PDF

Grüne Fluoreszenz?
Voraussetzungen der visuellen Vermittelbarkeit von Radioaktivität

Simone Vrckovski (Kiel)

Schon die Entdeckung des Radiums 1896 stellte die Wissenschaft vor das Problem der Darstellbarkeit eines für das menschliche Auge unsichtbaren Phänomens. Wie konnte man die außergewöhnliche Existenz von nuklearer Strahlung für die internationale Öffentlichkeit visuell wahrnehmbar machen? »Performative und inszenatorische Vermittlungsformen, die als Ausstellung oder Experimentalvortrag die unmittelbare Begegnung mit dem Objekt« (Ceranski, 93) ermöglichten, wurden für ein Publikum, das seine Wissbegier über die einzigartigen Eigenschaften der Radioaktivität stillen wollte, auf den Weltausstellungen zum Zuschauermagneten, so zum Beispiel 1904 in St. Louis, USA (Ceranski, 95). Eine dieser Möglichkeiten, radioaktive Strahlung zu »übersetzen« und für das menschliche Auge »erschließbar« zu machen, »bot sich durch Leuchtschirme aus bestimmten chemischen Substanzen wie Zinksulfid, die durch die radioaktive Strahlung zum Leuchten angeregt wurden – der uns bis heute von Zifferblättern vertraute optische Effekt der Fluoreszenz«, die also schon früh als Symbol für Radioaktivität in das kollektive Bewusstsein Einzug hielt (Ceranski, 96).

Abb. 1: Eine die Heilkraft des Radiums anpreisende Postkarte (Autor unbekannt, Pharmazie-Historisches Museum der Universität Basel, Schweiz).
 

Die Einstellung gegenüber dem Radium, dem Heilkräfte zugesprochen wurden, war in der öffentlichen Meinung anfänglich uneingeschränkt positiv (vgl. Abb. 1), bis Mitte der 1920er Jahre die gehäuften Krebsfälle unter den Zifferblattmalerinnen der Radium Louminous Material Company in den USA untersucht wurden. Die sogenannten ›Radium Girls‹ bemalten Uhren und Flugzeuginstrumente mit einer leuchtenden Farbe auf Radiumbasis, damit diese im Dunkeln sichtbar blieben. Da es üblich war, »den Pinsel mit Zunge und Lippen zu befeuchten und so die Spitze zu schärfen« (Träbert, 26), trugen sie schwere Strahlenschäden davon und erkrankten nach Jahren ihrer Tätigkeit an Zunge und Mund.1,2

Das Motiv der Radioaktivität oder vielmehr seine Referenten, die nukleare Strahlung im Bild darstellten, wurden jedoch bis zu den ersten weltweit bekannt gewordenen und fotografisch dokumentierten Atomkatastrophen von Hiroshima und Nagasaki im August 1945 kaum um negative Bezüge erweitert. »[D]ie ersten Aufnahmen von Atombombenexplosionen [datieren] vom 16. Juli 1945«, so Gerhard Paul, und seien während der ›Operation Trinity‹ des Manhattan Projects in Alamorgordo in New Mexico zu Dokumentationszwecken angefertigt worden. Sie zeigten die verschiedenen Phasen einer physikalischen Kettenreaktion (Paul, 246). Da die Fotografien nicht zur Veröffentlichung freigegeben worden seien, »sollten die Aufnahmen der Detonationswolken über Hiroshima und Nagasaki die ersten publizierten Bilder von Atombombenexplosionen überhaupt werden«, führt Paul weiter aus. Bodenaufnahmen aus Hiroshima, die von den USA aus politischen Gründen zunächst zensiert wurden, machten die verheerenden und auf ungekannte Weise gesundheitsschädigenden Auswirkungen der militärisch eingesetzten Radioaktivität einer großen westlichen Öffentlichkeit überhaupt erst begreiflich, wie es kein Bild eines Tests vermitteln kann und darf. Möglicherweise deshalb und aufgrund der militärischen Geheimhaltung, die auch für die zivile Forschung zur Radioaktivität während des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs galt (Träbert, 81f.), haben bis auf das bekannte Foto des Atompilzes auf dem Bikini-Atoll vom 24. Juli 1946 (vgl. Abb. 2) keine weiteren Bilder von nuklearen Tests einen internationalen Bekanntheitsgrad erlangt.

