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Entflachung des Denkens

Unflattening – am Roundtable rezensiert von Monika Pietrzak-Franger, Stephan Packard und Susanne Schwertfeger

Mit Unflattening legt Nick Sousanis nicht nur die erste Qualifikationsschrift in Comicform vor, sondern auch ein Plädoyer für den Comic als Medium der Vieldimensionalität. Die Verknüpfung philosophischer, medienwissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Perspektiven setzt sich große Ziele: Wider eingefahrene Wahrnehmungsmuster offeriert Sousanis »einen Bruch mit der Wahrnehmung und die Mittel, ihn zu überwinden« (25) – samt Hermes' Flügelschuhen in kippenden Panels. Ein Werk über Multiperspektivität braucht den Dialog mehrerer analytischer Perspektiven: In drei Rezensionen mit anschließender Diskussion haben sich die Autor_innen unseres Roundtable der Frage gewidmet, ob das innovative Format dem Forschungsgegenstand zuträglich ist.

Comics als neuartiges Denkmedium
(Monika Pietrzak-Franger)

Wollte man die Quintessenz von Nick Sousanis’ Unflattening in einem Satz zusammenfassen, könnte man den grafischen Roman als Verkörperung der Idee sehen, dass Comics ein neuartiges Denkmedium sind. Grundsätzlich beinhaltet der Roman eine Reihe von (verbalen und visuellen) Argumenten gegen jedes eindimensionale, unreflektierte und standardisierte Denken und Handeln – also gegen Flatness. Der Begriff Flatness steht hier metaphorisch und beispielhaft für eine fantasiearme Denk- und Handlungsweise, die auf Logophilie und Ikonophobie basiert. Beide erscheinen für die westlichen (Erziehungs-)Systeme charakteristisch. Entgegen dieser Standardisierung propagiert der Roman ein kreatives Agieren, das er in mehreren Metaphern zusammenfasst: parallaktisches Sehen, rhizomatisches Denken, Tanzen, Zeichnen. Der Körper selbst wird bei Sousanis zum Medium, das das Visuelle und Verbale verbindet und uns erlaubt, die Welt mit neuen Augen zu sehen.

Der Roman verfügt zudem über einen Subtext, der in den »Notes« seinen Niederschlag findet. Es geht darin um eindimensionale und einfallslose Formen des Lehrens und Forschens, also um die gängigen Formen der Wissensvermittlung und ihre Einschränkungen. Sousanis’ Dissertation unternimmt den Versuch, Wissenschaft und Wissen neu zu strukturieren. Neben Posterpräsentationen, Performance Lectures und Poetry Slams werden Comic-Bücher u. a. durch Sousanis zu neuen Instrumenten der Wissensvermittlung. Diese neuartige Form und auch die darin enthaltenen Postulate wirken einer Standardisierung entgegen und ermutigen zur Emanzipation. Verbildlicht wird dies in einer Sequenz durch »Marionettenfäden«, die symbolisch unsere Eingebundenheit in die gesellschaftlichen Konventionen verdeutlichen. Diese existierenden Fäden dürfen wir nicht zerschneiden, sondern wir sollten versuchen, diese Einbindung sinnvoll zu nutzen, denn sie erlaubt uns, ständig unser Denken anzupassen und unsere Sichtweisen zu ändern. Dies wird besonders im letzten Kapitel deutlich, und in den sich rhythmisch wiederholenden Motiven – wie dem sich öffnenden Auge, Fußabdrücken, einem Mann in einem Boot, einer Meerjungfrau –, die sich in ihrer ästhetischen Gestaltung stark voneinander unterscheiden und damit eine Vielfalt an möglichen Sichtweisen in praxi aufzeigen.

Als eine Dissertation, die die Form des grafischen Erzählens bis hin zu ihren Grenzen austestet, ist das Buch auch eine Art grafisches Gedicht, das in seinem visuellen Rhythmus – durch Wiederholungen, Aneignungen, intermediale Bezüge, etc. – eine Geschichte von der Schönheit einer Metamorphose erzählt: eine Metamorphose, die uns erlaubt, in den im Comic auftauchenden tausenden gleichgesinnten, gleichaussehenden, gleichagierenden Menschen-Robotern auf einmal Individuen zu erkennen, die sich durchaus voneinander unterscheiden, und durch diese Différance die Möglichkeit erschaffen, die Welt immer wieder aus neuer Perspektive zu sehen.

