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Repetition oder Revolution?
Posthumane IdentitĂ€tsentwĂŒrfe im Superheldencomic der Gegenwart

Joanna Nowotny (ZĂŒrich)

Ein Mensch befindet sich allein in einem Raum. Über einen Bildschirm erhĂ€lt er oder sie Botschaften von zwei EntitĂ€ten. Der Auftrag ist es, zu dekodieren, welche Nachrichten oder Antworten auf Fragen von einem Menschen und welche von einer Maschine stammen. So die verkĂŒrzte Zusammenfassung des Turing-Tests. Bevor Alan Turing 1950 allerdings in seinem Aufsatz Computing Machinery and Intelligence das Mensch-Maschinen-Beispiel erlĂ€utert, den Menschen also mit seinem potenziellen evolutionĂ€ren Nachfolger, der intelligenten Maschine konfrontiert, imaginiert er einen anderen Versuchsaufbau, der sich in »relatively unambiguous words« fassen lasse (Turing, 433; vgl. auch Hayles, xii). In diesem Fall muss die Versuchsperson in Sachen Geschlecht urteilen:

»The [
] form of the problem can be described in terms of a game which we call the â€șimitation gameâ€č. It is played with three people, a man (A), a woman (B), and an interrogator (C) who may be of either sex« (Turing, 433).

Die Aufgabe ist, die Nachrichten auf das Geschlecht ihrer Produzent_innen hin zu entschlĂŒsseln, wobei jeweils der Mann versucht, den oder die Proband_in zu tĂ€uschen, die Frau aber wiederum, ihn von ihrer GeschlechtsidentitĂ€t zu ĂŒberzeugen. Was hat der Turing-Test, der gemeinhin als SchlĂŒsselszene der modernen Kybernetik gilt, also mit Geschlecht zu tun? Turing selbst bleibt die Antwort auf diese Frage schuldig – die beiden Versuchsszenarien werden ohne weitere ErklĂ€rung nebeneinandergestellt.

Was beide Varianten des Turing-Tests thematisieren, ist die Differenz zwischen einer verkörperlichten und einer symbolisch reprĂ€sentierten Intelligenz. Wenn eine Maschine oder ein Mann und eine Frau nicht mehr korrekt ihren symbolisch reprĂ€sentierten Äußerungen zugeordnet werden können, tut sich eine Kluft auf zwischen Körper und technisch mediierter ReprĂ€sentation, zwischen einer handelnden und denkenden Intelligenz und ihrer symbolischen ReprĂ€sentation. Anders ausgedrĂŒckt: Die Tatsache, dass eine Maschine oder ein Mann den Turing-Test bestehen können, beweist, dass IdentitĂ€t ĂŒber Kommunikate vermittelt wird, die ihrerseits untrennbar mit der IdentitĂ€tsproduktion des menschlichen EmpfĂ€ngers verschrĂ€nkt sind, und dass diese Kommunikate durch eine Maschine reproduzierbar sind. Dies wirft nicht nur die Frage auf, worin genau das Menschsein auf symbolischer Ebene besteht, sondern destabilisiert damit anscheinend auch Kategorien der Differenz wie die des Geschlechts.

Vom Cyborg zum Androiden: Mythen fĂŒr das kybernetische Zeitalter

Es mag also wenig ĂŒberraschen, dass die feministische und queere Theorie seit Jahrzehnten besonderes Interesse an Figurationen des Post-Anthropologischen oder des Posthumanen gezeigt hat. Jack Halberstam schreibt, dass »automated machines« »new ground« böten, um zu zeigen, »that gender and its representations [
] technological productions« sind (Halberstam, 439 f.). Aus Turings »imitation game« zieht er einen Schluss, der Turing selbst entgangen sei. Halberstam mobilisiert das Begriffspaar sex/gender und argumentiert, dass Turings Versuchsanordnung eine versteckte Aussage ĂŒber das soziale, konstruierte Geschlecht enthalte: »Gender, [
] like computer intelligence, is a learned, imitative behavior that can be processed so well that it comes to look natural« (Halberstam, 443).

Donna Haraways Figur des â€șCyborgâ€č, bis heute wirkungsmĂ€chtig und inspirierend fĂŒr die feministische Theorie (vgl. z.B. Hester), setzte im Jahr 1985 die Hoffnungen ins Bild, die sich mit einer Überwindung des nur â€șHumanenâ€č und des auf AusschlĂŒssen basierenden Subjektbegriffs des Humanismus verbinden können. Haraways feministischer Mythos, ihr »political myth« (ACM, 149) fĂŒr das Zeitalter der Kybernetik ist ironisch und janusköpfig. Cyborgs sind »the illegitimate offspring of militarism and patriarchal capitalism, not to mention state socialism« (ACM, 151). Sie stammen aus einer Epoche und Ideologie, die durch militaristische KriegsfĂŒhrung geprĂ€gt ist, sind selbst Produkt und Teil einer Kriegsmaschinerie. Doch gleichzeitig liegt in Cyborgs ein revolutionĂ€res Potenzial, denn »illegitimate offspring are often exceedingly unfaithful to their origins. Their fathers, after all, are inessential« (ACM, 151). Cyborgs können beliebig programmiert und rekombiniert werden (oder sich selbst programmieren und rekombinieren), keine â€șnatĂŒrlichenâ€č Architekturen beschrĂ€nken die Gestaltung ihrer Systeme; sie können ebenso im Dienst des militĂ€risch-industriellen Komplexes wie einer pazifistischsubversiven Befreiungsideologie stehen. Sie unterwandern traditionelle Vorstellungen von IdentitĂ€t, da sie hybrid und ihre Körpergrenzen instabil sind; sie reprĂ€sentieren und verkörpern die Möglichkeit, Verbindungen zu schaffen, die nicht auf biologischer Reproduktion basieren. Die Auflösung von rigiden Kategoriengrenzen im Cyborg kann VergnĂŒgen und Lust bringen: »Far from signalling a walling off of people from other living beings, cyborgs signal disturbingly and pleasurably tight coupling« (ACM, 152). Als Wesen, die sich strikten Kategorien verweigern, sind Cyborgs weder mĂ€nnlich noch weiblich, sondern beides zugleich – oder keines von beiden: »The cyborg is a creature in a post-gender world« (ACM, 150).

Um Gender, technisch mediierte IdentitĂ€t und ein »imitation game« soll es nun auch in diesem Aufsatz gehen. Cyborgs, Androiden und hochentwickelte Roboter bevölkern Superheldencomics seit jeher. Das Genre zeigte sich stets fasziniert vom destruktivkreativen Potenzial neuer Technologien, so zum Beispiel, wenn der Test einer Gamma-Bombe (ein deutlicher Verweis auf die Atombombe) den Wissenschaftler Bruce Banner zum ĂŒbermĂ€chtigen Monsterhelden The Hulk werden lĂ€sst. Der visuell konstruierte Körper von Superheld_innen ist ein Ort, an dem wissenschaftliche, populĂ€re und geschlechtliche Diskurse sich bĂŒndeln und ĂŒberlagern. Damit eignen sie sich besonders fĂŒr Untersuchungen, die der diskursiven Konstruiertheit von Körperlichkeit und Geschlecht nachspĂŒren.

Im Zentrum der Analyse steht hier The Vision, eine narrativ in sich geschlossene Serie von Tom King, Gabriel Hernandez Walta, Michael Walsh und Jordie Bellaire, die 2015/16 bei Marvel erschien. Die Analyse von The Vision ist ein Einzelbeispiel; sie ist aber insofern besonders aussagekrĂ€ftig, als die Comicserie von Kritiker_innen hoch gelobt und als raffiniertes Spiel mit Genrekonventionen verstanden wurde. Gerade durch das Überschreiten von Konventionen lĂ€sst sich so ex negativo auch diskutieren, wie â€ștypischeâ€č Superheld_innencomics mit IdentitĂ€tskonfigurationen verfahren. Das »comic book masterpiece« The Vision (so Gustines in der New York Times) wurde zudem breit rezipiert – die Visionen des Posthumanen, die der Comic kreiert, wurden anscheinend als zeitgemĂ€ĂŸ wahrgenommen. The Vision prĂ€sentiert eine Zukunftsvision, in der Menschlichkeit eine umkĂ€mpfte Ressource ist. Der superheldische Android Vision baut sich eine Familie, mit der er in einen gesichtslosen amerikanischen Vorort zieht. Vision und seine kleinen »Visions of the Future« (der Titel des ersten Hefts; Abb. 1) agieren so, wie Menschen anscheinend handeln sollten, egal wie absurd dies im Fall einer Familie aus kĂŒnstlichen Intelligenzen mit robotischen Körpern auch sein mag.

