Uninspirierte Intermedialität
Cartier-Bresson, Deutschland 1945 rezensiert von Felix Haenlein
Ein Comic von Sylvain Savoia (Illustrationen), Jean-David Morvan und Séverin Tréfouël (Szenario) erzählt die Geschichte des Fotografen Henri Cartier-Bresson, insbesondere seiner Kriegsgefangenschaft und seiner Dokumentation der Befreiung Deutschlands. Dabei findet im hinteren Teil des Buches immer auch ein Abgleich mit tatsächlichen Fotografien Cartier-Bressons statt, allerdings ohne die Bedingungen der verschiedenen Medien auf interessante Weise zu reflektieren. Das Ergebnis ist ein teils dokumentarisches, teils persönliches Buch, das an seinem eigenen Anspruch scheitert.
Cartier-Bresson, Deutschland 1945 ist mehr als ›nur‹ ein Comic und gerade deshalb auch weniger als das. Denn tatsächlich sind nur knapp zwei Drittel des Buches überhaupt Comic, etwa 50 Seiten nimmt ein daran anschließendes Dossier mit einem Essay über und Fotografien von Henri Cartier-Bresson (1908–2004) ein. Der französische Fotograf und Regisseur konnte gleich zweimal aus deutscher Kriegsgefangenschaft fliehen und dokumentierte später die Befreiung von Paris der dasselbe zeigt, legen den Verdacht einer Inszenierung nahe. Tode stellt sich deshalb die Frage: »Vielleicht ist gar die Anordnung der Situation explizit für die Dokumentation durch Kameras geschaffen worden?« (136) Er weist darauf hin, dass gängige Beschreibungen der Fotografie etwas unterstellen, was sie eigentlich gar nicht zeigen kann. So werde immer wieder davon gesprochen, dass genau der Moment abgebildet sei, in dem die wütende Frau die Informantin wiedererkannt habe, die sie an die Nazis verraten hatte. Als mutmaßliche Kollaborateurin müsse sie allerdings bereits zuvor erkannt worden sein, da sie sonst gar nicht erst als Gefangene vor den Befragungstisch geführt worden wäre. Was der Comic aus dieser Szene macht, überrascht allerdings angesichts dieser Informationslage: er reproduziert diese häufig formulierte Theorie, wonach das Foto eine Szene des Wiedererkennens zeige. (Abb. 1) Die Szene wird hier in einem einzigen ganzseitigen Panel dargestellt und nimmt in dem größtenteils konventionell gestalteten Comic (fünf bis sechs Panels pro Seite sind die Regel) eine herausgehobene Stellung ein, schließlich handelt es sich ja auch um den bereits auf dem Buchcover angekündigten Höhepunkt der Erzählung. Dort heißt es dann: »Kaum steht sie [die Nazi-Kollaborateurin] vor dem Tisch des Lagerleiters, löst sich eine Französin schreiend aus der Menschenmasse. ›Ich erkenne diese Frau! Sie ist Belgierin, Informantin der Gestapo! Sie hat mich denunziert!‹« Und weiter aus der Sicht Cartier-Bressons: »Von der Menge angegriffen, wird sie von den Wachen in Häftlingskleidung weggebracht. Ich werde die Wahrheit hinter dieser Geschichte nie erfahren.« (88) Dieser Ausspruch ist das einzige, was auf das Rätselhafte dieses Ereignisses hinweist und als solches in den Text verlagert, während der Comic auf der Bildebene keinen Umgang mit der Unsicherheit der Faktenlage findet. Denn warum der Cartier-Bresson im Comic an der Wahrheit des Dargestellten, das sich vor seinen Augen abspielt, zweifeln sollte, bleibt für die Leser_innen des Comics vollkommen unverständlich. Auf der Ebene der Darstellung lässt der Comic keine Zweifel daran zu, dass sich das, was dort zu sehen ist, unmittelbar vor den Augen des Fotografen spontan ereignet haben muss. Anstatt also die Möglichkeit einer Inszenierung in die Darstellung aufzunehmen, entscheidet sich der Comic an dieser Stelle für Eindeutigkeit und letztlich ist das einzige, was die Zeichnung von der Fotografie unterscheidet, die Tatsache, dass Cartier-Bresson selbst in diesem Bild vorkommt.