Als Forscherin, die Formen breitgefasster Visualität sowohl im alltäglichen Leben als auch in der Lehre und Forschung als unentbehrlich erachtet, muss ich diesem Roman mit Enthusiasmus begegnen: Die ikonotextuelle Virtuosität und die überquellende Begeisterung für »new ways of seeing« sind hier auf jeder Seite spürbar. Wie Sousanis in Unflattening habe auch ich in meinen Seminaren beispielsweise John Cleeses skurrilen Gang und die Idee des Dérive gebraucht, um meine Studenten davon zu überzeugen, wie sehr unser Habitus vorbestimmt ist und wie sehr er uns einschränkt, ohne dass wir es merken. Jetzt freue ich mich darüber, ihnen dieses Buch vorzulegen, um ihre eigenen Perspektiven bereichern zu können. Mit solchen innovativen Gestaltungen verbindet sich für mich die Hoffnung, dass die in unseren Fachdisziplinen lange vorherrschenden Begrenzungen aufgebrochen werden können.

Gleichwohl habe ich zwei Einwände. Zum einen erscheint der Roman sehr abstrakt und zudem didaktisierend und darin wiederum eingeschränkt: Neben den üblichen Metaphern und der Ermutigung zum Zeichnen, Lesen und Selbstgestalten grafischer Romane, um die Welt anders zu sehen, fehlt es an weiteren Vorschlägen – diese werden erst in den »Notes« konkret. Zum anderen ist das Buch aus der Sicht eines Mannes geschrieben. Grundsätzlich ist dies kein Problem, und es kann dem Autor nun wirklich nicht vorgeworfen werden, dass er aus seiner eigenen Perspektive schreibt, zumal dem Medium ein höherer Drang zur Auto-Narration zugeschrieben wird. Diese Vermittlungshaltung perpetuiert jedoch vieles, was man über the male gaze gesagt hat: Während die Tochter und Ehefrau des Erzählers als diejenigen konzipiert werden, die neue Perspektiven eröffnen/fordern, frage ich mich, wieso das Gros der intertextuellen und intermedialen Bezüge vornehmlich männliche Betrachtungsweisen aufzeigt? Haben denn nur Männer einen Anspruch auf einen weltverändernden Perspektivenwechsel?

Susanne Schwertfeger: In der Tat fällt es auf, wenn als universell gültiger Verweis auf ›den Menschen‹ eine männliche Physiognomie herangezogen wird. Neben der in den Notes ebenfalls hergeleiteten biografischen Anbindung, spiegeln die dort aufgezählten künstlerischen Inspirationen (157) einmal mehr eben auch das Verhältnis von männlichen zu weiblichen Künstler_innen im vermeintlichen ›Kanon‹ wieder. Sousanis selbst hat die Wahl der männlichen Protagonisten als Auftakt in Gesprächen zur Veröffentlichung thematisiert und dabei auf die tanzende, dezidiert weibliche Figur (59) verwiesen, die er an späterer Stelle als bewusst gesetzten Ausgleich verwendet. Konnte ich die Fließbandmänner gewohnheitsmäßig als ›generisches Maskulinum‹ lesen, erscheint mir die Idee des Weiblichen mit stereotyp langen Haaren und fließendem Kleid als Gegengewicht – ganz im Sinne des Buches – als ›flat‹. Dass dann doch nicht nur Amazone (125) und Tänzerin das Spektrum bestimmen, zeigt sich in einer Variation der Fließbandmenschen: Das Argument, festgefahrene Denkweisen würden unsere Selbstwahrnehmung formen und ehemals zur Vermessung/zum Verständnis der Welt herangezogene Mittel stattdessen nun den Menschen synchronisieren und quantifizieren, wird anhand einer alternierenden Folge von mal männlich, mal weiblich anmutenden Schattenrissen verdeutlicht (108) – und funktioniert im selben eindrucksvollen Maße wie zu Beginn des Comics.

Stephan Packard: I think those are excellent points. The male gaze is indeed pervasive in this book, and that I completely failed to notice this until you pointed it out underscores the problem. I wonder whether it is connected to the larger argument. Even though the book’s depicted quest for a broader, emancipated, and more holistic manner of thought and perception is presented as striving for individuality and liberation, there are some aspects of the same attitude that may correlate that holism with a tendency towards universalisation: If we take the broader gaze that is taught or at least demanded by this book to be more encompassing, what does it say about that stance to find all the gazing eyes to be male? Scott McCloud’s idea that the cartoon tends towards a generally human face without any individual features, as the latter might bar some readers from identifying with the depicted characters, has famously been criticized in a similar vein: that universal and indistinct human face appeared to be distinctively male and white – though interestingly, not to all readers.

