The Frame is not the limit
Selbstreflexivität im Medium Comic
Astrid Acker (Köln)
Comics besitzen eine eigene Erzähldynamik, die sie grundlegend von anderen Medien und Erzählformen unterscheidet. Ihre Zusammensetzung aus mehreren semiotischen Zeichensystemen sowie aus zahlreichen Gestaltungsmitteln bietet eine breite Fläche für verschiedenartige Kompositionen, die mit dem Verhältnis der Text- und Bildebene oder mit einzelnen Instrumenten spielen. So gibt es Formen der grafischen Literatur, die vollständig auf speech bubbles verzichten, wie zum Beispiel Shaun Tans Graphic Novel The Arrival (2007), oder die mit der Anordnung der Panels und deren Rahmungen experimentieren, wie beispielsweise Neil Gaimans populäres Werk The Sandman (1988–1996). Dem Werkzeug der Rahmen, welche die einzelnen Panels auf der Comicseite voneinander trennen, kann in diesem Zusammenhang eine große Bedeutung beigemessen werden, denn jene frames müssen nicht zwangsläufig die Grenze sein. Ihre gezielte Überwindung durch Textelemente oder Figuren sowie die Einbeziehung in die Ebene der fiktionalen Darstellung können bewirken, dass eine Sequenz im Comic oder Comicstrip selbstreflexiv ist. Kriterien der Selbstreflexivität1 sind zentrale Bestandteile einer Autonomieästhetik, welche auf Friedrich Schlegel zurückgeht und unter anderem bei Monika Schmitz-Emans und Christian Bachmann herangezogen wird, um Comics als Kunst zu nobilitieren (Schmitz-Emans/ Bachmann, 26f.). Während sie sich hierbei auf die Sonderform der Literatur-Comics konzentrieren, soll die Grundthese, dass Comics durch den »Bruch mit Codes, Regeln und Konventionen« sowie durch »Praktiken der Irritation des Blicks« (Schmitz-Emans/Bachmann, 30) Grundstrategien einer autonomieästhetischen Prämisse demonstrieren können, im Folgenden anhand von drei Beispielen ohne Literaturvorlage aufgezeigt werden. Um zu demonstrieren, dass insbesondere Rahmungen im Comic auch über diese Auszüge hinaus ein selbstreflexives Potenzial besitzen können, sind jene so ausgewählt, dass unter ihnen sowohl Repräsentanten der frühen US-amerikanischen Zeitungsstrips zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als auch zeitgenössische Werke des Abenteuer- und Horrorgenres aus Deutschland und den USA vertreten sind. Denn es sind den Gestaltungsweisen mit Rahmungen keine Grenzen gesetzt – wie exemplarisch anhand der Unterteilung dieser Beispiele in drei Kategorien gezeigt werden soll.
Breaking the 4th Wall
Um den Aspekt der Selbstreflexivität spezifisch auf ein einzelnes Gestaltungsmittel, nämlich die frames, hin zu untersuchen, bietet sich als Startpunkt der Rückgriff auf das Phänomen der ›Vierten Wand‹ an.
Das sogenannte ›Durchbrechen der Vierten Wand‹ ist aus dem Theater- und Filmwesen bekannt und bezeichnet den Vorgang, bei dem spezifische Traditionen des Mediums überwunden werden, indem sich zum Beispiel eine Figur direkt an die Rezipient_innen wendet. Es erhielt seinen Namen durch den Bezug zur Guckkastenbühne. Die Überwindung einer unsichtbaren Vierten Wand zwischen der Handlung auf der Bühne, auf der nur die Figuren miteinander kommunizieren, und der äußeren Realität bzw. dem Zuschauerraum, verweist so immer auch auf diese Begrenzung auf den Bühnenraum und regt das Publikum durch Irritation zur Reflexion theatralischer Gestaltungsmittel an. Solche Formen der Episierung bezeichnen Nünning und Surkamp als das »illusionsdurchbrechende Bloßlegen des theatralischen Apparates« und nennen als Beispiel das »Aus-der-Rolle-Fallen« (Nünning/Surkamp, 151) in Thornton Wilders The Skin of Our Teeth. Weitere Beispiele für das ›Durchbrechen der Vierten Wand‹ lassen sich aus Film und Comic heranziehen: Nach dem Abspann wendet sich Ferris Bueller, die Hauptfigur in Ferris Bueller’s Day Off (1986), an das Publikum und fordert es auf, endlich nach Hause zu gehen und Scott McCloud tritt in seinem Metacomic Understanding Comics (1993) selbst als Erzählinstanz auf, um den Rezipient_innen zu erklären, wie Comics funktionieren.