Diesen Kniff, den Fotografen selbst in seine Bilder einzutragen, wendet der Comic häufiger an – teilweise wird dabei die Blickrichtung umgekehrt. (Abb. 2) Hilfreich bei der Lektüre dieser Seiten ist es tatsächlich, dass man das Dossier konsultieren kann, um die jeweiligen Bilder zu finden und zu vergleichen. Inwiefern allerdings durch das Einbringen Cartier-Bressons in seine Bilder eine Reflexions- oder Deutungsebene hinzugewonnen werden könnte, bleibt ein Rätsel. Auch deshalb, weil sowieso immer nur zu sehen ist, wie er nichts weiter tut, als auf den Auslöser zu drücken. Sicherlich gehört es zur Darstellung der Entstehungsbedingungen von Cartier-Bressons Fotografien, die mit ihnen verbundene subjektive Wahrnehmungsinstanz in den Fotografien zu suchen. Ein Comic, dessen Thema die Fotografie ist, muss aber mehr zu ihr zu sagen haben, als nur das naive Fehlurteil von der Möglichkeit eines unvoreingenommenen Blicks auszuräumen. Der Comic scheint an solchen Stellen den bereits vorhandenen Bildern Cartier-Bressons hilflos gegenüberzustehen, weil er keine eigenen Mittel findet, um mit ihnen umzugehen.
Dass bei der Darstellung der Entstehungszusammenhänge im Comic abermals Potential verschenkt wurde, wird durch den Text im Dossier deutlich. Tode bespricht Cartier-Bressons künstlerisches Verfahren des »Entscheidenden Moments« (123) das unter anderem darauf beruht, »dass stets das Sujet und niemals der Fotograf im Vordergrund steht.« (120) Eine Herangehensweise, die für Cartier-Bresson, dann laut Tode beispielsweise auch bedeutet, dass er diesen entscheidenden Moment nicht nur spontan auffindet, sondern teilweise bereits eine Szenerie auswählt und dann nur darauf wartet, dass ein Mensch den Bildausschnitt durchquert. Im Dossier wird damit erst klar, dass die Arbeit des Fotografen selbstverständlich nicht allein darin bestehen kann, zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Dagegen finden sich im Comic keine derartigen Auseinandersetzungen mit Cartier-Bressons Arbeitsweise – dort muss er stets nur vor Ort sein und auf den Auslöser drücken, um zu seinen Fotografien zu gelangen. Dem Anspruch einer Darstellung der Entstehungsbedingungen von Cartier-Bressons Fotos kann der Comic so nicht gerecht werden.
Eine Reflexion über die Bedingungen seiner Arbeit und des Fotografierens im Allgemeinen findet nur oberflächlich statt – auch dann, wenn geschildert wird, wie sich Cartier-Bresson 1940 wegen des herannahenden Feindes dazu entschließt, seine Leica zu vergraben und für die vier folgenden Jahre das Auge zu seiner Kamera zu machen. »Mein Auge wurde zum Objektiv. Die Iris ersetzte die Blende. Das Augenlid den Verschluss. Die Netzhaut wurde zum Film. Der Augapfel diente als Dunkelkammer. Und statt auf Barytpapier landeten die Abzüge in meinem Gedächtnis.« (Abb. 3, 20–21) Nun ist es dem Comic zwar möglich, diese Gedächtnisbilder zu zeigen und damit das herzustellen, was eigentlich für immer verloren war: Abbildungen aus Cartier-Bressons Zeit als Kriegsgefangener. Dass der Comic das auch einfach macht und durchgehend auf der Darstellungsebene bleibt, zeigt aber gerade das fehlende Problembewusstsein für das Nichtvorhandensein dieser Bilder. Anstatt ihr Fehlen mit den Mitteln des Comics zu besprechen, wird so getan, als sei das sowieso alles kein Problem und als könnten die Lücken der geschichtlichen Dokumentation durch nachträgliche Anstrengungen aufgefüllt werden.
Insofern ist bis zuletzt nicht klar, was dieses Buch eigentlich will. Cartier-Bressons Geschichte wird mehr oder weniger zweimal erzählt. Einmal in Form des Comics und einmal in Form einer Mischung aus Biografie und einem Essay zum fotografischen Werk, das mit seinen Bildern versehen ist. Dabei entsteht der Eindruck, dass keiner der beiden Texte ohne die Ergänzungen durch den jeweils anderen gut genug wäre, um vor einem interessierten Publikum bestehen zu können. Der Comic ist formal belanglos. Der Text im Dossier ist zu überblicksartig und ohne wirkliche These. Ohne Frage ist das Buch informativ, der Comic ansprechend und detailreich gezeichnet. Aber das reicht glücklicherweise schon lange nicht mehr aus, um als gelungenes Beispiel seiner Gattung gelten zu können.
Cartier-Bresson, Deutschland 1945
Jean-David Morvan, Sylvain Savoia & Séverine Tréfouël
Wien: bahoe books, 2020
144 S., 24,00 Euro
ISBN 978-3-903290-10-5