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Viktorianisches Wimmelbild

Scotland Yard rezensiert von Maike Duddek

Die Graphic Novel Scotland Yard von Dobbs und Stéphane Perger führt die Leser_innen in ein düsteres, von grausigen Verbrechen beherrschtes viktorianisches London. In beeindruckenden Bildern erzählt, verläuft sich die Story allerdings in einem Setting, das über das Ziel hinausschießt und sich in Tropen und vermeintlichen literarischen Raffinessen verliert.

London hat sich noch nicht von den Schrecken erholt, die durch Jack the Ripper ausgelöst wurden, da erschüttern neue grausame Morde die Metropole. Denn nachdem ein Gefangenentransport von geisteskranken Verbrechern misslingt, sind zwei hochgefährliche, unberechenbare Männer auf der Flucht. Inspector Gregson vom Scotland Yard, ohnehin schon Außenseiter im Team, muss sich der Konsequenzen annehmen und sich beweisen. Doch das kann nicht allein gelingen: Unvermutete Hilfe kommt von Seiten einer scharfsinnigen jungen Frau, einem Straßenjungen und der Londoner Unterwelt. Die Jagd nach den Verbrechern bleibt jedoch nicht ohne Opfer...

Die Geschichte, die Dobbs um Inspector Gregson – eigentlich eine Nebenfigur aus Arthur Conan Doyles Erzählungen um Sherlock Holmes – entwickelt, changiert zwischen Spielereien mit dem viktorianischen Literaturkanon und recht vorhersehbaren Motiven der Kriminalliteratur. Wenig originell wirkt Gregsons anfängliches Versagen, dem nicht nur Reue folgt, sondern auch Ermittlungen, die ihn an die Grenze seiner Berufsethik bringen. Und auch das gegenseitige Auflauern und Jagen zwischen Ermittlern und flüchtigen Verbrechern, das zwar die Spannung hochzuhalten vermag, wirkt beliebig. Zum Teil liegt das an der Art, wie die Figuren charakterisiert werden. Dobbs wagt nicht, die Leser_innen unter die Oberfläche blicken zu lassen; stattdessen werden die Figuren nur ausschnitthaft gezeigt. Weder über die Protagonist_innen noch über die Nebenfiguren kann ein Gesamtbild über Hintergründe und Konflikte gezeichnet werden, und somit bleiben zwangsläufig Fragen offen.

Dem geplagten Ermittler wird mit Faustine Clerval eine junge hübsche Assistentin zur Seite gestellt, bei der sich der Versuch erkennen lässt, sie als autonome, starke Person darzustellen. Doch letztendlich werden die Möglichkeiten, eine emanzipierte Frauenfigur zu zeichnen, nicht ausgeschöpft. Positiv bleibt jedoch zu bewerten, dass Clerval nicht explizit und ausschließlich als ›love interest‹ für Gregson eingesetzt wird, obgleich auch sie in der Funktion der ›damsel in distress‹ auftritt. Und auch auf der Gegenseite muss der Figurenbestand als problematisch aufgefasst werden: Im Kontext der sensationalistischen viktorianischen Epoche, die hier imaginiert wird, mag das Spiel mit Geisteskrankheiten und der morbiden Zelebrierung psychisch gestörter Mörder wohl seinen Reiz ausüben, aber Stigmatisierung und mangelnde Reflexion fügen Dobbs Figuren einen schalen Beigeschmack hinzu. Nicht zuletzt, weil am Ende die Grenzen von Gut und Böse klar abgesteckt und die ›Geisteskranken‹ einer – so mag man es interpretieren – gerechten Strafe im Verhältnis zu ihren Verbrechen zugeführt werden.

Dennoch gelingt es, in zwei Kapiteln eine Horrorgeschichte zu erzählen, die ihre Kraft aus den Abgründen der Figuren zieht. Viele dynamische, filmische Einstellungen lassen die Leser_innen nicht nur Gregson, sondern auch die anderen Figuren verfolgen. Ein Motiv, das sich dabei von Anfang an durch die Graphic Novel zieht, ist das Sehen: In Schock geweitete Augen in Nahaufnahme dominieren nicht wenige Panels und machen Schrecken deutlicher sichtbar, als wenn nur Blut und Gewalt abgebildet würden. Zudem werden die Figuren häufig beim Lauern und heimlichen Beobachten gezeigt, was den Leser_innen die Möglichkeit gibt, den eigenen Voyeurismus angesichts der schonungslos dargestellten grafischen Szenen zu reflektieren.

Berücksichtigt man die Verschränkung von Text und Bild, zeigt sich, dass erst Pergers Zeichnungen die Story adeln und eine beeindruckende, dichte Atmosphäre kreieren. Perger scheut sich nicht, Bilder hinter andere Panels fließen zu lassen, und in Momenten der steigenden Spannung die Panels sogar zu sprengen. Durchgängig extrem detailliert ausgearbeitete Aquarelle, bei denen auf klassisches Inking verzichtet wird, erzeugen Szenen von hohem naturalistischem Anspruch, wobei der Fokus auf scharfkantigen Schattierungen und damit Tiefe liegt. Gerade die Beschaffenheit der Aquarellfarbe erzeugt eine raue, unberechenbare Textur, die vor allem den Figuren eine fast schon hyperrealistische Materialität verleiht. In der Farbgestaltung hält sich Perger an gebrochene Farben, die in ihrer Vintage-Anmutung direkt Assoziationen zu einem trüben London wecken: So sind einige Seiten monochrom gehalten und nähern sich hierdurch dem Erscheinungsbild früher Fotografien an. Aber auch die Nuancen von Grau, Ocker oder Ziegel unterstützten Setting und Stimmung gekonnt. So werden warme Interieurs eher von Gelb dominiert, Londons Straßen von schmutzigem Grau und Abwassersysteme von sumpfigem Grün. Tiefes Schwarz ist dabei die Ausnahme. Von den getrübten Farben setzt sich sparsam, aber effektvoll eingesetztes kräftiges Rot ab: Wo Blut fließt, sticht diese Farbe den Leser_innen überdeutlich ins Auge, und ist dabei Marker für Horror.

Dobbs wagt in Scotland Yard einen großen Griff in die viktorianische Literatur, was mal mehr und mal weniger deutlich ausfällt. Gregson und Lestrade sind nicht die einzigen Figuren, die er Arthur Conan Doyles Werk entlehnt. Auch andere Romane müssen ihr Personal zur Verfügung stellen. So interagieren in Dobbs’ Post-Ripper-London Bram Stoker und Figuren aus seinem Werk Dracula miteinander. Dass da einer der Verbrecher auch noch einen Kinderreim aus Alice im Wunderland vorsingt, überrascht daher kaum. Was möglicherweise als postmoderne Verbeugung vor den großen Gestalten des 19. Jahrhunderts wirken soll, kommt nur leider als chaotisch und erzwungen daher. Der Doppelband ist gespickt mit Details, die wohl ein dichtes, authentisch schauriges viktorianisches London darstellen sollen.

Medizinische Kuriositäten, ein Flirt mit der kriminellen Unterschicht und eine morbide Faszination für Geisteskrankheit machen alles in allem deutlich: Dobbs und Perger imaginieren ein dunkles, blutiges London, das das echte zu Zeiten Jack the Rippers noch übertrumpfen will, doch verlieren sie sich in makabren Bildern und mangelnder Reflexion.

 

Scotland Yard
Dobbs (W), Stéphane Perger (P)
Berlin: Splitter, 2014
96 S., 19,80 Euro
ISBN 978-3-95839-033-1