Diese Übertragung auf den Comic ist deswegen möglich, weil es sich beim Medium Comic um eine Form handelt, die sowohl auf Erzähltraditionen des Romans als auch auf die szenisch-dialogische Grundstruktur des Films oder Theaters zurückgreift (Hallet, 2f.). Ähnlich einer Film- oder Theaterszene bilden die einzelnen Panels im Comic handelnde Figuren und Requisiten in einem Setting ab, jedoch unterteilen sie die Handlung in prägnante Szenen, welche als Einzelbilder neben- und untereinander auf der Comicseite angeordnet werden2, und trennen so die Ebene der intradiegetischen oder dramatischen Kommunikation von der äußeren Realität (Nünning/Surkamp, 150). Statt der vier Wände, welche die Bühne im Theater umgeben, sind hierbei die einzelnen Panels von Rahmenlinien umgeben.Barbara Postema unterscheidet verschiedene Layouts, die in Comics auftreten können und definiert den häufigsten Typus als »a page filled with tiers of framed panels« (Postema, 45). Die unsichtbare ›Vierte Wand‹ wäre somit die Oberfläche der Comicseite, auf die die Rezipient_innen schauen.3 Durch die spezifische Erzählweise des Comics, etwa das Zusammenspiel von Panels, frames und gutter sowie die Darstellung von Zeit durch räumliche Anordnung, vervielfachen sich die Möglichkeiten, jene Traditionen zu brechen und somit selbstreflexiv zu erzählen. Diese Besonderheiten sollen im Folgenden aufgezeigt und durch das spezifische Phänomen, das McCloud mit dem Terminus polyptych beschreibt, ergänzt werden (McCloud, 115). Hierfür wird anhand der grundlegenden Definitionen nach Will Eisner und Scott McCloud sowie der Theorien von Jakob F. Dittmar, Thierry Groensteen, Barbara Postema und Benoît Peeters veranschaulicht, welche Funktion Rahmenlinien um einzelne Panels besitzen und welchen Stellenwert sie für die comicspezifische Erzählweise einnehmen. Abschließend wird anhand von Beispielen von Winsor McCay, Daniel Lieske und Robert Kirkman vorgeführt, wie sich Selbstreflexivität durch das Spiel mit den frames konstituieren kann und wie sich dieses Spiel auf andere Gestaltungsmittel auswirkt.
Traditionelle Formen von Selbstreflexivität, ODER: Hallo Sie, ich bin eine Zwischen-Überschrift. Lesen Sie bitte weiter!
Eine fiktive Erzählinstanz, die sich im Film kommentierend zur Handlung in separaten Zwischenszenen direkt über die Kameralinse hinaus an die Zuschauer_innen wendet oder Schauspieler_innen, die den Zustand des Bühnenbilds kommentieren oder sogar mit einzelnen Personen im Zuschauerraum interagieren – metadiegetische Seitenbemerkungen einer Figur, wie oben beschrieben, stellen die populärste Form von Selbstreflexivität dar. Marvels Superheld Deadpool, der regelmäßig in den speech bubbles seine eigene Biografie verändert oder auf ältere Comichefte hinweist, exemplifiziert jene Gestaltung sehr anschaulich.
Ein konkretes und sehr anschauliches Beispiel für diesen Bruch zwischen den Kommunikationsebenen stellt das Cover der Adventure Comics (No. 84) aus dem Jahr 1943 dar (Abb. 1), auf dem sich der Titelheld mit einer Geste (durch die fiktive Kameralinse) unmittelbar an die Leser_innen wendet und durch die speech bubble direkt adressiert. Nicht nur werden diese so in die Kommunikation auf der diegetischen Ebene eingebunden, der Titelheld verweist sogar in seiner Äußerung darauf, dass ein Verbrechen innerhalb des Comichefts begangen wurde und demonstriert hiermit das Bewusstsein seiner eigenen Fiktionalität sowie sein Verständnis für das Medium, in dem er sich befindet.