The emphasis and limitation of the didactic stance in the book seems to me to move in a similar direction to my observations on necessary gaps. The book seems strongest to me where it depicts its struggle for a liberated thought and view as ongoing; the – comparatively few – instances where it appears as if the narrator’s voice has accomplished this liberation once and forever, or that such a liberated view, rather than the need for it, could be directly taught on Unflattening’s pages, are less compelling. This might be down to the basic distinction of liberation and liberty – or of revolution and the future society it intends.

Perhaps both points taken together can lead us to another question: While Sousanis often depicts the unliberated routine of the limited mind through images of collectivist societies, most of the points he makes towards emancipation are more individual and introspective. Sousanis is concerned with the internalization of limitations; but the externalization of liberation might be equally important, and one might not be possible without the other. So it might be worth asking how wide the societal changes would have to range that could support, or follow from, a changed cognition.

Monika Pietrzak-Franger: I agree with Stephan Packard here that the »externalization of liberation might be equally important«. I also think that the book’s attempt to do that is best visible, as he says, in its »struggle for a liberated thought« – yet, these are also the moments that are most precarious. Let’s take the relation between words and images again as the main example: to talk about their merger/interrelations/mutual influence, Sousanis has to start with their differentiation that, at least to me, seems both to dichotomize and essentialize both modes of expression. In this the book, at least to some degree, follows/internalizes their dichotomization that it considers characteristic of our culture. Without these two actions, though, it would be difficult to talk about their merger. In other words, the book itself shows how it is part of the internalized cultural limitations and that overcoming them (or being »well-attached«, 135) is a struggle that it attempts to instantiate. So, perhaps sometimes we need to flatten out to be able to unflatten?

Sketching out Analogies
(Stephan Packard)

Nick Sousanis’ amazing Unflattening is billed by the publisher as an »insurrection against the fixed viewpoint«. Turning to Sousanis’ own words, I believe one of the driving ideas might be more succinctly described by his insistence towards the very end that »there are always gaps« (150). For this comic never pretends to completely connect the various antipodes it draws up, but strains against the forces pulling them apart, and develops its beautiful imagery, both graphic and conceptual, from that tension. As »unflattening« becomes an umbrella term for a series of desired transformations and transcendences, it is illustrated by the interlude tale about the marionette who becomes aware of its strings by observing a caterpillar. But the insurrection is always depicted as continuing, never as a revolution triumphant: The puppet, aware of its strings, is still not freed of them; the caterpillar symbolizes a promise, but is not seen to have turned into a butterfly.

In the most immediate sense, the comic unflattens the perception of the art form by achieving not simply more depth than some might think possible for comics books – which would return us to a stale argument anyway, that smacks of a previous generation’s bile –, but by achieving something different or seeking out an unusual profoundness: A philosophical essay remains rare in this medium even as history, maths, and natural sciences have become more conventional topics for its pages and panels. As with other factual genres, an essay in comics cannot rely upon the long canonized forms of word-image-combination that have attached themselves to narration, where text will become storytelling, dialogue or interior monologue as the images show actors on the story’s stage. Not based in such a strong convention, historical or scientific treatises in comics form will sometimes fail to bind words and images together. They then present a traditional scholarly text that covers all of the intended content, and with it a series of images as distant parallel, accompanying the text more or less closely, but only as an afterthought that never adds essentials to its content. Sousanis’ art is much too deft and intricate to ever let that happen: Each page, though often disconnected from what came before and what follows, plays not only with illustrations, associations, and variations of the text, but adds other ideas, and it structures the page to place and displace the verbal argument.

On a deeper level, however, the strain of binding word and image together remains, and is welcome. To take one page that I found especially striking as an example: Sousanis discusses how »both binding agent and action, imagination allows us to span gaps in perception« (91). The imagery shows us two hands involved in a complicated cat’s cradle; a second panel turns the spaces between the strings into panels of their own, depicting various motifs while turning the whole into something more like a kite; two more panels replace this with a structure of a mechanical wing, ending in a Leonardian flying machine, a man strapped in to its bondage to be set free to fly. As a comic page, this continues and plays with the explicitly stated ideas, but it also adds a lot more to discover, perhaps most prominently the grace of the drawings and their distinction from the written lucidity of the verbal argument. And yet as each new association engendered by the pictures further legitimizes their appearance alongside the text, they also pull the whole away from the latter’s limited formulations. That tension, however, is of course reflective of the whole point made on this page and in other ways throughout the book: the imagination that sets us free is at once that which binds us, and the combination of text and imagery at once pulls together two different ways of thought and demonstrates their distinction.

