Im Wald der Leichen und Lüste
Ein Drama unter Jägern

Eins führt zum anderen. Ein illustrierter Teufelskreis rezensiert von Susanne Schwertfeger

Es war einmal ein unfassbar unbegabter Jäger mit angelndem Über-Vater, triebhaftem Erzfeind und streitlustiger Ehefrau, der lebte in einem dunklen Wald. Dort regnete es in einem fort, und die herumliegenden Kadaver philosophierten miteinander um die Wette. Der Jäger war so unbeholfen mit der Büchse, dass nicht einmal die Wildschweine Respekt vor ihm hatten und sich stattdessen im Hochsitz mit seinem Schnaps betranken.

So fangen wahrlich keine Märchen oder Göttergeschichten an – aber wieso sollte es Sagengestalten eigentlich besser ergehen als uns Normalos? Der einarmige, riesenhafte Orion des Schweizer Comic-Künstlers und Illustrators Andy Fischli ist durch und durch Gegenentwurf zum sagenhaften Jäger und Frauenliebling, von dem uns beispielsweise Ovid in seinen Fasten berichtet und der als Sternenbild unseren Winterhimmel dominiert. Passend dazu präsentiert sich die Story hier auch nicht in knalliger Superhelden-Ästhetik auf Hochglanzseiten und im Heftchenformat, sondern als Hardcover mit griffigem Papier und in fast monochromer Farbpalette. Erschienen ist Eins führt zum anderen im kleinen Züricher Pica Verlag, in dem ebenfalls die andern Comics von Fischli beheimatet sind und der sich dezidiert als Alternative zum Mainstream-Einerlei versteht.

Unverstanden und frustriert stapft unser Orion also durch die Geschichte, mit einer mehr schlecht als recht an seine Schulter gepinnten dünnen Prothese, die doch stark an das Kindergeburtstagsspiel erinnert, bei dem mit verbundenen Augen ein Papierschwanz an einen Eselshintern geheftet werden soll. Als ebensolche ›Lachnummer‹ wird Orion hier inszeniert: Er hat keine Chance, den erniedrigenden Bemerkungen seines zänkischen Weibes Side oder denen des schmierigen Aktaion, dem im Gegensatz zu ihm sehr erfolgreichen Schützen in schnieker Kluft, zu entkommen. Selbst wenn er allein im Hochstand sitzt oder nachts schlaflos an die Decke seiner bescheidenen Holzhütte starrt, nehmen die Beleidigungen kein Ende, denn da sind noch die Stimmen in seinem Kopf, ein Echo der Herabwürdigungen und des Selbsthasses, der bereits durch seinen Vater Poseidon gesät wurde. Dieser disqualifizierte seinerzeit schon die weidmännischen Ambitionen seines Sprösslings als albern und wollte ihn unbedingt zum Angler heranziehen – immerhin »Fisch ist gesund«. Das wird auch Side nicht müde zu wiederholen und geht ihrem Gatten damit gehörig auf den Zeiger. Kein Wunder also (?), dass Orion irgendwann durchdreht und sich brutal an allen rächt, die ihm dumm kommen.

Von wegen ›Stille des Waldes‹…

Herrlich düster, rau und zynisch präsentiert Fischli die Sagengestalten, die in ihrer derben Erscheinung – dank baumelnder behaarter Genitalien und unproportionierter Statur – allesamt weit entfernt sind vom antikischen Ideal. Dies wird noch unterstrichen durch den betont skizzenhaften grafischen Stil, dessen kurzen Striche ebenso unbearbeitet und ungeschliffen wirken. Orion, Side & Co. leben in einer Welt der undurchdringbaren blaugrauen Tristesse, in die man bereits direkt mit dem Motiv des Covers einsteigt. Sie darf ihre Ungastlichkeit ohne Panelgrenzen und über etliche Doppelseiten, oftmals ungestört vom Figurenpersonal, in kräftigen Konturen entfalten. Jedes kleine Szenendetail macht bitterböse Spaß: ob nun die Figuren, ihre Sprache (»Halali, blödes Arschloch«) oder die Typografie, die mal wie Ritzungen in den Stämmen, mal wie kindliche Schreibschrift daherkommt. Sie visualisiert das blutrünstige Geifern der Jagdhunde in expressiv gezackten Sprechblasen oder schlängelt Orion auf seinem Weg durch den Wald wie eine Nebelspur hinterher.

So entwickelt sich eine extrem atmosphärische Bühne, auf der die mythologisch inspirierte Tragödie ihren Lauf nimmt. Ebenfalls in Anlehnung an das klassische griechische Drama gibt es einen Chor, der die Handlung kommentiert: Die ausgeweideten menschlichen Überreste derjenigen, die den Pfeilen der göttlichen Jägerin Artemis zum Opfer gefallen sind, sowie putzig-sinistere Phantasiewesen führen die aufreibenden Streitereien zwischen Orion und Side ausführlich untereinander fort – oder widmen sich ihren eignen existenzialistischen Krisen.

Zum Glück ist Eins führt zum anderen keine wortgetreue Adaption einer der vielen mythischen Orion-(Origin-)Stories, sondern folgt einer eigenen Dynamik und vermengt unterschiedliche Sagen: Dem grobschlächtigen und glücklosen Orion steht in einem eigenen Erzählstrang ein gelackter Aktaion gegenüber, der sich trotz Ehefrau (Semele) und Kind (Dionysos), heimlich mit der jungfräulichen Artemis trifft. Anders als in der klassischen Sage, in der er die keusche Jägerin heimlich beim Bade beobachtet und zur Strafe von ihr in einen Hirsch verwandelt wird, steigen die beiden gemeinsam in einen kleinen Waschzuber. Dichter an die Erfüllung seiner sexuellen Träume bringt ihn das allerdings nicht, da mag er noch so säuseln und schmeicheln oder mit seiner erigierten Männlichkeit wedeln. Denn die Göttin der Jagd hat so gar keine Lust mehr darauf, beständig nur verheimlicht und in der Funktion der Geliebten hingehalten zu werden. Auch hier endet Aktaion wie schon bei Ovid also erst als Hirsch – und dann als Beute seiner eigenen Jagdmeute, die ihn nicht erkennt.

Eine ausführliche Sagenkenntnis oder ein Faible für die griechische Tragödie sind tatsächlich keine Voraussetzung, um an dem Comic seine Freude zu haben. Die Geschichte positioniert sich dank ihrer unverblümten Sprache und der bewusst ungraziösen Ästhetik der Figuren handfest im Hier und Jetzt. Lässt man sich auf die allzu menschlichen Abgründe zwischen Sexualtrieb und Daddy-Issues ein, fügt sich dies zu einem gelungenen Erlebnis zusammen. Bei etwas mehr Hintergrundwissen lassen sich darüber hinaus zahlreiche Elemente entdecken oder neu deuten, die den schwarzen und oftmals ebenso tragikomischen Humor offenbaren, der Handlung und Ästhetik durchzieht.

 

Eins führt zum anderen
Ein illustrierter Teufelskreis
Andy Fischli
Zürich: Pica Verlag, 2015
176 S., 29,90 Euro
ISBN: 978-3-9524348-1-9