Abb. 1: Der Titelheld der Adventure Comics fordert die Leser_innen auf, den Tatort (=das Comicheft) nicht zu verlassen.
Solche offenen und verbalsprachlichen Formen von Selbstreflexivität sind über verschiedene Gattungen und Genres hinaus weit verbreitet, sodass man weitere zahlreiche Beispiele aus Literatur, Film und Comic aufzählen könnte. Dennoch muss Selbstreflexivität nicht zwangsläufig derart explizit und unvermittelt exponiert werden, sondern kann auch aus einem Zusammenspiel comicspezifischer Elemente entstehen, wie die folgenden Bilder demonstrieren. Der Fokus liegt hierbei auf den Rahmenlinien um die Einzelpanels, weshalb eine kurze Betrachtung der comic-eigenen Erzählweise sowie des Einsatzes der frames unabdingbar ist.
Comics bedienen sich mehrerer semiotischer Zeichensysteme, um Informationen zu vermitteln. Die Textebene (speech/thought bubbles, captions, onomatopoeia) wird dabei auf vielfache Weise – illustrativ, additiv, kontradiktorisch (McCloud, 153f.) – mit den einzelnen Bildern kombiniert und auf der Seite in einem Layout angeordnet. Textelemente gehören hierbei keineswegs zum Grundrepertoire von Comics, deren Basis gemäß McClouds Definitionsversuchen in Understanding Comics die Bildebene ist (McCloud, 5). Die populärsten Definitionen des Mediums, zu denen besonders die von Eisner und McCloud zählen, fokussieren dementsprechend die Anordnung von Bildern in einer Sequenz und keine akzessorischen Elemente von Comics wie zum Beispiel speech bubbles oder onomatopoeia (Blank, 22f.). Interessanterweise sind es jedoch trotzdem jene akzessorischen Elemente, die in anderen Sprachen und kulturellen Kontexten als Namensgeber für die Kunstform selbst instrumentalisiert und somit besonders hervorgehoben werden – so die italienische Bezeichnung als fumetti, also Rauchwölkchen bzw. Sprechblase (Abel/Klein, 61). Groensteen argumentiert davon abweichend, dass es vielmehr um das Zusammenspiel und die Artikulationsweise der Comics gehen sollte (Groensteen 2009, 4f.) und dass vor allem die »iconic solidarity« (Groensteen 2009, 57), also die gleichzeitige Präsenz der Panels auf der Seite und deren Abtrennung voneinander zentrale Aspekte der Erzählweise der Comics sind und misst dementsprechend den frames eine große Bedeutung bei:
It was established in System I that page layout is, along with breakdown, one of the two fundamental operations of the language of comics – it comes into force at the level of the panels, defining their surface area, their shape, and their placement on the page. In other words, it establishes the relative position and proportions of panels that are co-present on the same page and assigns compatible shapes to them (Groensteen 2013, 43).
Frames können grundsätzlich ebenfalls zu den akzessorischen Elementen gezählt werden, da es auch Werke gibt, die entweder teilweise oder vollständig auf klare Rahmenlinien um die Einzelpanels verzichten. Sie sind jedoch mit der visuellen Ebene der Comics so eng verbunden, dass man auch argumentieren kann, dass frames unverzichtbar sind. Postema unterteilt in Narrative Structures in Comics mögliche Anordnungen der Panels auf einer Seite in sechs verschiedene Formate, inklusive der bereits erwähnten häufigsten Form (Postema, 30–45). Außerdem weist sie darauf hin, dass in allen Formaten eine Abtrennung der Panels voneinander stattfindet, ob explizit durch Rahmenlinien oder durch freien Raum auf der Seite, was eine zentrale Grundthese von Dittmar unterstreicht: »Auch ›rahmenlos‹ ist ein Bild begrenzt« (Dittmar, 57). Daher existieren grundsätzlich überhaupt keine rahmenlosen Panels, denn jedes Panel wird entweder durch einen unsichtbaren Rahmen, sogenannte virtual frames wie in Eisners A Sunset in Sunshine City (Peeters, 27), oder im Falle von Printcomics durch die Comicseite begrenzt, ein sogenannter bleed oder full bleed (Abel/Madden, 7). Schmitz-Emans und Bachmann argumentieren außerdem, dass gezeichnete Rahmen bereits selbstreferenziell sind, denn sie »verweisen jeweils auf die Darstellung als solche […] und sensibilisieren den Rezipienten für das jeweils spezifische ästhetische Arrangement, die formal-strukturelle Dimension der literarischen oder bildkünstlerischen Werke« (Schmitz-Emans/Bachmann, 22).