As an argument, Unflattening presents a series of analogies, each discussing a transformative liberation, each bound not only to its conclusion but to the implied similarity to the other transformations by association rather than clear deduction: Departing from an adaptation of Abbott’s Flatland, it pitches higher against lower dimensions of geometry, individuality against normative oppression, left against right brain hemispheres (63), disciplines against free thought (35), traditions against innovation and specialization against inventiveness (38), grammar against visuality (31), and ultimately prose against comics (54). But even though the comic seems to argue, in its more stringent first half more so than its later and more lyrical reflexions, that »form and expression become one« in (not merely) comic books’ »composition« (66), even suggesting that this might realize Russell’s stated impossibility of one language bridging all inescapable logical ruptures (67), the elegance of the work might lie more in how it struggles to bind logic and association, structure and freedom together, even as it moves words and images closer together and separates them in turns. Describing his own metaphor about the visual, Sousanis goes on to say that it is »not meant to exclude other modes of perception. Rather it is intended that our literal ways of seeing metaphorically serve to encompass other ways of making meaning and experience the world« (40). As metaphor and literal meaning turn into each other, the question of whether the elegance of the thought expressed in each image can serve as a philosophical solution to the argument as written out not only remains open, but is itself the very issue at hand.

Susanne Schwertfeger: Ist das Schwanken zwischen Lücken und unaufhebbaren Spannungen auf der einen und multimodaler Synthese auf der anderen Seite ein produktiver Widerspruch – eine »combination of text and imagery [which] at once pulls together two different ways of thought and demonstrates their distinction« (Packard)? Es ist eine Stärke der vorgelegten Dissertation, dass sie sich nicht anschickt, schlichtweg einen neuen, weiteren ›Trampelpfad‹ in der Betrachtungsweise anzulegen (106). Das Anliegen, eine multimodale Perspektive zu propagieren, kann nur über Impulse funktionieren, die ins Offene laufen. Sousanis versteht es, eine sinnfällige Argumentationskette aufzubauen, die anstelle eines starren Schemas, dem es zu folgen gilt, sich stattdessen vor allem der Bewusstmachung solcher Schemata widmet.

Wettstreit der KĂĽnste im Comic
(Susanne Schwertfeger)

»For Descartes, thinking was everything and thinking meant words – inner speech. Through this dissection, mind was divorced from the senses…leaving us disembodied…afloat in a sea of words.« (55)

Der ›moderne‹ Paragone wird nicht mehr wie von der Antike bis zur frühen Neuzeit zwischen Malerei und Bildhauerei im Ringen um das Primat unter den bildenden Künsten geführt, sondern hat sich – ganz dem Status der Wissensgesellschaft (Drucker, 1969) angepasst – auf die Gebiete des Erkenntnisgewinns, der Wissensvermittlung und Kommunikation verlagert. Hier stehen sich nun Wort und Bild als Antagonisten gegenüber. Wie (er)lernen und lehren wir, was bestimmt unser Miteinander? Ernst Robert Curtius belebte 1947 mit seiner Behauptung: »Das Buch ist um vieles realer als das Bild« nicht nur dieselbe Argumentation wieder, durch die sich scheinbar die dreidimensionale Skulptur seit der Antike über die ›flache‹ Malerei erhob. Tatsächlich halten sich Variationen seiner These, an Bildern sei nichts »Unverständliches«, folglich sei ja die »Bilderwissenschaft […] mühelos« (1969, 24) in der Klassifizierung von Bildmedien bis in die heutige Zeit. Dem Bild und allem primär visuell Erfahrbaren wird hier eine intuitiv verständliche sowie plakativ vermittelnde Qualität zuerkannt – um dem Medium im Umkehrschluss die Eignung als Mittel der Erkenntnis oder der Vermittlung anspruchsvoller Inhalte abzusprechen. Bilderbücher für die Kleinen, Comics für die Jugend, schnell konsumierbare Unterhaltung für die Masse. Das E-Terrain war bis in die 1990er Jahre konkurrenzlos dem Wort/der Sprache/dem Text überlassen. Erst dann wurde deren Vorrangstellung u. a. durch W. J. T. Mitchells Postulat eines pictorial turn in Frage gestellt: Nicht mehr der Text sei für unsere Gesellschaft das wichtigste Medium, sondern das Ikon – das (vermittelnde) Bild/Zeichen. Die Zugänglichkeit nicht nur zu einer beliebigen Fülle von Bildern, aber auch den Mitteln ihrer Produktion, Distribution und Rezeption haben Kultur und Gesellschaft maßgeblich geformt. Wie (wirk)mächtig Bilder sind, zeigt nun einmal mehr Nick Sousanis in seiner Dissertation in Comic-Form.