Abb. 1: Eine perfekte Familie (King/Walta/Bellaire, o. S.).

Sie nehmen gemeinsame Mahlzeiten ein, obwohl sie nicht auf organische Nahrung angewiesen sind; sie gehen zu feierlichen Gelegenheiten in Restaurants, wo sie Essen bestellen und bezahlen, aber die KĂŒche anweisen, ihnen nichts zu bringen (TV 8). In der ĂŒbersteigerten Menschlichkeit und Durchschnittlichkeit, die sie begehren − »we must strive to remain ordinary« (TV 1) − und verkrampft performen, fĂŒhren sie den Konstruktionscharakter von NormalitĂ€t vor, sie denaturalisieren das vermeintlich Normale. Die Grundanlage spiegelt so das Cyborg Manifesto: WĂ€hrend bei Haraway
â€șcyborgischeâ€č QualitĂ€ten auf Menschen ĂŒbertragen werden, geht in The Vision Menschlichkeit auf Cyborgs oder Androiden ĂŒber.

Ich möchte das utopische und revolutionĂ€re Potenzial, das dem Cyborg in den Achtzigern bei Haraway zukam, gegen diese zeitgenössische und hochgelobte Superheldenserie halten. Was ist aus widerstĂ€ndigen Cyborg-TrĂ€umen heute geworden und wie werden Fusionen des Menschlichen und Maschinellen im Medium Comic verhandelt? In drei Schritten soll eine Antwort auf diese Frage gegeben werden: Erstens stehen posthumane IdentitĂ€tsentwĂŒrfe zur Disposition; zweitens soll es um mĂ€nnliche Schöpfungsmythen gehen; drittens wird die Repetition oder Replizierung als das Verfahren ausgewiesen, das The Vision nicht nur auf einer inhaltlichen, sondern auch auf einer formalen Ebene bestimmt. In einer Synthese werden zuletzt Kriterien revolutionĂ€rer und konservativer Narrative des Posthumanen erarbeitet, die es erlauben sollen, Figuren und Figurationen an der Schnittstelle des Menschlichen und Maschinellen, des Organischen und KĂŒnstlichen auch in anderen ErzĂ€hlungen auf einer Skala zu verorten: von Frankensteins â€șKreaturâ€č zu Haraways Cyborg. Ziel ist also nicht nur ein close reading von The Vision; es geht immer auch um medientypische Aspekte, um das, was Comics auf spezifische Art ins Bild setzen können, sowie um Narrative ĂŒber die Grenzen zwischen Mensch und Maschine in einem breiteren Kontext.

Dass der Android oder »Synthezoid« − wie es in The Vision des Öfteren heißt – hier mit Haraways Figur des Cyborg verglichen wird, einer Fusion des Organischen und Anorganischen, ist durch Visions Existenz an der Schnittstelle von Mensch und Maschine begrĂŒndet.1 Haraways VerstĂ€ndnis des Cyborg lĂ€sst sich insofern auf Vision ĂŒbertragen, als durch beide â€șFigurenâ€č der Status des Menschlichen problematisiert wird. Im prĂ€-kybernetischen Zeitalter waren Maschinen noch nicht »self-moving, self-designing, autonomous. They could not achieve man’s dream, only mock it. They were not man, an author to himself, but only a caricature of that masculinist reproductive dream« (ACM, 152). Vision ist eine autonome kybernetische Maschine, er möchte sich selbst verwirklichen – in dieser Hinsicht ist er einem Menschen gleich. Die ganze Serie ließe sich aber zugleich als Karikatur eines maskulinistischen Reproduktionstraumes beschreiben, der prĂ€-kybernetischen Vorstellungen von IdentitĂ€t und MĂ€nnlichkeit verhaftet bleibt. Visions Ambitionen sind so menschlich geworden, dass er selbst zum Zerrbild eines menschlichen Traumes wird. Und diese gequĂ€lte Figur ist, wie Haraways Cyborg, ein Produkt des militĂ€risch-industriellen Komplexes. Vision wurde als Kriegsmaschine erschaffen und â€șlebtâ€č im Genre der Superheldencomics, das gerade in seiner FrĂŒhzeit auch außerfiktional in den Militarismus verwickelt war, als Comichefte zum Beispiel an der amerikanischen Front des Zweiten Weltkriegs verteilt wurden.

NatĂŒrlich geht es in Haraways Cyborg Manifesto um viel mehr, wenn man so will auch um Konkreteres als den Cyborg als Mythos fĂŒr eine post-Gender-Zukunft. Die sozialistische Feministin schaltet sich in feministische Debatten ein, kritisiert die Lagerbildung in der Bewegung, die Blindheit gewisser Feminismen fĂŒr Differenz – sie plĂ€diert fĂŒr das, was heute weithin bekannt ist als intersektionaler Feminismus – und reflektiert unter anderem ĂŒber Informations- und Kommunikationstechnologien sowie den Status der Hausarbeit. Das Cyborg Manifesto zielt zudem nicht nur auf die Vermittlung konziser Inhalte, sondern ebenso sehr auf eine bestimmte Art der DiskursfĂŒhrung und der rhetorischen Aushandlung. Haraway will die ironische Brechung und blasphemische Zuspitzung in einen sozialistisch-feministischen Diskurs einbringen, der sich teilweise mit sakrosankter Ernsthaftigkeit an der Kategorie â€șFrauâ€č abarbeitete, also an einer Kategorie, die durch Figurationen des Posthumanen ĂŒberhaupt in Frage gestellt wird (spĂ€ter sollte Haraway die ironische Rhetorik selbst kritisch betrachten, da sie bestimmte Lesestrategien verlange, die auf Privilegien fußen; vgl. Haraway 2004, 325). Ich mobilisiere in diesem Aufsatz also Begriffe aus einem ganz bestimmten Teil des Manifests und werde andere Bereiche bewusst außer Acht lassen. So bin ich einem Ansatz verpflichtet, den Haraway selbst in ihrer Rezeption konstatierte, als sie bemerkte, dass verschiedene Forscher_innen »embrace and use the cyborg of the manifesto to do what they want for their own purposes« (Haraway 2004, 325). Damit ist die LektĂŒre, oder besser: Anverwandlung des Manifests, im vorliegenden Aufsatz ebenso heterogen, ironisch gebrochen und tendenziös wie die Figur des Cyborg selbst; sie erhebt keinen Anspruch auf VollstĂ€ndigkeit, will vielmehr anregen und provozieren.

»I am I am I am«. Multiple IdentitÀt, kollektive IdentitÀt

Humanistische Vorstellungen des Ich – als rationales, konsistentes, in sich geschlossenes Subjekt – haben in der Zeit des Posthumanen ihre GĂŒltigkeit verloren. Wenn die Grenzen zwischen dem Ich und der (technologisch dominierten) Umwelt in Frage gestellt sind, werden IdentitĂ€ten multipel oder »fractured« (ACM, 155), fraktal gebrochen. Cyborgs besitzen laut Haraway kein â€șunitary selfâ€č (ACM, 170), weswegen sie sich vorzĂŒglich mobilisieren lassen, um hierarchisch-gewaltvolle Subjektkonstruktionen zu destabilisieren: »The cyborg is a kind of disassembled and reassembled, postmodern collective and personal self« (ACM, 163). SpĂ€testens seit den Achtzigern sind kollektiv-heterogene Lebensformen und IdentitĂ€tsentwĂŒrfe auch in der Fiktion Thema. Die Kurzgeschichte Blood Music (1983) von Greg Bear etwa erzĂ€hlt davon, wie Kollektive superintelligenter Zellen neues Leben versprechen; aber nur um den Preis der eigenen, persönlichen IdentitĂ€t, die an der Schranke des Posthumanen zurĂŒckgelassen werden muss.

