genauso fordert das Übersetzen in Bilder eine vorangehende Interpretation, die Craghead gleich dreimal leisten musste.

Kleine Satelliten ist nach Angaben der Autorin ›graphic poetry‹, was auf die zeichnerische Umsetzung von Gedichten hinweist. Es wird also nicht ›grafisch erzählt‹, sondern ›grafisch gedichtet‹. Bei einer Kollaboration wie dieser stellt sich jedoch die Frage nach der Autorschaft: diejenige, die den Text vorgibt, derjenige, der ihn bildlich interpretiert oder gar beide zusammen? Und welche Rolle spielen die Übersetzer? Die Antwort darauf scheint an dieser Stelle gar nicht so wichtig und steht hinter zwei Erkenntnissen zurück: Erstens können mit der Kombination von Wort und Bild nicht nur Erzählungen zum Comic werden, sondern auch Gedichte. Zweitens deckt das Kunstprojekt eine ganze Menge weitere Fragen auf, was vielleicht der größte Erfolg ist. Anders als herkömmliche Zeichnungen, die eine Szene möglichst vollständig bebildern, entsteht durch diese sequenziellen Illustrationen ein großer Interpretationsspielraum. Die Betrachter_innen müssen das Gezeichnete selbst vervollständigen, um den Zusammenhang zum Text, zu den folgenden und den vorangegangenen Seiten herzustellen. Für Lydia Daher bedeutet das Experiment, dass sie ihre Werke abgibt und akzeptieren muss, dass an ihnen massive Veränderungen vorgenommen werden. Ausdrücklich bot die Lyrikerin ihrem Projektpartner an, frei zu wählen, welche Texte er auf welche Art und Weise verwendet. Dass Craghead letztlich mit zwei Ausnahmen alle Originale und Übersetzungen grafisch umsetzt, war, so lässt es sich den Briefen entnehmen, nicht geplant. Aus der Reihe fallen die Gedichte »Komm näher/Come closer«, in dem die deutsche und eine englische Version zu einer gemeinsamen zusammengefügt wurden und »Überall«, von dem es nur zu einer Übersetzung eine grafische Umsetzung gibt.

Zu den deutschen Versen gibt es Zeichnungen, die klar von der Schrift getrennt sind. Die Verse bleiben in ihrer ursprünglichen Form erhalten und sind auch ohne das Bild verständlich. Sie helfen im Gegenteil sogar wiederum, das Bild zu verstehen.

Die Gedichte und deren grafische Übersetzungen bleiben visuell getrennt und funktionieren auch ohne einander. Cragheads Zeichnungen müssen als Vorschläge zur Lyrik-Interpretation verstanden werden und sind als autonome Kunstwerke selbst Gegenstand von Interpretationen. Die Worte der Lyrikerin sind in immer unterschiedlicher Ausprägung Teil der Bilder und füllen diese mit Sinn. Die Buchstaben werden auf zwei mögliche Arten zum Zeichen: Entweder, sie lassen sich zum Wort zusammensetzen, welches das Bild begleitet oder sie stellen eigenständige Elemente dar, deren Funktion als sprachliche Zeichen außer Kraft gesetzt wird. Auffällig ist, dass die Lettern gerade in Cragheads Bearbeitungen der Originaltexte der Wortbildung dienen. Bei seiner Umsetzung der englischen Versionen wird er herausfordernder: Hier entstehen keine Wörter und es gibt auch keine eindeutigen Symbole. Stattdessen wird die Schrift durch ihre Anordnung aufgrund von grafischen Entscheidungen selbst zum Bild, zum Zeichen, dessen Referenzobjekt erst dechiffriert werden muss. Wie sehr die deutsche Textvorlage, beide Übersetzungen und die Zeichnungen sich immer dichter ineinander verweben, wird besonders am letzten Beispiel »Komm näher/Come Closer« deutlich. Die Übersetzung fließt in das Original ein, eine pure Version von Dahers Vorlage gibt es nicht mehr. Es sind die Interpretationen, die sich näherkommen, sich überlappen und aufeinander verweisen. Sie sind immer schwieriger bis gar nicht mehr auseinanderzuhalten.

Die Buchstaben der deutschen und englischen Verse des Gedichts »Komm näher/Come Closer« fungieren in ihrer Zusammensetzung nicht mehr als sprachliche Zeichen. Sinnlos ist ihre Anordnung dennoch nicht, denn in ihrer Gesamtheit ergeben sie nun das Bild.

Lydia Daher und Warren Craghead III haben ein Projekt verwirklicht, das Positionen der visuellen Poesie des 20. Jahrhunderts, in der die Medien Wort und Bild nicht mehr voneinander getrennt werden können (vgl. Honegger 2002), im offenen Rahmen experimenteller Dichtung spielerisch weiterentwickelt. Auch die Mindestanforderungen an einen Comic als zusammenhängende Textsequenzen, die nach der Definition von Scott McCloud eng mit den zeichnerischen Elementen verwoben sind, werden von Kleine Satelliten erfüllt. Man darf jedoch keine Geschichte erwarten: Es gibt keinen Anfang und kein Ende, keine Protagonisten und noch nicht einmal Handlung, weil Dahers Lyrik keine narrative Poesie ist. Obwohl Lyrik eine literarische Gattung ist, hält Kleine Satelliten die seit langem gestellte Frage, ob man visuelle Poesie oder einen lyrischen Comic wirklich noch als Literatur auffassen kann oder ob in der Rezeption der Leserin oder des Lesers nicht doch vielmehr ein Künstlerbuch entsteht oder gar eine gänzlich neue Kunstform, auf herausforderndste Weise lebendig.

Kleine Satelliten lebt von Chaos und Andeutungen. Besonders effektiv werden die Verse Dahers erst in der Vielfalt ihrer Präsentation. Ein deutsches Original, zwei englische Übersetzungen und eine bildliche Darstellung – das produziert Widersprüche. Nur, wenn man bereit ist, diese Widersprüche nicht nur zu akzeptieren, sondern sie zu genießen oder gar weitere Gedanken hinzuzufügen, kann sich die Wirkung des Kunstprojektes voll entfalten. Dazu müssen sprachliche Grenzen überwunden und den Gedanken Alternativen erlaubt werden. Denn, was Lydia Daher in ihrem titelgebenden Gedicht »Kleine Satelliten« schreibt, könnte das Statement des gesamten Projektes sein: »Ich führe nirgendwohin.«

 

Kleine Satelliten
Lydia Daher (W), Warren Craghead III (P)
Augsburg: Maro Verlag, 2016
216 S., 24,00 Euro
ISBN 978-3-87512-470-5