Die Kraft der Bilder als Mittel des Erkenntnisgewinns, zur Verankerung und dem Abrufen von Wissen wird im Verlaufe des Buches nicht nur stetig beschworen, sondern angewendet. Das Spektrum an visuellen Quellen, aus denen Sousanis schöpft und die er gleichzeitig als Verweise aufruft, reicht dabei von musealen Meisterwerken der bildenden Kunst über archetypische Kulturformen bis selbstverständlich zum Comic. So dienen die labyrinthischen und ausweglosen Strukturen der Carceri Piranesis (4), in denen das Individuum weder Perspektive noch Handlungsmacht zuerkannt wird, beispielsweise als Folie für die Darstellung eines dystopischen Ortes, in dem Denken und Agieren streng limitiert sind. Sousanis gelingt die Visualisierung der Umkehrung, die Freisetzung von Kreativität und das Vordringen in die Tiefenregion des Geistes durch ein kleines Spiel mit dem Stil: Die Abbildung eines umgedrehten Kartons, in dessen Inneren alles möglich scheint, steht für einen Denk- und Transformationsraum, beschriftet mit dem Fantasietitel ›Transmogrifier‹ – in der charakteristischen kantig-ungelenken Type von Wattersons Calvin (96). Dem comic-kundigen Betrachter reicht dies als Bezug und Impuls zur weiterführenden Assoziation. In diesem Moment funktioniert das Bild des Kartons eben nicht nur als Darstellung eines buchstäblich dargestellten Raumes, in dem Stofftiger zu lebendigen Komplizen werden, oder dient der Herstellung einer expliziten Analogie zur Handlung. In der Reflektion des gerade vom Betrachter durchlaufenen kognitiven und assoziativen Prozesses ist es gleichzeitig Beleg für die Funktionsweise von Bildern, die unmittelbar Denkräume öffnen. Dem Betrachter Bekanntes wird so auch neu kontextualisiert, Unbekanntes entdeckt. Entsprechend seines inhaltlichen Ansatzes und der Funktion der Arbeit als Dissertation werden alle bewusst verwendeten Zitate oder Inspirationen in einem ausführlichen Anhang aufgedeckt und kommentiert. In dieser fast emblematischen Struktur löst Sousanis die eigenen Ansprüche ein, indem er sowohl dem Wort als auch dem Bild Raum gewährt und das eine nur dann über das andere stellt, wenn es der Erkenntnis und/oder Vermittlung dient.

Sousanis praktiziert aber bereits im Hauptteil, was er predigt: Er wendet das von Groensteen beschriebene Phänomen des braiding an und offenbart so das inhaltliche Potential solcher wiederkehrenden Elemente, das weit über eine strukturelle Verknüpfung hinausgeht. Bereits verwendete und diskutierte Formen und Motive tauchen erneut auf und verweisen so auf bereits Erwähntes, an das es hier inhaltlich anzuknüpfen gilt, oder dessen Argumente mit in die neu angestoßenen Ausführungen und Überlegungen einfließen sollten. Eine solche Form, die gleichzeitig im Verlauf des Comics zwischen verschiedenen Stadien und Bedeutungen oszilliert, ist ein spitzer Winkel, dessen beide Linien in der oberen Hälfte von einem Kreissegment geschnitten werden. Einführend hergeleitet über die mathematisch-physikalische Beweisführung zur Erdkrümmung (32), wird er in der Folge als Verbindung zwischen Geist und Hand im kreativen Prozess aufgegriffen (79), als schematische Aufsicht einer sich öffnenden Tür (94), als Winkelmaß und Bogen (125) eingesetzt – und bleibt dabei doch stets auch eine reduzierte Darstellung eines Auges im Profil und damit an das Sehen und die Visualität rückgebunden.