Der Verlust einmaliger IdentitĂ€t strukturiert auch die ErzĂ€hlung The Vision. Dies ist schon in den Namen der Androiden angelegt. Durch seinen eigenen Namen oder Moniker grenzte sich Vision einst von seinem mörderischen Schöpfer Ultron ab, der ihm keinen Namen gönnen wollte: »What need has an inhuman slave of a name
 even a number?« (TV 11). Beim ersten Zusammentreffen mit Menschen wird der namenlose Vision tatsĂ€chlich als »inhuman« wahrgenommen. The Vision zitiert in einer Caption einen Ausruf der Heldin The Wasp aus einem Ă€lteren Avengers-Heft: »It’s some sort of unearthly, inhuman Vision!« (TV 10; vgl. Thomas/Buscema/Klein). Aus einem erschreckten Aufschrei, der den Androiden auf seine Fremdheit, seine â€șothernessâ€č und Unmenschlichkeit festlegte, wurde der eigene Name »Vision«, der als Nachname an die erbaute Familie weitergegeben wird, eine Familie, die paradoxerweise dem Zweck dient, eben nicht als â€șotherâ€č und unmenschlich wahrgenommen zu werden.

Visions Frau heißt Virginia, die Tochter Viv, der Sohn Vin Vision. Die Visions sind damit schon durch ihre Namen als Einzelelemente in einer Kette markiert, als leichte Variationen des immer gleichen Templates. Die weiblichen Namen und der Name des Teenagers Vin sind bloß Ableitungen des Namens von Vision, der in seiner körperlichen Gestaltung deutlich mĂ€nnlich gegendert ist und die Rolle des Familienvaters ĂŒbernimmt. Nomen est omen: Visions Kreaturen sind in jeder Hinsicht Variationen seiner selbst. Sie Ă€hneln ihm, mit ihrem rot-grĂŒnen Farbschema und den leeren weißen Augen, mit ihren gelben, eigenartig geformten Sprechblasen, die keine andere Figur teilt, egal ob Mensch oder Android, und die eine den Visions eigene Sprechweise anzeigen sollen (vgl. Abb. 1).2 Virginia ist eine WiedergĂ€ngerin und Variation nicht nur einer, sondern gleich zweier Vorlagen: Sie ist eine Abwandlung ihres Ehemannes und Schöpfers und basiert auch auf den »brain patterns« von Visions Ex-Frau Wanda Maximoff alias Scarlet Witch, der er anscheinend noch immer nachtrauert (vgl. TV 7). Aus Wanda wird Virginia, aus W wird V, Wanda wird halbiert. Aus der ganzen Frau wird eine halbe Frau, eine Vision der Unschuld – den Namen Virginia kann man ĂŒber das lateinische virgo ja nur zu leicht als â€șdie Unschuldigeâ€č verstehen −, verdammt dazu, eine Art Halbleben oder »half-life« (TV 10) zu fĂŒhren. Virginias SubjektivitĂ€t und Erfahrung gehört nicht ihr allein, und zwar nicht nur, weil die Visions sich einen Familienserver teilen, auf den sie Erinnerungen und Erlebnisse laden. Als WiedergĂ€ngerin von W ist Vs SubjektivitĂ€t bis in ihren Kern kollektiv oder zumindest ein Doppel: Als sie damit beginnt, »the corners of her pre-loaded memory« zu erforschen, findet sie dort »fragments of thoughts that did not belong to her« (TV 10). Das posthumane, fragmentarisch zerstreute Subjekt ist, anders als das humanistische Subjekt, nicht in Besitz eines Willens oder von WĂŒnschen, die klar und deutlich von denen anderer zu unterscheiden wĂ€ren; es erlebt sich als heterogen und seine Handlungsmacht als fragwĂŒrdig. Teile seines Bewusstseins liegen außerhalb seines Selbst, sind zum Beispiel in Objekten gespeichert. Anhand der Virginia-Figur, die an ihrer conditio leidet und an ihrer SubjektivitĂ€t (ver)zweifelt, lĂ€sst sich ein solcher posthumaner Subjektbegriff thematisieren. Sie ist zum Beispiel nicht fĂ€hig, sich selbst von den GerĂ€ten zu unterscheiden, derer sie sich bemĂ€chtigt. Ihre IdentitĂ€t dringt in Objekte, die außerhalb ihrer selbst liegen:

»When when I simply access the notes and play play play them well
 I seem to feel that I am not playing them. I have
 simply
 become the piano. I am perfect perfect perfect. I am the piano. I am I am I am« (TV 8).

Übrig bleibt die Aussage, die gerade in ihrer dreifachen Wiederholung so fraglich werden muss: Virginia ist, aber was ist sie? Ist sie nur eine Kopie, ein technisches Replikat des bereits Dagewesenen, ein Echo?

Als WiedergĂ€ngerin Wandas fallen auch die Altlasten der Beziehung von Wanda und Vision auf Virginia. Deren Ehe zerbrach, als Wanda durch ihre Magie zwei Söhne erschuf, wie der zeugungsunfĂ€hige Android Vision sie ihr nicht schenken konnte, und sie diese nicht ganz realen Kinder wieder verlieren.3 »We need to talk about the children«, sagt Vision, der die Kinder nicht als die seinen anerkennen will, in einer Analepse. Wanda ignoriert ihn und spricht von Babyartikeln, bis Vision sie verzweifelt unterbricht: »Wanda, please
 They are not real« (TV 7). Auf diese Unterstellung reagiert Wanda wĂŒtend und wirft ihm an den Kopf: »You’re a damn Toaster! They’re not real? What are you?!« Der Streit eskaliert: »Who are you?! Huh? What are you?! To tell me they’re not real!« »But this is not a Family. This is a lie. And what good can come of this lie?« »YOU’RE NOT REAL!« (TV 7; Abb. 2). Thematisiert wird hier, wer als Mensch oder menschenĂ€hnliches Wesen RealitĂ€t fĂŒr sich beanspruchen darf, wer dagegen nur den Status eines Objekts einnimmt, eines Toasters – oder eines Klaviers.

Abb. 2: Visions traumatische Vergangenheit (King/­Walta/Bellaire, o. S.).

Doch wĂ€hrend diese â€șkĂŒnstlichen Kinderâ€č von Vision nicht anerkannt wurden, scheint er in der diegetischen Gegenwart einem Wiederholungszwang zum Opfer zu fallen, wie er nach traumatischen Ereignissen wie dem Verlust der Kinder und dem Zerbrechen der Ehe ja durchaus psychologisch plausibel wĂ€re. Er versucht sich selbst an einer nicht-biologischen Form der Reproduktion, nur dieses Mal mittels Technologie statt Magie. Schafft die Frau magische Kreaturen, schafft sie Leben, ohne aus ihrer Biologie Kapital zu schlagen, ist dies anscheinend inakzeptabel – und doch versucht Vision sein eigenes »imitation game«, erschafft Kreaturen, die sich selbst und ihre Umwelt von ihrer RealitĂ€t ĂŒberzeugen oder sie durch ihre vermeintliche Menschlichkeit tĂ€uschen mĂŒssen (ob es in dieser Variante des Turing’schen Imitationsspiels um Überzeugung oder TĂ€uschung ging, bleibt in der Schwebe). Die Zwillinge Viv und Vin, die sich abgesehen von ihren gegenderten Körpermerkmalen zum Verwechseln Ă€hnlich sehen, sind damit nicht nur variierte Kopien von Vision und Virginia, auf deren »brain waves« sie basieren. Sie sind auch WiedergĂ€nger und ein unheimliches Echo der zwei Kinder, die Scarlet Witch fĂŒr sich und Vision aus dem Nichts erschaffen hatte. Die Liste der Figurenarrangements, die in The Vision gedoppelt werden, ließe sich fast endlos fortsetzen: Da ist zum Beispiel auch Vision selbst, der auf den »brain patterns« des Superhelden Simon Williams alias Wonder Man basiert. Wonder Man seinerseits ersetzt Vision als Partner an Wandas Seite, wobei Wanda selbst darĂŒber reflektiert, dass Simon und sie als Paar vielleicht genau deshalb funktionieren, weil er Vision, aber doch nicht Vision ist (TV 7) – eine Vision mit geringfĂŒgiger Variation, eine Abwandlung der gleichen Schablone.

