Ocean Comics
Über diese Ausgabe
Der Themenschwerpunkt der 10. Ausgabe von CLOSURE beschäftigt sich mit dem Meer und seiner vielfältigen Darstellung und Bedeutung im Medium Comic. Das Meer funktioniert in der Literatur und der bildenden Kunst immer wieder als Ort der Sehnsucht, aber auch als Bühne großer Abenteuer. Klassische Geschichten von Forscher_innen und Entdecker_innen, von Captain Ahab und seiner Jagd auf Moby-Dick, zu Captain Nemos Reise 20.000 Meilen unter das Meer sind mittlerweile als Comicadaptionen erschienen, aber auch neue Comics verschiedenster Genres nutzen das Meer als Handlungsschauplatz, Metapher, Chronotopos, oder erforschen die ästhetischen, ökonomischen, politischen, historischen oder ökologischen Dimensionen der Ozeane. Als Ursprungsort des Lebens fasziniert das Meer ebenso wie als Quelle von Gefahr und Vernichtung, als Erholungsgebiet genau wie als Schauplatz historischer und gegenwärtiger Schrecken von Flucht und Vertreibung. Die Tiefsee als Region verborgenen Wissens und unbekannter, monströser Schrecken hat Comiczeichner_innen ebenso inspiriert wie die Zerstörung dieser Ökosysteme durch Klimawandel, Umweltverschmutzung und Ausbeutung mit ihren schwerwiegenden Folgen.
CLOSURE #10 stellt die Frage, über welche spezifischen Darstellungsmittel der Comic verfügt, um sich dem globalen Ozean zu nähern. Dabei geht es nicht nur um einen thematischen Fokus auf wässrige Räume, sondern auch um die Medienökologie graphischen Erzählens und um den Raum, den das Zeichengeflecht des Comics umreißt. Wenn das Meer wie ein »Abgrund der Repräsentierbarkeit« (Blum 2010) erscheint, versprechen die lose zusammenhängenden Formen des Comics einen ganz eigenen Zugang zur scheinbaren Unergründlichkeit: In den Panels zeigt sich ein Ausschnitt des ozeanischen Ganzen, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Es geht uns um den Comic als bewegliches Medium für einen fluiden Raum, um ein Bildsystem für das Ozeansystem – und zugleich um eine transkulturell adaptierbare Form, die globale Zugänge auf das wässrige Anthropozän erlaubt. Wie also rekonstruieren Comics das ozeanische Wissen und nehmen dabei sowohl die Metaphorik des Alternativraums ›Meer‹ in den Blick als auch die Versuche, sich im graphischen Medium der Realität, politischen Aushandlung, materiellen Veränderung und historischen Verfasstheit des Ozeans zu nähern? Die Beiträge in CLOSURE #10 rekonstruieren nicht nur die Darstellung des Meeres, sondern zielen vielmehr auf comicspezifische Oceanic Studies: Eine Suche nach »Oberflächen, Tiefen und extraterrestrischen Dimensionen planetarischer Ressourcen und Relationen« (Blum 2010) in Panels und Sprechblasen, Bild und Schrift, Diagramm und Cartoon.
In ihrem Aufsatz »Towards an Ethos of ›Aqua Graphic‹: Representation of Marine Ecology in Select Visual Narratives« untersucht Ananya Saha wie Umweltkrisen hinsichtlich des marinen Ökosystems visuell und erzähltechnisch in globalen Comics der letzten 30 Jahre ausgehandelt werden. Anhand von fünf Fallbeispielen aus Indien, Japan, Europa und Nordamerika beschreibt Saha Merkmale eines ökologisch orientierten Comic-Subgenres, das sie ›aqua graphic‹ nennt. Diese Comics setzen sich visuell und verbal mit der Bedrohung aquatischer Ökosysteme und dem Widerstand angesichts dieser Bedrohung auseinander. Zudem argumentiert Saha, dass der Widerstandskampf in ›aqua graphics‹ durch übernatürliche oder fantastische Interventionen unterstützt wird und schließt, dass diese Präsenz des Göttlichen und des Mythologischen ein lebensbejahendes Bewusstsein hinsichtlich der Weltmeere steigert.