Raumtiefe/dreidimensionaler Effekt
Peeters hat im Zusammenhang mit dem Verhältnis zwischen Narration und Komposition im Comic insgesamt vier Modi voneinander abgegrenzt, die sich mit der Anordnung der Panels auf der Comicseite beschäftigen. Er unterscheidet hierbei grundsätzlich solche Formen, bei denen die beiden Pole Narration und Komposition entweder völlig unabhängig voneinander sind, conventional und decorative use, oder bei denen beide einander bedingen, rhetorical und productive. Darüber hinaus untersucht er, welches der beiden Elemente die Konzeption der Seite dominiert und teilt sie internationalen Beispielen der Comicgeschichte zu (Peeters, 1f.). Selbstreflexivität kann sich – wie die Analyse einer Comicseite von Lieskes Captain Orion Adventures (2009) demonstrieren wird – durch eine enge Beziehung zwischen Narration und Komposition etablieren.
Im Kontrast zum ersten Beispiel der Adventure Comics findet Selbstreflexivität bei den dargestellten Szenen von Captain Orion (Abb. 2) allein auf visueller Ebene zu dramaturgischen Zwecken statt, ohne dass eine Figur verbalsprachlich auf comicspezifische Werkzeuge hinweist oder die Leser_innen adressiert.4 Die vier Panels, die auf der Seite arrangiert sind, zeigen, wie Captain Orion auf der Suche nach der Prinzessin das Nest eines Monsters betritt, von der Prinzessin gewarnt und anschließend überraschend vom Hawkbeast angegriffen wird. Die Gesamtkomposition der Seite und der Einzelpanels im Bezug zueinander simuliert eine Raumtiefe, die auf der zweidimensionalen Comicseite nicht vorhanden ist, indem sich die Panels gegenseitig überlappen und insgesamt auf drei übereinanderliegenden Ebenen angeordnet sind (Panel 2 & 3 auf Panel 1, Panel 3 & 4 auf Panel 1, 2 & 3). Das erste Panel, welches gleichzeitig das größte ist, bedarf keiner Rahmenlinien, da es mit den Seitenrändern abschließt und somit gemäß comicspezifischer Terminologie als bleed bezeichnet wird. Um alle weiteren Panels, die wesentlich kleiner und in Gruppen, den sogenannten tiers, arrangiert sind, finden sich einfache schwarze Linien. Darüber hinaus fungiert das erste Panel auf der Seite – nicht zuletzt durch seine Größe – als Hintergrund mit einfachem Farbverlauf von Schwarz zu Hellgrau, auf dem alle übrigen angeordnet wurden. Dieses große Panel ist nicht durch frames, sondern an allen vier Seiten lediglich durch die Comicseite begrenzt. Diese Gesamtkomposition weist somit darauf hin, dass das erste Panel als Setting für alle Ereignisse auf der Comicseite fungiert – Captain Orions Suche nach der Prinzessin (Panel 2), deren warnende Geste (Panel 3) sowie der darauffolgende Angriff des Hawkbeasts aus dem Hinterhalt finden alle auf dem im ersten Panel etablierten Nest im oberen Bereich des Baumes statt. Die Abgrenzung der Einzelbilder im unteren Drittel der Seite durch Rahmenlinien ermöglicht dramaturgische