Spiel mir das Lied vom Geburtstag

Lucky Luke: Die Ursprünge. Western von gestern rezensiert von Wieland Schwanebeck

Zum 75. Jubiläum der Lucky-Luke-Reihe erscheint ein Band mit den allerersten Lucky-Luke-Geschichten aus der Feder von Morris. Diese beiden noch etwas generischen Wild-West-Storys geben Aufschluss über die Lehrjahre eines großen Meisters der franko-belgischen Comic-Szene.

War 2020 das Beethoven-Jahr, dann spricht einiges dafür, dass 2021 ganz im Zeichen von Lucky Luke steht. Der Egmont-Verlag übertrifft sich zum 75. Geburtstag des vom belgischen Zeichner Morris erfundenen Cowboys mit Sonderpublikationen – die neue, vervollständigte Gesamtausgabe ist angelaufen, Fans dürfen sich zudem über ein Kochbuch und ein Lexikon freuen. Im Rahmen der losen Reihe mit den Lucky-Luke-Hommagen ist außerdem gerade Ralf Königs schöner Band Zarter Schmelz erschienen. Dieser setzt endlich das um, was sich der Cartoonist Ralph Ruthe mal für eine mögliche Fortsetzung der Cowboy-Romanze BROKEBACK MOUNTAIN überlegt hat – auf Ruthes Posterentwurf für das nie gedrehte Sequel lautet die Tagline: »Jetzt wird’s RICHTIG schwul!«

Ebenfalls zum Geburtstag liegt nun auch Lucky-Luke-Band Nr. 100 vor. Dabei handelt es sich allerdings um das etwas unglaubwürdigere Jubiläum, denn in der BRD hapert es bei der Zählung der Bände bekanntlich. Sie setzt in der Ehapa/Egmont-Reihe erst mit der Nummer 15 ein, weil der Verlag damals nicht diejenigen verwirren wollte, die bereits eine der anderswo erschienenen deutschen Übersetzungen gekauft hatten. Morris‘ Frühwerk wurde dann peu à peu in die Reihe integriert, wodurch die offizielle Zählung immer mehr an Aussagekraft verlieren sollte. Eine Besonderheit ist auch, dass die Lucky-Luke-Reihe mehrere verschiedene künstlerische Handschriften trägt. Schon Morris arbeitete mit wechselnden Szenaristen zusammen, von denen Asterix-Miterfinder René Goscinny sicher der erfolgreichste gewesen sein dürfte. An seinen Meisterstücken, z. B. Tortillas für die Daltons (Tortillas pour les Dalton, 1966) oder dem Greenhorn (Le pied-tendre, 1968), wird die Marke Lucky Luke bis heute gemessen.

Darüber hinaus gibt Egmont in seiner Lucky-Luke-Reihe auch heraus, was in Frankreich und Belgien hübsch getrennt bleibt – die eher durchwachsenen Kid Lucky-Kurzgeschichten rund um den Cowboy im Kindesalter und die von Achdé und Jul verfassten neuen Abenteuer, die im Original als Les Aventures de Lucky Luke d’après Morris, also einigermaßen biblisch ›nach Morris‹ geführt werden. Das hat den Nebeneffekt, dass sich Egmont bei Lucky Luke mehr herausnehmen kann als anderswo. Vermutlich wäre es unter Lucky-Luke-Fans nicht zu einem solchen Aufschrei gekommen wie nach der Veröffentlichung des Goldenen Hinkelsteins im Jahr 2020; jenes dürren Asterix-Geschichtchens, das vom Verlag etwas irreführend erst als historisches Fundstück aus der Ära Goscinny/Uderzo angepriesen, dann notdürftig auf die Standardlänge von 48 Seiten gestreckt wurde und beim Publikum völlig durchfiel. Der Vervollständigungsappell ist marktwirtschaftlich nachvollziehbar und auch nicht so ganz neu; man konsultiere nur einmal verschiedene Auflagen der Asterix-Bände im Vergleich. Lautet die Überschrift zu der auf der Rückseite abgedruckten Galerie aller Asterix-Bände im Jahr 1990 noch: »Man muß einfach alle kennen!«, so heißt es rund ein Jahrzehnt später, bei der Erstauflage von Asterix und Latraviata (Astérix et Latraviata, 2001): »Man muss einfach alle haben!«