Die posthumane MultiplizitĂ€t von IdentitĂ€t wird allerdings in The Vision bis zu einem gewissen Grad doch auch wieder zurĂŒckgenommen. IdentitĂ€ten sind multipel und fraktal gebrochen, doch Virginia, an der sich dies am besten zeigen lĂ€sst, â€șstirbtâ€č am Ende der Geschichte; und durch den Tod Vins wird die Zweier- oder Viererkonstellation der Kinder und ihrer unheimlichen VorgĂ€nger zerstört. Das Motiv â€șTodâ€č scheint aus einer Ă€lteren, humanistischen ErzĂ€hlung importiert zu sein: FĂŒr Androiden, die einen gemeinsamen Server besitzen, auf den sie all ihre Daten laden können, sind die Visions erstaunlich leicht zu â€ștötenâ€č. Obwohl in The Vision streckenweise ein radikal posthumanes VerstĂ€ndnis von SubjektivitĂ€t vorherrscht, bleibt IdentitĂ€t doch in vielen Momenten an spezifische verkörperlichte Formen gebunden; sie ist nicht ewig und im Informationskosmos von aller Zeitlichkeit entbunden. Das â€șTrĂ€germediumâ€č, der technisierte Körper der Androiden, ist so zentral wie das TrĂ€germedium in der Informationswissenschaft:

»Information, like humanity, cannot exist apart from the embodiment that brings it into being as a material entity in the world; and embodiment is always instantiated, local, and specific. Embodiment can be destroyed, but it cannot be replicated. Once the specific form constituting it is gone, no amount of massaging data will bring it back« (Hayles, 49).

»His dangerous creations«. Frankenstein und das Fatum

Gleichzeitig irritieren diese TrĂ€germedien, sehen die Visions mit ihren leeren Augen und ihrer rötlichen â€șHautâ€č doch nicht ganz wie durchschnittliche Menschen aus. Diese visuelle Differenz wird symbolisch aufgeladen: Ein Panel, das auf Grant Woods GemĂ€lde American Gothic (1930) verweist (Abb. 3), zeigt Vision, der einen Ball des American-Football-Teams Washington Redskins in die Höhe hĂ€lt. Auf ihm befindet sich eine rassistische Karikatur eines amerikanischen Ureinwohners, ein Gesicht, das schon allein durch den identischen Farbton an Vision selbst erinnert (Abb. 4; vgl. dazu auch Sasha). 4 Die Betrachter_in wird dazu angeregt, Vision und die Karikatur miteinander in Verbindung zu bringen, als Teil â€șeiner Familieâ€č sozusagen. Die Androiden werden hier also aufgrund ihrer â€șHautfarbeâ€č zu â€șIndianernâ€č, einer marginalisierten Gruppe, oder genauer und medienĂ€sthetisch interessanter: zu Karikaturen von native Americans, entspricht das Gesicht auf dem Ball doch einem anderen zeichnerischen Code als der Stil des restlichen Comics – es ist eben als Karikatur gezeichnet, anders als der hier deutlich â€șrealistischerâ€č wirkende Rest des Bildes. Das Panel mobilisiert damit unterschiedliche stilistische Codes aus der Comic- und Cartoongeschichte, um die Betrachter_in zu einer Auseinandersetzung mit der ReprĂ€sentation unterschiedlicher Gruppen anzuregen. Auf medienspezifische Weise wird ein Blick inszeniert, der Lebewesen verflacht, verzerrt und ihrer Menschlichkeit beraubt, wird die Betrachter_in selbst zur Kompliz_in in diesem Spiel der Entmenschlichung, indem sie nicht umhin kann, Vision und die rassistische Karikatur miteinander zu vergleichen. Auch die Androiden werden als bedrohliche Karikaturen von Menschlichkeit wahrgenommen, wie das Zerrbild auf dem Ball mit seiner animalisch anmutenden Federkrone. Und gleichzeitig kann der Comic The Vision selbst so als verhĂ€ltnismĂ€ĂŸig realistische Darstellungsform erscheinen, trotz Androiden mit roter Haut und fĂŒr Superheldencomics durchaus konventionellen Stilmerkmalen, denn sein â€ștypischerâ€č Stil hebt sich ab von einem ebenfalls ins Bild gesetzten karikaturesk-verflachenden Stil.

Abb. 4: Ein technisiertes American Gothic (King/Walta/Bellaire, o. S.).

Abb. 3: Eine Ikone der amerikanischen Malerei.

Überspitzt ausgedrĂŒckt: In Sachen race ist die Zugehörigkeit der Visions zur MajoritĂ€tsgruppe der weißen US-Amerikaner also sehr fraglich. In Sachen sex/gender aber gehorcht das Ă€ußere Erscheinungsbild der Androiden genau gĂ€ngigen Vorstellungen. Die Androiden prĂ€sentieren sich als zweigeschlechtliche Wesen, ganz anders als Haraways Cyborgs in ihrer »post-gender world«. Virginias Körper zum Beispiel ist weiblich markiert, sie hat eine dem heutigen Geschmack entsprechend attraktive, schlanke Figur, trĂ€gt Schmuck, Röcke und Absatzschuhe. Dies ist wohl folgerichtig: Visions Ziel ist ja, mit seiner konstruierten Familie ein scheinbar â€șnormalesâ€č Leben zu fĂŒhren, also das Modell der bĂŒrgerlichen Kleinfamilie perfekt nachzubilden. Doch dieses Modell kollidiert auf mindestens zwei Ebenen mit dem narrativen Universum, in dem sich Vision befindet. Erstens sind Vision und die Seinen eben keine Menschen; und zweitens ist es eine GesetzmĂ€ĂŸigkeit des Genres, dass familiĂ€res GlĂŒck und Frieden intradiegetisch nicht lange wĂ€hren können und ohnehin kaum Plot von Superheld_innencomics sind, denn »angesichts der unbegreiflichen Drastik der immer wieder vor der Zerstörung stehenden Menschheit« kann nicht sinnvoll vom GlĂŒck oder auch »UnglĂŒck einer Vorstadtfamilie erzĂ€hl[t]« werden (Packard, 60) – obwohl The Vision natĂŒrlich genau davon kunstvoll erzĂ€hlt.

Konventionell-kĂ€mpferische Superheld_innenbilder werden an verschiedenen Stellen dem tristen Vorstadtalltag der Visions gegenĂŒbergestellt (Abb. 5), in einer Weise, die fĂŒr das Medium Comic spezifisch ist. Zwei ErzĂ€hlstrĂ€nge können hier problemlos nebeneinander ins Bild gesetzt und durch die visuelle Anordnung kontrastiert werden, und die jeweilige GrĂ¶ĂŸe der Panels erlaubt RĂŒckschlĂŒsse auf den Stellenwert des jeweils ErzĂ€hlten: Das Familienleben wird vom Superheldendasein sozusagen erdrĂŒckt und zur Seite gedrĂ€ngt, hat kaum Platz neben ihm.

Abb. 5: Superheld und Hausfrau (King/Walta/Bellaire, o. S.).

Vision freilich lĂ€sst sich von all diesen Widrigkeiten nicht aufhalten. »He would make his family«, steht in einer Caption, die die zunehmend verzweifelten Versuche beschreibt, ein idyllisches Vorstadtleben zu pflegen (TV 6). Doch diese Versuche sind zum Scheitern verurteilt, denn der postmodernen, posthumanen Geschichte ist ein archaisches Narrativ unterlegt: die Idee des Fatums oder des Schicksals, gegen das der Einzelne sich auflehnt. Eine Magierin sieht voraus, dass Vision alles tun wird, um seine Familie zu schĂŒtzen, selbst die Avengers und die Welt zerstören. Sollte diese magische Vision eintreten, die die technisierte Geschichte von The Vision im Untergrund antreibt, wĂŒrde sie den Superheld_innencomic wieder auf solideres, genretypischeres Terrain fĂŒhren, da Weltzerstörungen oder ihre Verhinderung ja zum Metier der Helden und Bösewichte gehören.