Die Comicserie Varua Rapa Nui erzählt von einer Insel im Ozean ihrer Geschichte. Mario Faust-Scalisi widmet sich in seinem Aufsatz dieser graphischen, fiktionalisierten Geschichtsschreibung der so genannten Osterinsel (Rapa Nui). Zentral für seine Analyse sind dabei die Folgen historischer, geopolitischer Interessen von äußeren Aggressoren, sowie die Ambiguität des Meeres als Schutzraum und Gefahrenbringer für die Bevölkerung. Durch das Meer wird und ist Rapa Nui transnational und steht damit in einem kontinuierlichen Spannungsfeld, das die indigene Geschichtsschreibung prägt. In besonderer Weisetritt auch die narrative Struktur der Reihe, die mit mythologischen und anthropomorphen Erzählfiguren arbeitet, in den Schlussfolgerungen des Autors hervor.
Der Aufsatz von Arnold Bärtschi hat zum Ziel, die geopoetische Meeresdarstellung in Homers Odyssee und der Comic Die Fahrten des Odysseus von Emmanuel Lepage, Sophie Michel und René Follet zu untersuchen. Er argumentiert, dass das Meer in beiden Werken als Reflexionsebene lesbar ist und die Reisen der Protagonist_innen miteinander verwebt. Bärtschi analysiert intensiv die intertextuellen Bezüge zwischen den beiden Werken und geht der Frage nach, inwiefern der Comic die Reiseroute und die Darstellungen des Meeres neu interpretiert. Dabei nutzt er Konzepte wie die Allelopoiese, der Narratologie sowie der Geopoetik nach Marszałek und Sasse.
David Höwelkröger stellt dar, wie Catherine Meurisse‘ Comic La jeune femme et la mer japanische Konzepte des Meeres verhandelt. Der Artikel stellt Verbindungen zu Testurō Watsujis philosophischem Konzept des fūdo (風土) her, um so die Darstellung der dualen Natur des Meeres im Comic herauszuarbeiten. Dabei hebt Höwelkröger die Interaktion zwischen kulturellen und materiellen Attributen hervor, die mit Wasser verbunden sind. Dieser Ansatz ermöglicht eine philosophische Erkundung der wechselseitigen Beziehung zwischen Mensch und Umwelt, wobei er auch der formalen Darstellung dieser Ideen Raum gibt. Der Artikel ermöglicht nuancierte Einblicke in die kulturelle Bedeutung des Meeres innerhalb der japanischen Kultur, aber auch ihre transkulturelle Erweiterung mit den spezifischen Mitteln des Mediums.
In Elena Stirtz’ Beitrag » ›I dij ek kadu!‹ Das Unvermögen, vom Meer zu sprechen« steht Dave Sheltons Roman A Boy and a Bear in a Boat, beziehungsweise der Comic, der sich innerhalb dessen über zwei Seiten erstreckt, im Mittelpunkt. Der Comic und das Meer werden hier zu einem Sinnbild füreinander und bedingen sich in ihrer Wahrnehmung bis hin zu ihrer Transformation der Materialität gegenseitig. Der Junge erfährt auf seiner endlos scheinenden Reise über das Meer beim Lesen des Comics nicht nur etwas über sich selbst, sondern auch über die Beziehung zwischen ihm und dem alles umgebenden Wasser.