Inszenierungen der Diegese, da sie das Greifen der Figur über die Rahmengrenzen hinaus betonen und der Zeichnung mehr Raumtiefe und einen dreidimensionalen Effekt verleihen. Ebenso ragen die speech bubbles über jene Rahmengrenzen hinaus und können als Schall durch die Landschaft interpretiert werden. Solche Effekte werden häufig angewendet, um actionreiche Szenen zu inszenieren und die Bedrohlichkeit der Gegner_innen hervorzuheben (hier: plötzlicher Auftritt des Hawkbeast im letzten Panel) – ähnliche Beispiele finden sich auch in populären Superheld_innencomics. Die Dramatik in der Begegnung von Captain Orion und seinem Gegner wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass dieses Panel das einzige ist, welches nicht horizontal, sondern schief ausgerichtet wurde, wodurch ein dynamisches Layout der Comicseite entsteht. Die Größe der Einzelpanels, die durch die Rahmenlinien festgelegt ist, bestimmt in diesem Sinne auch das Erzähltempo. Dittmar bemerkt hierzu, »dass schmale Bilder schnell zu lesen sind, während breite Bilder, wie zum Beispiel Formate über die ganze Seitenbreite, entsprechend viel Zeit benötigen, um mit dem Auge abgetastet zu werden« (Dittmar, 59). So erstreckt sich das erste Panel, welches das Gesamtsetting präsentiert, insgesamt durch seine Farbverläufe über die ganze Seite. Die folgenden zwei, die Captain Orions Suche nach der Prinzessin darstellen, sind deutlich kleiner und unterteilen die Handlung in kleinere Schritte, wodurch der Blick über die Comicseite in kürzeren Abständen gelenkt wird, bevor in einem langgezogenen vierten Panel das Hawkbeast angreift. Da die innere Ordnung der Seite den Rahmen für die dargestellte Szene bietet und die actionreiche Handlung durch ihr dynamisches Layout widerspiegelt statt eine starre Struktur zu nutzen, sind Narration und Komposition gemäß Peeters voneinander abhängig. Sie lassen sich daher nach den Four Conceptions of a Page dem dritten Modus, dem rhetorical use, zuordnen, der am weitesten verbreitet ist und wie folgt definiert wird:
The panel and the page are no longer autonomous elements; they are subordinated to a narrative which their primary function is to serve. The size of the images, their distribution, the general pace of the page, all must come to support the narration (Peeters, Absatz 19).
Jene enge Abhängigkeit von Narration und Komposition, das Überragen der Rahmenlinien sowie die Anordnung der Panels übereinander verweisen auf die Funktion der frames, indem mit der definierenden, abgrenzenden Funktion gespielt und so der Blick immer wieder auf die Rahmungen gelenkt wird. Die Comicseite von Lieske demonstriert durch das sich überlappende Layout sowie durch das Herausragen der Sprechblasen oder der Krallen des Hawkbeasts über die Rahmenlinien, dass die Darstellungsmittel des Comics eng mit der Handlung verwoben und somit Teil der Reflexion sind.