Und bald schon gerĂ€t die Familie in Gefahr: Der Bruder von Wonder Man greift Virginia und die Zwillinge an, da er sie als Perversion (s)einer Familie erachtet: »YOU ARE NOT REAL!« (TV 1), brĂŒllt er – in der intradiegetischen Chronologie eine Wiederaufnahme des Ausrufs, den Wanda im Comic erst in einer spĂ€teren RĂŒckblende tun wird. Virginia verliert die Kontrolle und tötet den Angreifer. Die Leiche verscharrt sie im Garten, da sie die gutbĂŒrgerliche Fassade aufrechterhalten will. Ein Erpressungsversuch durch einen Nachbarn, der Virginia beobachtet, fĂŒhrt zu weiteren Toden, die wiederum zuerst geheim bleiben. Aufgeschreckt durch die Warnung der Magierin, aber ohne Kenntnis der TotschlĂ€ge, schickt die superheldische Gemeinschaft Victor Mancha, Visions â€șBruderâ€č und eine weitere Schöpfung Ultrons, um die Situation zu beobachten. Victor, selbst Teil der androidischen Vi-Varationsreihe, tötet aus Versehen Vin Vision, als er beim Spionieren erwischt wird. Vor den TrĂŒmmern seiner Familie stehend, scheint Vision tatsĂ€chlich zu allem bereit. In gut griechischer Manier sind es zuletzt die Handlungen, die die Superheld_innen unternehmen, um das UnglĂŒck abzuwenden, die den Schicksalsspruch fast in ErfĂŒllung gehen lassen.

Die Idee einer immer schon geschriebenen Zukunft scheint in krassem Gegensatz zu stehen zum futuristischen Gehalt des Narrativs. Verschiedene Positionen des technologisch interessierten Feminismus betonen gerade die Freiheit, die einer technisierten Gegenwart und Zukunft inhĂ€rent ist; hybride Wesen, die nicht durch â€șnatĂŒrlicheâ€č Architekturen eingeschrĂ€nkt sind, schreiben ihr eigenes Schicksal (vgl. Cuboniks). Die magischen FĂ€higkeiten einer weiblichen Figur, die durchaus stereotyp als Kontrastfigur zu Vision selbst fungiert, fĂŒhren in The Vision eine Form des Determinismus in die ErzĂ€hlung ein. Doch das Fatum behĂ€lt nur teilweise recht: Es ist Virginia, von der das prophezeite UnglĂŒck nicht nur ausgeht, sondern die es zuletzt doch wieder abwendet, indem sie einen Mord begeht, den sonst ihr Ehemann begangen hĂ€tte, die Schuld fĂŒr alle Handlungen Visions auf sich nimmt und Suizid begeht. Ein Funken Freiheit liegt in der Figur des â€șweiblichenâ€č Cyborg.

Fatum und Cyborg – an der Gleichzeitigkeit ganz unterschiedlicher narrativer Strukturen kristallisiert sich die Ambivalenz der Versuchsanordnung, die in The Vision durchagiert wird. Denn The Vision bringt Ă€ußerst moderne, oder besser: postmoderne Narrative ĂŒber Cyborgs und die postbiologische Welt, Haraways Cyborg-Mythos, zusammen mit einem weiteren Ă€lteren Mythos, Mary Shelleys Frankenstein; or, The Modern Prometheus (1818). In der Frankenstein-ErzĂ€hlung manifestiert sich die Angst vor einer Wissenschaft, die es MĂ€nnern möglich macht, Leben zu schaffen, ohne dem biologischen Dispositiv unterworfen zu sein. Die Geschichte ist eine mĂ€nnliche GebĂ€rfantasie, ein Mythos der Fortpflanzung ohne Frau mit schlechtem Ende: Die â€șKreaturâ€č wendet sich gegen den »illegitimate« Vater Victor Frankenstein. Im VerstĂ€ndnis eines kybernetisch interessierten Feminismus wĂ€re eine Fusion von Frankenstein- und Cyborgmythos zuerst einmal absurd. So schreibt Haraway: »Unlike the hopes of Frankenstein’s monster, the cyborg does not expect its father to save it through a restoration of the garden; that is, through the fabrication of a heterosexual mate, through its completion in a finished whole, a city and cosmos« (ACM, 151). Haraways utopischer Cyborg ist keine Schöpfung eines verrĂŒckten Wissenschaftlers, die selbst danach strebt, ein heteronormatives Familienmodell zu emulieren; er ist das pure Gegenteil der â€șKreaturâ€č. Cyborgs besitzen bei Haraway das Potenzial, den »masculinist reproductive dream« (ACM, 152) zu karikieren und pervertieren, da sie eben untreue Kinder ihrer Schöpfer sein können. Je â€șmenschlicherâ€č und freier Maschinen werden, desto weniger sind sie bei Haraway eine simple mĂ€nnliche GebĂ€rfantasie, desto weniger streben sie danach, heteronormative FamilienverhĂ€ltnisse zu reproduzieren. Anders in The Vision: Vision kann seinen »masculinist reproductive dream« ungehemmt trĂ€umen, gerade weil die Grenze zwischen Mensch und Maschine so durchlĂ€ssig geworden ist.

Im Comic gibt es mehr als eine Frankenstein-Figur und damit auch mehrere â€șKreaturenâ€č. Einerseits ist Vision selbst das widerspenstige Monster, das der Roboter/Android/Cyborg (die genaue Identifizierung ist unklar) und Superbösewicht Ultron sich zum Sklaven schuf. Andererseits aber ist Vision der Frankenstein, der sich in Virginia und den Kindern seine eigenen »dangerous creations« (TV 11) konstruierte, Kreationen, die ihn zuletzt fast dazu bringen, die Welt zu zerstören. Visions Stilisierung zum Frankenstein wird dort ĂŒberdeutlich, wo er munter sĂ€gend eine neue Cyborg-Kreatur schafft: Aus dem Hund der Nachbarn wird der Roboter mit Hundehirn, den er seiner Familie schenkt (Abb. 6, 7).

Abb. 6, 7: Vision als Frankenstein (King/Walta/Bellaire, o. S.).

Und noch eine dritte Frankenstein-Konfiguration spielt in The Vision eine Rolle. Victor Mancha, Namensvetter des Wissenschaftlers Victor Frankenstein und zuletzt der unfreiwillige Antagonist der Serie, der versehentlich Vin Vision tötet, ist Resultat einer â€șillegitimenâ€č, unnatĂŒrlichen Reproduktion, ist selbst eine Frankenstein-â€șKreaturâ€č: »Ms. Mancha confided to Ultron’s head that she was physically unable to have children. She was also unable to adopt children due to her criminal record« (TV 8; Abb. 11). Ultron bietet ihr einen Deal an; sie hilft ihm, sich einen neuen Körper zu bauen, dafĂŒr hilft er ihr, einen kĂŒnstlichen Sohn zu erschaffen. (Eine vierte Frankenstein-Konfiguration hat auf der TextoberflĂ€che keine Spuren hinterlassen, ist nicht ins linguistische und visuelle Material von The Vision eingegangen; sie kann nur von einer mit den weiteren narrativen Kontexten des Marvel-Universums vertrauten Leser_in mitgedacht werden. Ultron selbst ist das Monster, das der Frankenstein-Wissenschaftler Hank Pym erschuf) Somit sind in The Vision und im Marvel-Universum multiple Zweierkonstellationen ineinander gefaltet und gespiegelt, die dem bei Shelley angelegten template gehorchen.