Sousanis’ »complex, beautiful, delirious meditation on just about everything under the sun«, wie Scott McCloud die Publikation charakterisiert, ist tatsächlich nicht nur ein bewegtes und bewegendes Manifest für die Überwindung des Paragone zwischen Wort und Bild. Im Appell gegen die Reduktion auf nur ein Medium, nur eine Ausdrucksform, nur eine Perspektive ist ebenfalls eine Mahnung enthalten: Bereits auf den ersten Seiten, wenn die normierten (männlichen) Protagonisten auf Fließbändern durch die Carceri-ähnlichen Strukturen geschoben werden, um dann in kleinen, beengten Einheiten in Warteposition zu verharren, stellt Sousanis fest, dass solche äußeren »Enclosures become internalized. What was outside is replicated within.« (11) Dies entspricht der Sicht Hans Beltings, der in seiner Bildanthropologie den menschlichen Körper als Ort verinnerlichter Bilder erkennt und deren Auswirkungen u. a. anhand der Konstruktion des Menschenbildes dekliniert (2011). Überträgt man die Prinzipien der ›Verflachung‹ und Begrenzung auf eben jene Konstruktion und Wahrnehmung des Selbst und des Anderen, so verliert Sousanis’ Forderung weder an Relevanz noch an Dringlichkeit. Ganz im Sinne einer zeitgemäßen Bildwissenschaft und vor dem Hintergrund des iconic turn fordert Unflattening ebenso, sich kritisch mit einer durch Bilder vermittelten Quantifizierung, Uniformierung und Limitierung auseinanderzusetzen.

Stephan Packard: I remain fascinated by the incompleteness of the image/text combination in Unflattening; I find it both intentional and artful. Does it solve or win the paragone? Perhaps it shows us the necessary limits for any such triumph. Nothing compels us to assume that all broadening, deepening, all liberation of thought is necessarily connected either to an increase in dimensionality for depictions or an escape from language that introduces images. But for now, that’s the imagery that the book suggests, perhaps more usefully viewed as a staging ground for the deeper issues than as its identity. The series of analogies connecting the text/image divide to the 2D/3D divide to the cold/hot cognition divide and so on is in many cases vague. In terms of an analytically strict deduction, it would often seem weak and far-fetched; far-fetching indeed to the point of historical mannerism with its deliberately surprising and witty similes, a tradition that is reflected in the drawing style. To my mind, this works as yet another liberation, as broader and more vague analogies are themselves connected to the less strict and more associative way of thought for which the book argues. (But I have to admit that there are many times in my own life and teaching at which I feel that an inverted movement, adding strict analytical concepts to more indefinite holistic ideas, is as sorely needed; the same imagery might be less on target if one’s road to unflattening starts out from the discourse common to the humanities rather than a maths class.)

Monika Pietrzak-Franger: With regard to the issue of associative thinking and the liberation that it may afford, I’ve been wondering about a question that adaptation studies (one of my areas of research) has addressed over and over again: in how far can this accumulation of intertextual, intermedial, trans- and multimedial elements that should – at least if I understand the book right – be liberatory, really lead to any type of liberation? If the reader does not share the reference system, they may be confusing and frustrating. Even if such frustration may lead to a change in thinking, it may also, at the same time, produce limitations that the reader will be unable/unwilling to overcome. And here, again, I see the problem that the book acknowledges but does not seem to strive to overcome, namely, the problem with Western cultural legacies. Here, I would wish for a friction/fracture that would make me think the narrator is aware of this stance (as with gender). Otherwise, the narrator seems to be taking himself out of the equation and speaking from some higher moral ground.

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Bibliografie

  • Belting, Hans. Bild-Anthropologie: EntwĂĽrfe einer Bildwissenschaft. Paderborn: Fink, 2011.
  • Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches  Mittelalter. Bern: Francke, 1969.
  • Groensteen, Thierry: The System of Comics. The Univ. Press of Mississippi, 2007.
  • Mitchell, W. J. T. Picture Theory. Chicago u. London: The Univ. of Chicago Press, 1994.

 

Unflattening
Nick Sousanis
Cambridge, Mass.: Harvard Univ. Press, 2015
208 S., 20,50 Euro
ISBN 978-0-674-74443-1