Dekonstruktion
Ein noch engeres Abhängigkeitsverhältnis zwischen Narration und Komposition besteht im Comicstrip Little Sammy Sneeze von Winsor McCay aus dem Jahr 1905 (Abb. 3), das einen frühen Versuch darstellt, mit den Gestaltungsmitteln des Comics zu experimentieren. Die (unfreiwillige) Interaktion zwischen dem Protagonisten und dem Rahmen, die nicht verbalsprachlich, sondern allenfalls onomatopoetisch in Form eines Niesens exerziert wird, führt in Sammy Sneeze zu keinem Effekt der Dreidimensionalität. Stattdessen ruft sie eine Dekonstruktion des abgrenzenden Rahmens und somit eine humoristische Pointe hervor, weil sie die frames, welche ursprünglich lediglich als dekoratives und funktionales Beiwerk dienten, in die Diegese einbindet. Die eigentliche Funktion der schwarzen Rahmenlinien – nämlich die sechs Einzelpanels voneinander, vom Hintergrund und vom gutter abzugrenzen – wird aufgehoben, da sie als existierende Elemente in die Erzählung aufgenommen und zerstört werden. Eine Abgrenzung des Hintergrunds in den Einzelpanels vom weißen Hintergrund und dem gutter der Seite ist in den letzten beiden Panels nicht mehr möglich und die Bruchstücke der frames sind sogar teilweise von der Figur verdeckt. Narration und Komposition gehen in diesem Beispiel Hand in Hand und können als productive use nach Peeters klassifiziert werden: »it is the organization of the page which seems to dictate the narrative« (Peeters, Absatz 30). Der Hauptunterschied zwischen Lieskes Auszug aus den Captain Orion Adventures und McCays Sammy Sneeze ist die Interaktion mit dem Rahmen: Das Hawkbeast bei Lieske greift lediglich über die einschränkenden Begrenzungen der frames hinaus, Sammy Sneeze verändert die Rahmenlinien und bindet sie in die Erzählebene ein, wodurch die Zusammensetzung der Zeichnung selbst reflektiert wird. Würden die frames bei Lieske ebenfalls splitternd zu Boden fallen, müsste man beide Beispiele als den vierten Typus nach Peeters Conceptions of the Page einteilen. Elementar an McCays Comicstrip ist, dass sowohl die Hauptfigur Sammy Sneeze als auch der Rahmen sich aus einfachen schwarzen Linien zusammensetzen und dementsprechend die eigene Medialität der frames durch die Dekonstruktion verdeutlicht wird.
linear vs. tabular
Sehr viel subtiler entsteht das Phänomen der Selbstreflexivität im letzten Beispiel, da die Interaktion auf der Erzählebene hier über die Begrenzungen von gutter und frames hinausgeht, ohne sichtbar zu sein. Um dieses spezifische Gestaltungsmittel und seine Komplexität erklären zu können, muss zuerst die Frage nach der Darstellung von Zeit im Medium Comic aufgegriffen und untersucht werden, ob es sich bei Einzelpanels überhaupt um einzelne, zählbare Momente handelt. McCloud analysiert das Verhältnis von Raum und Zeit in Understanding Comics anhand eines Panels, das eine Partygesellschaft abbildet, und schlussfolgert, dass diese Szene nicht wie auf einer Fotografie in einem einzigen Moment stattfinden kann (so wie wir es durch unsere sinnliche Wahrnehmung gewohnt sind), sondern dass eine zeitliche Abfolge der dargestellten Mini-Szenen von links nach rechts erkennbar ist (McCloud, 95–97). Besonders die Existenz mehrerer speech bubbles in diesem Multi-Panel kann als Indiz für McClouds Fazit herangezogen werden, denn »words introduce time by representing that which can only exist in time – sound« (McCloud, 95: Herv. im Orig.). Daher handelt es sich hierbei um ein Multi-Panel, das mehrere Momente abbildet und dementsprechend in mehrere kleine Sequenzen unterteilt werden kann. Durch die Ergänzung von individuellen Rahmungen entstehen so fünf einzelne Panels vor einem durchgängigen Hintergrund, die alle einzelne Momente in einer durch das dazwischenliegende gutter eindeutig erkennbaren Sequenzierung abbilden. McCloud bezeichnet diese Komposition auf einem durchgängigen Hintergrund als polyptych – ein Begriff, der ursprünglich mehrteilige Altarbilder bezeichnet. Weiterführend definiert McCloud verschiedene transition types zwischen einzelnen Panels, welche er nach dem Wechsel von Ort, Zeit und Figuren sowie der Interpretationsleistung (closure), die von der Leser_in beigetragen werden muss, in sechs Kategorien einteilt.5 Gemäß Jan Baetens und Frey, die in The Graphic Novel – An Introduction (2015) ausführlich verschiedene Formen des Layouts diskutieren und hierbei auf Theorien von Pierre Fresnault-Deruelle sowie Groensteen eingehen, gibt es hingegen zwei voneinander abweichende Lesarten, bei denen nebeneinanderstehende Panels entweder als Sequenz (linear) oder als einzelnes Bild (tabular/translinear) gelesen werden (Baetens/Frey, 105f.).