Vision, zugleich Frankenstein und Frankenstein-Monster, erschafft sich eine Partnerin oder â€șKreaturâ€č, wĂ€hrend in der literarischen Vorlage nur der mĂ€nnlich-menschliche Schöpfer diese Macht hat. Ein traditionelles Muster wird so gleichzeitig reproduziert und subvertiert: Wie Pygmalion erschafft Vision sich eine Traumfrau; doch sein eigener Status als Subjekt ist nicht gesichert, da er selbst das Objekt einer weiteren mĂ€nnlichen â€șGebĂ€rfantasieâ€č ist. Man könnte nun versuchen, Visions â€șVater-â€č und Virginias â€șMutterschaftâ€č insofern als subversiv oder queer zu verstehen, als durch sie das Primat der biologischen Reproduktion in Frage gestellt wird, Ă€hnlich wie in Haraways Manifesto. Virginia ist visuell und narrativ als â€șFrauâ€č, sogar als Hausfrau (»Virginia had yet to decide what she would do for a career«; TV 1) und â€șMutterâ€č markiert. Doch eigentlich ist sie weder Frau noch Mutter. Ihr Frau- und Muttersein kann sich nicht auf das biologische Paradigma der ZeugungsfĂ€higkeit stĂŒtzen, das bis in die Gegenwart immer wieder mobilisiert wird, wenn die Grenzen zwischen den Geschlechtern zur Disposition stehen, und zwar auch in von Haraway kritisierten Teilen des second-wave feminism mit seiner Insistenz auf einer biologischen Differenz, ungeachtet der Tatsache, dass natĂŒrlich nicht alle Frauen Kinder kriegen können. Man könnte nun vermuten, dass Virginias Muttersein in ein religiös-christliches Paradigma eingeschrieben wird, empfĂ€ngt sie doch sozusagen von â€șSchöpferâ€č-Vision unbefleckt Kinder. Doch auch dies wird insofern unterlaufen, als sich eine erotische Szene im Comic findet, der nicht weniger als drei Seiten gewidmet werden und in der explizit Virginia der aktive, begehrende Part ist (vgl. TV 3). Virginia ist kein traditionell konstruiertes weibliches Objekt, auch keine unberĂŒhrt-unschuldige Maria-WiedergĂ€ngerin – als Cyborg steht sie jenseits von simplen und gewaltvollen Binarismen, von Natur und Kultur oder Technik, von Mann und Frau, sofern diese Unterscheidung im Sinne einer biologischen Potenz gedacht wird. Sie kann Mutter werden, ohne im biologischen Sinn Frau zu sein.

Doch ansonsten ist in The Vision von queerness, erst recht von queerness im Sinne von als solchen markierten non-(hetero)normativen SexualitĂ€ts- und FamilienentwĂŒrfen, weit und breit nichts zu sehen. Frankenstein-Vision konstruiert und reproduziert ungeniert klassische Geschlechternormen. Schon nur der Wunsch nach Kindern als Zeichen von â€șNormalitĂ€tâ€č passt dazu: Zahlreiche queere und feministische Positionen haben die Rolle des Kindes als ProjektionsflĂ€che fĂŒr einen heterosexuell und biologisch gegrĂŒndeten Futurismus hinterfragt, etwa Edelman (2004) oder die Proponent_innen des sogenannten Xenofeminism (vgl. Hester 2015, 33-69), der deutlich durch Haraway inspiriert ist. Ein solches VerstĂ€ndnis der Zukunft ist insofern konservativ gefĂ€rbt, als das Primat biologisch fundierter (Klein-)FamilienverhĂ€ltnisse unangetastet bleibt. Der Patriarch Vision gibt seinen Schöpfungen Namen und agiert sogar eine Form der bĂŒrgerlichen Arbeitsteilung durch; er darf in der öffentlichen SphĂ€re Held sein, wĂ€hrend seine Frau die Kinder betreut und zu Hause auf ihn wartet (vgl. Abb. 5). Das Begehren der Androiden ist heterosexuell strukturiert, insofern ein Android, der MĂ€nnlichkeit performt, sich eine â€șEhefrauâ€č schafft – und die â€șTochterâ€č Viv sich zu einem Schulkameraden hingezogen fĂŒhlt. Die otherness oder, wenn man so will, eben queerness, die den Visions als synthetischen, denkfĂ€higen und fĂŒhlenden Wesen immer schon anhaftet, wird dadurch unterlaufen. Vision fĂŒhlt sich unter den Menschen nicht zu Hause; doch er sucht keine neue, alternative Gemeinschaft (in Haraways Begriffen sucht er nicht nach â€șkinâ€č statt â€șfamilyâ€č). Er strebt nicht danach, die Vorstellungen dessen, was normal ist, durch seine Lebensweise zu erweitern. Stattdessen lebt Vision eine sinnentleerte Form von NormalitĂ€t als gegenderte Performance.

Replizieren statt rebellieren

Das »imitation game«, das kybernetische Maschinen spielen, kann laut Haraway verstören: »Late twentieth-century machines have made thoroughly ambiguous the difference between natural and artificial, mind and body, self-developing and externally designed, and many other distinctions that used to apply to organisms and machines. Our machines are disturbingly lively, and we ourselves frighteningly inert« (ACM, 152). Genau hier liegt das Problem, das in The Vision auf die Spitze getrieben wird. Wenn »disturbingly lively« bedeutet, dass die Maschinen immer menschenĂ€hnlicher werden, so ist die logische Folgerung daraus, dass eben auch sie mit der Zeit trĂ€ge werden. Und wie »frighteningly inert« Visions Vorstellung von NormalitĂ€t ist, wird deutlich, wenn er Virginia seinen Lebensentwurf prĂ€sentiert: »They could marry. They could have a house. They could have children. They could be part of a happy, normal family« (TV 10). Visions Vorstellung von â€șNormalitĂ€tâ€č ist weder in punkto class noch race noch gender neutral, geschweige denn aufrĂŒhrerisch. Er trĂ€umt den Traum des weißen, mittelstĂ€ndischen, heterosexuellen Amerikaners.

Dies ist nun Haraways utopischen Cyborg-Hoffnungen diametral entgegengesetzt. Haraways Cyborg trĂ€umt nicht »of community on the model of the organic family« (ACM, 151). Das revolutionĂ€re Potenzial des Cyborgs liegt fĂŒr sie darin, dass er »no longer structured by the polarity of public and private« sei; damit stehe der Cyborg fĂŒr »a technological polis based partly on a revolution of social relations in the oikos, the household« (ACM, 151). Aber Visions »household« ist eben gerade nicht revolutionĂ€r – anstatt auf dem Prinzip der technischen Replikation zwar zu basieren, dieses aber in eine soziale Transformation umzumĂŒnzen, wie sie sich Haraway erhoffte, fußt er auf der Imitation, des Replikats auch gesellschaftlicher Normen.

Repetition ist nun nicht nur das Prinzip, dem Visions FamiliengrĂŒndung gehorcht, und sie ist der ErzĂ€hlung nicht nur durch die zahlreichen Kopien, Spiegelungen und WiedergĂ€nger_innen eingeschrieben, die sie bevölkern. Sie ist auch das Verfahren, das The Vision auf der formalen Ebene bestimmt. Die letzte Seite von The Vision, mit dem zweideutigen Titel »Spring« versehen – FrĂŒhling und Sprungfeder −, zeigt den Superhelden bei der Arbeit. Munter baut er entweder eine neue Ehefrau oder versucht, Virginia zu reparieren; das lĂ€sst sich aus den Bildern nicht endgĂŒltig ersehen. In jedem Fall wiederholt die Seite eine Szene, wie sie sich vor Beginn von The Vision zugetragen haben muss: Vision schickt sich an, kĂŒnstliches Leben zu erschaffen; der Kreislauf schließt sich. Und dabei singt er ein Kinderlied: »Row. Row. Row your boat. Gently down the stream. Merrily. Merrily. Merrily. Merrily. Life is but a dream.« (TV 10; Abb. 8)

Abb. 8: Der singende Schöpfer (King/Walta/Bellaire, o. S.).

Die Wiederholungsstruktur dieses Lieds hatte schon Virginia Trost gespendet, als ihre eigene Psyche immer labiler und die NormalitĂ€t der Visions immer fadenscheiniger wurde. Manisch singt sie an verschiedenen Stellen das Lied, das durch seine repetierten Wörter einen Tick zu verdecken mag, den Virginia entwickelt hat: Sie wiederholt Worte und Wortfetzen, bleibt im â€șnormalenâ€č Kommunikationsfluss stecken. Am Familientisch will sie den Kindern versichern, dass alles in Ordnung ist, als die Situation schon lĂ€ngst begonnen hat, zu eskalieren: »Do not worry. Everything is normal. [
] You will tell me tell − − tell me tell me about your day’s activities. We
 We
 W-We will continue our discussion our discussion our discussion our discussion
 Discussion
 Discussion
 Discussion « Doch dann zerbricht der Schein der NormalitĂ€t endgĂŒltig: »Everything is normal!«, ruft Virginia, wĂ€hrend sie mit einem einzigen Faustschlag den hölzernen Familientisch zerschlĂ€gt und die Disussionsrunde damit gewaltsam auflöst (Abb. 9).