Abb. 2: Test der Atombombe Baker im Juli 1946 auf dem Bikini-Atoll (United States Department of Defense).

Nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, die 1986 große Angst vor der Verteilung unsichtbaren radioaktiven Fallouts unter anderem in Frankreich und Deutschland auslöste, geriet 1987 der brasilianische Goiânia-Unfall kurzzeitig in die Schlagzeilen, der den Eindruck, Radioaktivität ›leuchte‹, wahrscheinlich weiter vertiefte. Metallverkäufer hatten ein Strahlentherapiegerät aus einer Klinik entwendet und verteilten das durch den Tscherenkow-Effekt blau leuchtende Caesiumchlorid aus seinem Inneren an Freunde und Familie, weil es so hübsch aussah. Sie wussten jedoch nicht, dass es sich um eine hochradioaktive Substanz handelte.3 Falsch entsorgte und ungenügend gekennzeichnete Bestrahlungsgeräte führten auch im Jahr 2000 in Thailand zu einem schweren Unfall. Hier hatten Metallsammler die Geräte geöffnet und auf einen Schrottplatz gebracht. Nur durch Einsatz eines schwach leuchtenden, farbig fluoreszierenden Schirms konnte die Strahlenquelle in einer mondlosen Nacht tief im Schrott gefunden werden.4 Um sich im Bild dem anzunähern, was als faktisch existent begriffen wird, jedoch nicht sichtbar ist, haben Zeichner_innen, die Radioaktivität zeigen wollen, Darstellungsstrategien entwickelt, die mittels bildlicher Referenten auf Radioaktivitäten hinweisen und ähnlich wie der oben beschriebene Leuchteffekt in der Realität wurzeln.

Ich möchte in diesem Artikel diese bildlichen Manifestation der Radioaktivität in Comic­zeichnungen untersuchen und konzentriere mich dabei auf das Setting des durch eine atomare Katastrophe zerstörten menschlichen Lebensraums, den die anhaltende Strahlung des radioaktiven Fallouts in ein ›Niemandsland‹ transformiert hat. Die prominenteste und bekannteste Möglichkeit radioaktive, kosmische oder nicht genauer bezeichnete ›extraterrestrische‹ Strahlung im Comic abzubilden ist das orange-rote, gelblich-grüne und seltener auch blaue Leuchten, das von Superhelden bekannt ist.5 Da das ›Strahlen‹ auf chemische und physikalische Phänomene zurückgeht, ist es auch in der Fiktion nicht arbiträr und verweist wie oben gezeigt auf tatsächliche Farbphänomene, die im fiktionalen Bild mit der Eigenschaft ›radioaktiv‹ gleichgesetzt werden, obwohl auch sie Radioaktivität nur vermitteln können. Diese Möglichkeit wird zum Illustrieren von Radioaktivität im verseuchten ›Niemandsland‹ jedoch eher wenig genutzt. Gefragt werden soll deshalb, wie sich hier das Verhältnis von Ereignis, Auswirkung und Sichtbarkeit von Radioaktivität auf der discours-Ebene realisieren lässt. Auf welche Weise werden die Atomexplosion und die Strahlung des Fallouts künstlicher Radionuklide als Materielles, als Ding im Sinne von ›visuell wahrnehmbar‹ bildlich verortet?