Diese grundsätzlichen Überlegungen zum Layout von McCloud und Baetens/Frey ergeben eine überraschende Lektüre einer kurzen Szene aus dem 96. Band von Robert Kirkmans The Walking Dead-Reihe (seit 2003). Das zeitgenössische Beispiel (Abb. 4) zeigt in den drei Panels eine Trauergemeinde auf einer Beerdigung, wobei der Protagonist Rick im mittleren Panel zu sehen ist. Um zu verstehen, inwiefern auch dieser Auszug nach den Four Conceptions von Peeters eingeteilt werden kann, bedarf es des Kontexts der dargestellten Szene: Rick wird von der Trauergemeinde für den Tod des Verstorbenen verantwortlich gemacht und ist dementsprechend kein willkommener Gast während der Zeremonie. Aus diesem Grunde wird er auch von einem Mann im rechten äußeren Panel in der speech bubble dazu aufgefordert, die Beerdigung zu verlassen. Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass die Einteilung der Panels diese Handlung unterstreicht, da Rick fast vollständig im mittleren Panel abgebildet und durch die gutter zu beiden Seiten von den anderen Figuren getrennt ist. Doch obwohl die Unterteilung in drei einzelne Panels gemäß der sequenziellen Anordnung von trennbaren Momenten im Comic darauf hinweisen würde, dass die dargestellten Szenen kurz nacheinander binnen weniger Augenblicke stattfinden und es sich nach McClouds Terminologie um »moment-to-moment transitions« (McCloud, 70) handelt, legt eine genauere Betrachtung offen, dass die Panels nicht nur linear gelesen werden können, sondern auch tabular. In ihrer Analyse beziehen sich Baetens und Frey zwar auf Seiten aus Watchmen (1986), dennoch passt ihre Beobachtung ebenso zum Auszug aus The Walking Dead: »[…] the rows and panels of these pages are meant to be read both one next to another and all at once, in order to highlight the underlying grid« (Baetens/Frey, 105f.), denn alle drei Einzelpanels lassen sich gemäß McClouds Definition des polyptych zu einem einzigen Panel zusammenfügen. Dass es sich um einen einzigen Moment, bzw. um eine einzige Szene handelt, wird anhand des Hintergrunds der drei Panels besonders deutlich. Auch wenn ein Großteil des Hintergrunds in Schwarz gehalten ist und somit wenig Anhaltspunkte für dessen Interpretation bietet, sind Rick und der Mann links hinter ihm teilweise im links äußeren und mittleren Bildfeld zu sehen. Die Einzelpanels ließen sich dementsprechend einem Puzzle gleich vor einem continuous background zu der Abbildung eines Moments zusammensetzen – besonders da die Szene nicht mit mehreren speech bubbles ausgestattet ist. Die Äußerung des Mannes im rechten Panel richtet sich dementsprechend an Rick, der geografisch direkt neben ihm steht, wodurch die Interaktion der beiden über die Begrenzungen durch frames (und die gutter) hinausgeht – auch wenn keine Figur über den Rand des Panels greift wie im Beispiel des Hawkbeasts von Lieske oder keine Dekonstruktion der Rahmung wie bei McCay stattfindet. Diese Überwindung der Panelgrenzen wird zusätzlich dadurch unterstrichen, dass die speech bubble im rechten äußeren Bildfeld durch den weißen Hintergrund mit dem gutter verschmilzt und die schwarze Rahmenlinie durchbricht.
Zwar findet hier keine direkte Interaktion mit den Gestaltungsmitteln des Comics statt, dennoch überwindet die Handlung auf der Ebene des Erzählten die Begrenzungen der frames und negiert gleichzeitig die Hauptfunktion der gutter sowie die Aufgabe der Leser_innen, die Leerstellen zu füllen (closure):
Comics panels fracture both time and space, offering a jagged, staccato rhythm of unconnected moments. But closure allows us to connect these moments and mentally construct a continuous, unified reality (McCloud, 67; Herv. im Orig.).