Leise spricht sie zu sich selbst: »I do not know how to fix fix fix fix « (TV 5). Virginias EmotionalitĂ€t Ă€ußert sich durch Repetition, durch die Produktion von Redudanzen. Gleiches gilt fĂŒr ihre Tochter Viv; als sie in einer Attacke schwer beschĂ€digt wird, wiederholt sie endlos das Wort »mother« (TV 1). Und auch die Szene mit dem zerbrochenen Tisch wird mit minimaler Variation spĂ€ter im Comic repetiert. Virginia beichtet Viv, dass bei ihrem Versuch, ihre Familie zu schĂŒtzen, ein Junge umkam, fĂŒr den Viv anscheinend GefĂŒhle hegte. Dieses Mal zerbricht die Tochter, außer sich vor Wut und Trauer, den Tisch mit einem einzigen Fausthieb, die Tochter, die ja auch in visueller Hinsicht fast eine Spiegelung der Mutter ist und hier zusĂ€tzlich Ă€hnlich farbige Kleider trĂ€gt wie zuvor ihre Mutter (TV 10; Abb. 10). Das ganze Panel spiegelt die frĂŒhere Szene, nicht nur, was die Aufteilung der Comicseite, sondern auch, was die Körperstellungen der Figuren anbelangt, bis hin zur Geste, mit der Viv und Virginia ihre Gesichter schĂŒtzen. Auf medienspezifische Weise wird hier die Wiederholungsstruktur ins Bild gesetzt, die die ganze ErzĂ€hlung von The Vision untergrĂŒndig prĂ€gt.

Abb. 9, 10: Die Tochter spiegelt die Mutter (King/Walta/Bellaire, o. S.).

Wie Stephan Packard gezeigt hat, folgt The Vision einer Logik der SelbstreflexivitĂ€t (Packard), die sich auch durch formale Wiederholungsstrukturen Ă€ußert. In einer Szene beruft sich Vision gegenĂŒber einem Polizisten darauf, 37 Mal die Welt gerettet zu haben (TV 5), wobei zwischen den aktuellen ErzĂ€hlstrang jeweils Panels dieser Weltrettungen eingeschoben sind. Es liegt eine »Verdoppelung der ErzĂ€hlung in Extra- und Intradiegese« (Packard, 59) vor, da Vision selbst die Gelegenheiten zĂ€hlt, die ErzĂ€hlinstanz aber ebenfalls zĂ€hlt; in den Panels finden sich lilafarbene TextkĂ€sten, die die Weltrettungen nennen und numerieren. Dadurch werden sie Teil einer Reihe von Wiederholungen, wie sie fĂŒrs Superheldengenre typisch sind: Die Welt wird eben immer wieder auf Ă€hnliche Weise bedroht und gerettet, von den immer gleichen Bösewichten und Helden. An anderer Stelle heißt es: »Ultron attacked the Avengers for the fifth or perhaps sixth time. He was subsequently defeated for the fifth or perhaps sixth time« (TV 8; Abb. 11). Die ErzĂ€hlinstanz selbst ist sich zwar nicht sicher, wie oft Ultron genau besiegt wurde, doch sie zĂ€hlt auch hier mit und wiederholt dadurch das Geschehen, das im Panel gezeigt wird. Eine andere Seite zeigt Victor Mancha, der in mehreren RĂŒckblenden von verschiedenen Gegnern FaustschlĂ€ge erhĂ€lt, gefangen in einer Kette konturloser KĂ€mpfe: »He fought. And fought. And fought« (TV 9; Abb. 12). Die KĂ€mpfe gegen den Superschurken sind austauschbar geworden – immer greift Ultron an, immer wird er besiegt. ErzĂ€hlinstanz und Vision mögen zwar manchmal zĂ€hlen, wie oft genau gekĂ€mpft wurde, doch angesichts der endlosen Reihe an Wiederholungen, an quasi identischen Vorkommnissen verliert der Einzelfall an Bedeutung. Solche Wiederholungen können als medial inszenierter Metakommentar ĂŒber ein Genre gelesen werden, das von der Repetition immer Ă€hnlicher KĂ€mpfe lebt.

Abb. 11: Die ErzÀhlinstanz zÀhlt mit (King/Walta/Bellaire, o. S.).

Abb. 12: Repetitive KĂ€mpfe (King/Walta/Bellaire, o. S.).

Als Metakommentar lĂ€sst sich auch ein Panel (Abb. 13) aus dem letzten Heft von The Vision lesen, das selbst die splash page der ersten Folge des Comics wieder aufnimmt (vgl. Abb. 1). Vision steht vor seiner HaustĂŒr – diese ist so hell erleuchtet, dass kein Inneres sichtbar wird. Hinter dieser TĂŒr befand sich ja seine eigene Familie, sein Versuch, ein Leben jenseits der Superheldenexistenz aufzubauen. Und nun ist hier nur Leere, dargestellt durch das reine Weiß der Comicseite. Die TĂŒr ist mit 616 beschriftet, Visions Hausnummer – und die Nummer, die das regulĂ€re Marvel-Comic-Universum in der innerfiktionalen und von Fans ĂŒbernommenen Nomenklatur erhalten hat. Die ErzĂ€hlung aus The Vision brachte Vision in einen Bereich jenseits der â€ștypischenâ€č Marvel-Superheldengeschichte. Sie thematisierte den Wunsch, â€șnormalâ€č zu sein, ein kleinbĂŒrgerliches Leben in einer Vorstadt zu pflegen. Die leere, erleuchtete 616-TĂŒr gleicht auch einem Comic-Panel: Nach der Zerstörung seiner Kleinfamilie muss Vision sich zurĂŒck in den Bereich der 616-Comics begeben, muss wieder in die Welt der traditionellen Superheldencomics treten.

Abb. 13: Die RĂŒckkehr ins Panel (King/Walta/Bellaire, o. S.).

Cyborg oder Frankenstein?

In The Vision wird ein raffiniertes Spiel mit Verdoppelungen, WiedergĂ€nger_innen und Spiegelungen getrieben; die IdentitĂ€t der Androiden ist multipel, heterogen und kollektiv. Von der sozialen Revolution, die der solche IdentitĂ€tsentwĂŒrfe reprĂ€sentierende Cyborg bei Haraway versprach, scheint allerdings nicht viel ĂŒbrig geblieben zu sein. Haraways Cyborgs spielen kein »imitation game«, es geht ihnen nicht darum, einen Außenstehenden ĂŒber ihr Geschlecht zu tĂ€uschen oder von ihrer GeschlechtsidentitĂ€t zu ĂŒberzeugen, da Geschlecht und Anpassung an die vermeintliche â€șNormalitĂ€tâ€č fĂŒr sie keine Bedeutung haben. Ganz anders in The Vision: Repetition und Imitation sind die Prinzipien, die den Comic nicht nur auf der formalen, sondern auch der inhaltlichen Ebene bestimmen. Vision erstellt Kopien – eine Kopie seiner Ex-Frau dient als Vorlage von Virginia, die Kinder wiederum sind eigentlich Kopien von Kopien, eine Mischung aus Virginias und Visions »brain patterns«, wobei letztere wiederum auf dem Superhelden Wonder Man basieren. Und diese Kopien bemĂŒhen sich leidlich, im gesellschaftlichen Imitationsspiel zu bestehen.

Repetition oder Imitation ist auch das Verfahren, das The Vision in formalĂ€sthetischer Hinsicht prĂ€gt. Das Prinzip der zitierenden Wiederholung ist Comics als Medium eingeschrieben: Sie stellen BezĂŒge durch Wiederaufnahme und Variierung von Elementen her. The Vision strotzt nur so vor Zitaten und Verdoppelungen und illustriert so auch, wie der Textkörper in die Prozesse verwickelt wird, die benutzt werden, um im Text selbst Körper zu reprĂ€sentieren und Körperlichkeit zu erzĂ€hlen; eine Körperlichkeit, die durch das technische Replikat bestimmt ist und in der Einzelne immer nur als quasi maschinell konstruierte, leicht variierte Elemente in einer Reihe gedacht werden können. Gleiches gilt fĂŒr die Handlungen der Figuren, die eben nicht als einzelne, individuelle Handlungen erscheinen, sondern oftmals in Ă€hnlich strukturierten Panels durch andere Figuren wiederholt oder gespiegelt werden (vgl. Abb. 9, 10). The Vision kann so durch comicspezifische Verfahren das Prinzip ins Bild setzen, das die ErzĂ€hlung im Untergrund antreibt: Repetition, Wiederholung des bereits Dagewesenen, nicht nur als explizites Ziel des Superhelden, der eine weiße, vorstĂ€dtische Familienidylle fĂŒr sich â€șwiederholenâ€č will, sondern auch als Wiederkehr der Vergangenheit − sind doch fast alle Figuren auch WiedergĂ€nger_innen und Echos aus der Geschichte der Marvel-Comics, auf die sich The Vision vielfach und kunstvoll bezieht.