Gegenüber vermeintlich bahnbrechenden Archivfunden sollte man also möglicherweise etwas Skepsis walten lassen und sich fragen, ob es nicht auch eine Veröffentlichung als Bonusdreingabe in der Gesamtausgabe oder als Appendix im nächsten ›richtigen‹ Album getan hätte. Aber derlei Einwände sind zumindest im Fall der hier vorgelegten Ursprünge von Lucky Luke unbegründet. Zwar sind sie streng genommen keine echte Neuentdeckung (neu ist nur ihre Aufnahme in die reguläre Egmont-Reihe), doch Umfang und Qualität des Materials rechtfertigen die für sich stehende Publikation durchaus. Möglicherweise etwas zu verspielt als »Western von gestern« untertitelt der Verlag die beiden 1946 erschienenen Abenteuer Arizona und La mine d’or de Dick Digger (ich kann mir nicht helfen, ich höre da leider immer den Namen des fiktiven Pornostars Dirk Diggler aus Paul Thomas Andersons Film BOOGIE NIGHTS (1997) heraus). Beide Geschichten verwenden bereits typische Lucky-Luke-Plots der späteren Jahre: Luke bringt dank seiner Treffsicherheit und seiner Gewitztheit Banditen zur Strecke und hilft arglosen Greenhorns, die im Westen ihr Glück suchen und von abgebrühten Ganoven über den Tisch gezogen werden. Das erreicht vielleicht noch nicht die wunderbare Charakterkomik späterer Lucky-Luke-Geschichten, geschweige denn deren geschliffenen Erzählstil (der wenig spannende Showdown wird angekündigt mit Sprechblasen wie: »Hören Sie, Sheriff, ich habe einen Plan! Flüster, Flüster!«). Dennoch verdienen Die Ursprünge eine Würdigung im historischen Zusammenhang. Morris bietet hier bereits viel von seinem Typeninventar auf, das sich bis in die 1990er-Jahre ziehen wird – der hängewütige Lynchmob, der Bandit und der chinesische Koch gehören bereits ebenso zum Repertoire wie der zahnlose alte Goldgräber, der sich im späteren Goscinny-Band Goldrausch! (La ville fantôme, 1963) genauer ausgearbeitet findet. Deutlich wird zudem, dass Morris bereits vor seinem mehrjährigen Amerika-Aufenthalt die US-Vorbilder fest im Blick hatte. Die Figuren scheinen den gelenkigen Tex-Avery-Männchen nachempfunden und echauffieren sich auch so schnell, während der Slapstick und die Vier-Finger-Hand, die hier zum Colt greift, an die ersten Walt-Disney-Cartoons erinnern. Der frühe Morris, der genau wie sein Landsmann Hergé eine sichtbar kinematographische Freude daran hat, den Plot im wörtlichen Sinne permanent in Bewegung zu halten, zerlegt die Action noch minutiös in die einzelnen Panels, wohingegen seine späteren Saloon-Schlägereien Schlag und Wirkung in einem einzigen Bild platzieren.

Eine Entdeckung war für mich auch, dass Lucky Lukes treues Pferd Jolly Jumper, das in den realistischer gehaltenen Morris-Bänden der Prä-Goscinny-Ära eigentlich als stummer und noch nicht bis in den letzten Huf anthropomorphisierter Gefährte auftritt, hier schon etwas von der spitzbübischen Charakterkomik verrät, die eigentlich immer Goscinny zugeschrieben wird. Jolly wirft unliebsame Reiter ab, klaut Obst und stellt dem Pferd der Konkurrenz, wenn es die Situation erfordert, ein Bein.

Nicht nur, aber vor allem für eingefleischte Fans der Lucky-Luke-Reihe sind Die Ursprünge einen Blick wert. Und allen, die dem geradezu penetrant tiefenentspannten, schusssicheren Cowboy lieber ein paar neue Nuancen abgewinnen wollen (oder sich fragen, wieso er keine Nippel hat), sei Ralf Königs liebevoll gemachte Hommage empfohlen.

 

Lucky Luke: Die Ursprünge
Western von gestern
Morris
Berlin: Egmont, 2021
48 S., 14,00 Euro
ISBN 978-3-77040-122-2