Im Auszug aus The Walking Dead sind die beiden gutter, die zwischen den Panels sichtbar sind, keine Leerstellen, denn sie symbolisieren weder einen zeitlichen, noch einen örtlichen Sprung und wären bereits eindeutig gefüllt, wenn alle drei Bildfelder zu einem großen Panel zusammengefügt würden. So handelt es sich bei der Szene auch nicht um jene unverbundenen Momente, sondern um einen einzigen, welcher dennoch auf drei Panels aufgeteilt wurde, um den zugrundeliegenden Konflikt zwischen den Figuren zu verdeutlichen. Dessen ungeachtet führt diese Komposition nicht dazu, dass der Lesefluss unterbrochen wird, da die Komplexität der Aufteilung durch Kenntnis der comicspezifischen Erzählweise erfasst werden kann.
Selbstreflexivität ohne Stolpersteine
Bei aller Unterschiedlichkeit hinsichtlich Stil, Layout oder Dramaturgie demonstrieren alle Beispiele, wie vielseitig die Darstellungsweisen im Comic sind und auf welche Weise selbstreflexives Erzählen möglich ist. Es lässt sich dementsprechend zusammenfassen, dass eine starke Abhängigkeit von Narration und Komposition (wie bei den Captain Orion Adventures) dazu führt, dass das fertige Werk seine mediale Konstruktion gezielter ausstellt als ein Comic, dessen Layout und Rahmung keinerlei Bezug zur Diegese aufweisen. Es wird darüber hinaus eine genaue Kenntnis der genrespezifischen Erzählweise vorausgesetzt, um eine detaillierte Analyse zu ermöglichen. Dabei erzählen alle Beispiele nicht nur eine Geschichte, sondern beleuchten gleichermaßen auch, wie diese erzählt wird, da sie ihre Gestaltungsmittel ausstellen und diese immer wieder Teil der Lektüre selbst sein lassen.
Ebenso ist ein Comic dann selbstreflexiv, wenn eine bestimmte Gestaltung (wie der Ausschnitt aus The Walking Dead) dazu führt, dass es bei der Lektüre zu einer Irritation und demzufolge zu einer Reflexion der Erzählebene kommt, weil genrespezifische Erzähltraditionen bewusst dekonstruiert werden. Die Kenntnis hiervon muss nicht nur auf der Seite der Comicproduzent_innen, sondern auch bei der Leser_in vorhanden sein. Dennoch – und das ist das Besondere an jenen Beispielen – funktionieren sie alle auch ohne jenes Hintergrundwissen, wodurch eine problemlose Lektüre möglich ist. So stellen alle besprochenen Werke aus, dass den Erzählweisen der Comics in ihrem Zusammenspiel aus Panels, frames und gutter ein großes Potenzial innewohnt, welches durch Comicproduzent_innen vielfach genutzt werden kann, um die Diegese durch experimentelle Darstellungsformen zu ergänzen und die Lektüre vielschichtiger zu machen.
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Bibliografie
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Filmografie
- Ferris Bueller’s Day Off (USA 1986; R: John Hughes)
Abbildungsverzeichnis
- Abb. 1: Ellsworth, Kirby et al., n. pag.
- Abb. 2: Lieske, n. pag.
- Abb. 3: McCay in Roeder, 29.
- Abb.4: Kirkman et al., n. pag. (Ausschnitt A.A).
- 1] Der Terminus wird in seiner aus der Autonomieästhetik stammenden Bedeutung verwendet, wobei ein Werk dann selbstreferenziell ist, wenn es neben einem außerhalb des Texts liegenden Aspekt auch sich selbst ausstellt und bewusst macht.
- 2] Auf die Ähnlichkeiten zwischen Film und Comic hat McCloud in Understanding Comics hingewiesen: „However / you might / say that / before it’s / projected, / film is / just a / very / very / very / very / slow / comic!“ (McCloud 1993, 8: Herv. im Orig.).
- 3] Vergleichbar mit der Kameralinse im Medium Film.
- 4] Besonders spannend ist, dass Lieske eben jene Comicseite im Rahmen eines digitalen Zeichentutorials unter eigener Anleitung Schritt für Schritt erstellt und hierbei Einblicke in ästhetische und narratologische Entscheidungen gewährt (https://www.video2brain.com/de/videotraining/illustrieren-in-photoshop-comics).
- 5] Und welche durch Abel und Madden durch einen siebten Typus, der symbolic transition, ergänzt werden (Abel/Madden, 44).