Cyborgnarrative sind alle auf einer Skala von Frankenstein/â€șKreaturâ€č zu Haraways Cyborg anzusiedeln. Sie leben vom Muster der Repetition oder vom »imitation game« – von heteronormativen FamilienverhĂ€ltnissen, von mĂ€nnlicher Potenz − oder sie behandeln die Möglichkeit der Revolution. Im wohl hĂ€ufigsten Fall, der auch in The Vision eintritt, sie sind irgendwo dazwischen zu verorten. Ein Fragenkatalog, der es erlaubt, das Potenzial von Cyborgnarrativen auf einer Skala von repetitiv zu revolutionĂ€r zu verorten, könnte ungefĂ€hr so aussehen:

  • 1. Gibt es eine mĂ€nnliche oder mĂ€nnlich kodierte Schöpferfigur?
  • 2. Ist das VerhĂ€ltnis zwischen dem Erschaffer des Cyborgs oder Androiden als Vater­ â€“ Kind-VerhĂ€ltnis konzipiert?
  • 3. PrĂ€sentieren sich die Cyborgs oder Androiden als zweigeschlechtliche Wesen – als Mann und Frau?
  • 4. Ist ihr Liebesleben heteronormativ organisiert und ihr Begehren heterosexuell kodiert?
  • 5. Streben die Cyborgs oder Androiden danach, selbst Eltern-Kind-VerhĂ€ltnisse zu reproduzieren, trachten sie also nach der GrĂŒndung einer (Klein-)Familie?
  • 6. Streben die Cyborgs oder Androiden allgemein nach dem, was zu einer gegebenen Zeit an einem gegebenen Ort als â€șnormalâ€č und unmarkiert gilt?

Je mehr Fragen im Bezug auf eine konkrete Cyborg-Geschichte affirmativ beantwortet werden können, desto eher ist sie in die NĂ€he eines Frankenstein-Narrativs zu rĂŒcken. Wendet man diesen Fragenkatalog auf Erzeugnisse der heutigen PopulĂ€rkultur an, finden sich zahlreiche Beispiele solcher ErzĂ€hlungen: Die â€șTraumfabrikâ€č Hollywood produziert Cyborgfilm auf Cyborgfilm, und sehr viele sind eher Frankenstein- als A Cyborg Manifesto-WiedergĂ€nger. Zum Beispiel Blade Runner 2049 (2017) oder Alita: Battle Angel (2019) – beide auf der Basis von Vorlagen entstanden, in denen die Dinge komplizierter stehen – zeichnen sich trotz futuristischer Staffage nicht durch radikale Visionen einer ganz anderen, post- oder parahumanen Gesellschaft aus, da sie kĂŒnstliche Menschen zum Beispiel an die FĂ€higkeit der biologischen Fortpflanzung binden oder da sie Liebesbeziehungen in ihr Zentrum stellen, die heterosexuell kodiert sind respektive sich als heterosexuell prĂ€sentieren. Vielleicht haben Cyborgs heute einen Teil ihres revolutionĂ€ren Potenzials im Sinne des sozialistischen Feminismus der Achtziger eingebĂŒĂŸt, da sie lĂ€ngst in den Mainstream eingegangen sind. Als Haraway ĂŒber ihn/sie/es schrieb, war der Cyborg als Metapher, diskursive Formation und Objekt in der Welt noch nicht festgeschrieben – entsprechend groß war sein Interpretationspotenzial.

Man muss es nun nicht unbedingt bedauern, wenn sich heute in Filmen, Comics und BĂŒchern viele â€șFrankensteinâ€č-Cyborgs finden. Die Narrative, die fast vollstĂ€ndig dem Muster der Repetition gehorchen, sind oft untergrĂŒndig durch ein etwas anders gelagertes Interesse angetrieben: Es geht in ihnen nicht zwingend um das Entwerfen einer ganz anderen Lebensform, die anderen Regeln gehorcht und andere Ideale verfolgt als die jeweils zeitgenössischen Menschen (oder besser: eine bestimmte Untergruppe derselben). Die Cyborgs sind hier oft Figurationen des Menschlichen, sie sind Karikaturen dessen, was wir zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Kultur als normal wahrnehmen. Dies gilt auch fĂŒr The Vision: Die Visions fĂŒhren unsere â€șNormalitĂ€tâ€č − was hier immer auch heißen will: die Normen einer bestimmten weißen Mittelschicht in den USA der Gegenwart oder jĂŒngeren Vergangenheit − als eine konstruierte vor, anstatt nach Alternativen zu ihr zu suchen. Und genau hier liegt vielleicht doch wieder eine tiefe Erkenntnis ĂŒber technische Utopien und Dystopien, wie sie heute kaum aktueller sein könnte. Wenn, wie Haraway schreibt, unsere Maschinen immer menschenĂ€hnlicher werden, so werfen sie uns zuletzt immer nur unser eigenes Spiegelbild zurĂŒck – auch dort, wo es um die cutting-edge-Forschung zur kĂŒnstlichen Intelligenz geht. Besonders vielversprechend scheinen momentan Bots, die durch neue Daten â€șlernenâ€č können, also ihre Struktur aufgrund von â€șErfahrungenâ€č verĂ€ndern. WĂ€hrend die einzelnen Hefte von The Vision erschienen, schaltete Microsoft im MĂ€rz 2016 den Chatbot Tay auf, vermarket als »The AI with zero chill« (vgl. https://twitter.com/tayandyou; Horton). Es dauerte weniger als 24 Stunden, bis er/sie/es so viel von den Menschen gelernt hatte, mit der er/sie/es interagierte, dass er/sie/es plötzlich Hitler lobte und Feminist_innen verfluchte (vgl. Vincent). Trolls und Provokateure hatten Tay ganz bestimmte Dinge beigebracht – ein Ă€ußerst erfolgreiches »imitation game« also, in dem die menschlichen Produzent_innen von hate speech nicht mehr von der technischen EntitĂ€t zu unterscheiden waren. WĂ€re es das Ziel und der Versuchsaufbau entsprechend gestaltet gewesen, hĂ€tte Tay den Turing-Test vielleicht bestehen können, doch auf eine Art und Weise, die optimistische »Visions of the Future« prekĂ€r erscheinen lĂ€sst. So jedenfalls hatten sich die femistisch-sozialistischen RevolutionĂ€r_innen der Achtziger mit ihren TrĂ€umen der alternativen Gesellschaft die Zukunft intelligenter Maschinen nicht vorgestellt.

 

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Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: King/Walta/Bellaire, o. S.
  • Abb. 2: King/Walta/Bellaire, o. S.
  • Abb. 3: Grant Wood, American Gothic. In: Wikimedia. <https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/7/71/Grant_DeVolson_Wood_-_American_Gothic.jpg>. Zugriff 10. November 2019.
  • Abb. 4: King/Walta/Bellaire, o. S.
  • Abb. 5: King/Walta/Bellaire, o. S.
  • Abb. 6: King/Walta/Bellaire, o. S.
  • Abb. 7: King/Walta/Bellaire, o. S.
  • Abb. 8: King/Walta/Bellaire, o. S.
  • Abb. 9: King/Walta/Bellaire, o. S.
  • Abb. 10: King/Walta/Bellaire, o. S.
  • Abb. 11: King/Walta/Bellaire, o. S.
  • Abb. 12: King/Walta/Bellaire, o. S.
  • Abb. 13: King/Walta/Bellaire, o. S.