In seinem Artikel »Reading Race in the Comics Medium« erforscht Chris Gavaler die Überschneidung von Semiotik und kulturellen Konventionen bei der Vermittlung von race in Comics. Er befasst sich mit zwei zentralen Fragen: ob Rezipient_innen Bilder mit schwarzen Figuren »lesen« und ob »race« eine Frage des Lesens ist. Die Analyse befasst sich mit der doppelten Natur von Comic-Bildern, die sowohl eine sprachliche Lektüre als auch eine räumlich-zeitliche Betrachtung erfordern. Um diese Prozesse nachzuvollziehen, stellt Gavaler ein ausgeklügeltes vierteiliges Spektrum vor, das beschreibt, wie Betrachter_innen Kombinationen von Zeichen verstehen. Der Artikel zeigt, wie Beobachten und Lesen die Kodierung und Dekodierung rassistischer Darstellungskonventionen beeinflussen, und hebt die Komplexität von race in raumzeitlichen Bildern hervor. Gavaler kontrastiert die Vieldeutigkeit von Beobachtung mit der Präzision des Lesens und legt dar, dass erstere »die der Kategorie ›Rasse‹ innewohnende Unbestimmtheit« beibehält. Der Artikel stellt festgefahrene Vorstellungen darüber, wie wir Comics verstehen, in Frage und zeigt gleichzeitig die Komplexität der Wahrnehmung von race und Rassismus im Zusammenspiel von Betrachtenden und Betrachtetem auf.
In einer Schwerpunktausgabe zur Mangaforschung des Journals Kotoba (Words, 2023) mit einen besonderen Schwerpunkt auf Manga-Studien wurde ein Artikel des Manga-Forschers Natsume Fusanosuke veröffentlicht. Unter dem Titel »An Extremely Personal Take on the History of Manga Studies« bietet der Text einen Überblick über die japanische Manga-Forschung von den 1980er Jahren bis heute und hebt Natsumes einzigartige Perspektive als Wegbereiter und Außenseiter in diesem Bereich hervor. Jon Holt und Teppei Fukuda haben diese persönliche Retrospektive für CLOSURE übersetzt und eine Einleitung beigefügt, die Natsumes Position in der japanischen Comicwissenschaft erläutert. Als Pionier der Manga-Forschung in Japan seit den 1990er Jahren bringt Natsume einen einzigartigen Blickwinkel in die Geschichte der Manga-Studien ein, indem er persönliche Eindrücke schildert und seine Karriere im Vergleich zur Arbeit nachfolgender Wissenschaftler_innen beschreibt. Seine essayistische Geschichtsschreibung untersucht die Akademisierung der Manga-Studien in Japan und wägt den Aufstieg eines theoretisch informierten Stils gegen den analytischen Ansatz ab, den er in seinen Kolumnen verfolgt. Obwohl Natsume seinen Außenseiteransatz als »unverantwortlich« bezeichnet hat, argumentieren Holt und Fukuda, dass sein Fokus auf »jene Linien, Rahmen und Wörter, die Manga für ihn ›interessant‹ machten« wegweisend war und ist. Natsumes Essay bestätigt diese Einschätzung und lässt auf weitere Übersetzungen seines beeindruckenden Werks hoffen.
Sophie G. Einwächter und Vanessa Ossa argumentieren, dass die Comicforschung von den Ansätzen der Fan Studies profitieren kann. Diese stellt die Rezeption von Comics und ihrer Bedeutung in den Fokus, während traditionelle Analysen oft die Produzent_innen und Texte priorisieren. Die Autor_innen zeigen, wie fantheoretische Ansätze dabei helfen können, Konflikte innerhalb der Comic-Community zu verstehen und zu analysieren. Verdeutlicht wird dies am Fallbeispiel zu Diskussionen innerhalb der Marvel-Fan-Community über die Darstellung von Frauenkörpern und Diversität in den Comics.
Wir danken den Autor_innen und besonders Steven Statz für die Gestaltung unseres Covers (Abb. 1), sowie für die Bereitstellung zwei seiner Comics »Inspector Cetus – Shellycoat« und »The Last Light« zur Veröffentlichung in unserer Jubiläumsausgabe. Die Vorstellung des Künstlers findet sich hier.
Kiel, März 2024
Cord-Christian Casper und Susanne Schwertfeger für das CLOSURE-Team
Bibliografie
- Blum, Hester: The Prospect of Ocean Studies. In: PMLA 125.3 (2010), S. 670-677.
- Natsume Fusanosuke, »Gokushiteki manga kenkyūshi-ron.« In: KOTOBA 50 (Winter 2023), S. 70–75.