Als ›atomare Katastrophe‹ definiere ich hier außer Kontrolle geratene Kernspaltungen sowie Kernschmelzen, wie sie bei einer Atombombenexplosion und einem Super-GAU stattfinden, weshalb ich Comics über beide Ereignisformen einschließe. Bevor ich anhand von Beispielen zeige, wie Radioaktivität im Bild vermittelt wird, werde ich mich kurz ihrem Auftreten als fiktionales und non-fiktionales Motiv in Erzählungen widmen. Ein anschließender Blick auf die indirekten Erfahrungen der Rezipient_innen mit Atomkraft und ihre daraus resultierenden ›Wahrnehmungskompetenzen‹ als Rezeptionsvoraussetzungen bildlich dargestellter Radioaktivität ist wichtig, um über die ›Wirklichkeitseffekte‹, die das Zeigen von Radioaktivität im Comic auslöst, nachdenken zu können. Zum Schluss möchte ich die ›Vagheit‹ des Konzepts ›radioaktiv‹ im Bild genauer betrachten.

Radioaktivität als fiktionales und non-fiktionales Motiv

Der durch Radioaktivität verseuchte Raum und die in ihm befindlichen Objekte bilden die Kulisse für zahlreiche fiktionale und dokumentarische Comicstrips und Comicerzählungen. So zum Beispiel als vernichtete Urbanität nuklear zerstörter Metropolen in den japanischen Mangaserien und Trickverfilmungen Barfuß durch Hiroshima. Eine Bildergeschichte gegen den Krieg (1973), Akira (1992) oder dem 2016 in Deutschland erschienenen reportageartigen Fukushima-Manga Reaktor 1F. Ein Bericht aus Fukushima (2016). Die postapokalyptische Dystopie des Computerspiels Fallout (1997–2015) und ungezählte Spiel- und Dokumentarfilme über die jüngsten Reaktorkatastrophen finden vor dem Hintergrund dieses Raumes statt, so dass dieser als ein wichtiges Element der populärkulturellen Darstellung von nuklearem Vernichtungswaffengebrauch und Super-GAUs nicht nur im Comic verstanden werden kann. Dieser prototypisch gewordene Landstrich existiert in seiner Unvergleichlichkeit erst seit den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki 1945, von deren katastrophalen Folgen am Boden wie bereits angemerkt lange gar keine oder nur wenige Schwarz-Weiß-Fotografien zugänglich waren (Paul, 258). In den Reaktorkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima findet er als ›abandoned place‹ seine visuelle Fortsetzung (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Die sogenannte Atombombenkuppel in Hiroshima, links als Motiv aus dem Trickfilm barfuss durch hiroshima (JP 1983; R: Mori Masaki) und rechts in einer Fotografie des zerstörten Hiroshimas von Eiichi Matsumoto, 1945.

Die Schwierigkeit, Radioaktivität ohne direkten Referenten zu erfassen und bildlich zu reproduzieren, übt im Zusammenhang mit dem Wunsch, die Leser_innen über die schwerwiegenden Auswirkungen von hoher Radioaktivität aufzuklären, einen besonderen Reiz auf Zeichner_innen, Fotograf_innen und Filmschaffende aus. In Comics, die sich mit den radioaktiv verseuchten Landstrichen beschäftigen, sind oft Rückgriffe auf autobiografisches Erzählen, Augenzeugenberichte und Fotografien vorzufinden. Die Künstler_innen bedienen sich dabei der gegenwärtigen oder historischen Faktenlage, um sie in dokumentarischen, poetischen oder auch bildphilosophischen Ansätzen zu bearbeiten. In der Graphic Novel Ein Frühling in Tschernobyl (2013) von Emmanuel Lepage, der 2008 selbst nach Tschernobyl gereist ist, tritt die radioaktive Strahlung im Katastrophengebiet von Pripjat als zeichnerisch zu analysierender Komplex stark in den Vordergrund, wie im weiteren Verlauf noch besprochen wird (vgl. Abb. 4).

Abb. 4: Lepage fragt sich, wie er die Radioaktivität zeichnerisch vermitteln kann (Lepage 2013, 111).

Atomkraft kann aufgrund ihres realen Zerstörungspotentials, ihrer intellektuellen Unzugänglichkeit, ihrer Einzigartigkeit und Unkontrollierbarkeit sehr gut mit Superkräften, göttlicher Macht und Zukunftsentwürfen der Science-Fiction verknüpft werden und scheint für Autor_innen schon allein deshalb interessante Herausforderungen zu bergen. Sie ist ein düsteres Faszinosum, das zum Gedankenspiel mit den Grenzen von Realität und Fiktion verleitet und diese Ebenen verschwimmen lässt. Auf die Spitze getrieben wird dieses Spiel in dem Bildband Der Sarcophag. Der Briefwechsel (2001) von Pierre Christin und Enki Bilal. Der Fantasie-Entwurf eines ›Museums der Zukunft‹, das um den hochverseuchten Sarkophag von Tschernobyl herum gebaut werden soll, wird sowohl mit gezeichneten Skizzen des geplanten Museumsbaus, als auch mit dokumentarischen Bildern aus dem Reaktorgebäude in Pripjat und von Zeitzeugen aus einem Dokumentarfilm über Tschernobyl illustriert (vgl. Abb. 5). Christin und Bilal sendeten ihre ironisch provokante Projektidee dem gesiegelten Antwortbrief zufolge (Christin/Bilal, 59) an eine offiziell zuständige Stelle in der Ukraine, von wo der Vorschlag jedoch mit dem Kommentar, er verdiene nur eine einzige Bezeichnung: »obzsön!«, abgelehnt wurde. Die allem Anschein nach reale Reaktion der ukrainischen Behörde in Briefform entlarvt die selbst nach einer solchen Katastrophe international fortgeführte zivile Nutzung von Atomkraft als naive und grob fahrlässige Unwissenheit.

Abb. 5: Eingang in den ›Sarkophag‹, das vierte Gebäude des ›Museums der Zukunft‹, links Fotografien des Reaktors von Tschernobyl, rechts der illustrierte Entwurf für den Museumseingang (Christin/Bilal 2001, 54f.).

Ob die Realitätsbezüge in den jeweiligen Werken authentisch sind, lässt sich en detail natürlich nicht mehr nachvollziehen, weil die Ebenenverschmelzung und auch das unzuverlässige autobiografische Erzählen dies verhindern. Darüber hinaus sind die Regionen, in denen sich Atomkatastrophen ereignet haben, eher unzugänglich, so dass die Erfahrungswerte hinter unmittelbaren Berichten von den Leser_innen kaum überprüft werden können. Hinsichtlich japanischer Mangas ist die populärkulturelle Überformung der kollektiven Erinnerung an die Atombombenabwürfe in Japan nicht zu unterschätzen, was auch für die massiv medial gespiegelten Reaktorkatastrophen in Fukushima und Tschernobyl angenommen werden kann. In seinem Artikel über die Geschichte der ›A-bomb mangas‹ macht Masashi Ichiki deutlich, dass Barfuß durch Hiroshima von Keiji Nakazawa in seiner Drastik eine klare Gegenbewegung zu vorherigen Mangas vollzieht, in denen die Atombombenabwürfe und ihre Folgen zwar thematisiert, jedoch eher als tragisch unterhaltendes, dramatisierendes Element eingesetzt wurden.6 Davida Pines stellt einen Vergleich von Motiven extremen körperlichen Verfalls an, die in Barfuß durch Hiroshima und dem autobiografischen Tatsachenbericht Letters from the End of the World: A Firsthand Account of the Bombing of Hiroshima (1948) von Toyofumi Ogura verwendete werden. Sie kommt aufgrund textueller Unstimmigkeiten zu dem Schluss, dass Nakazawa für seinen Manga möglicherweise manch eine Wendung aus anderen Zeitzeugenberichten plagiiert hat.7

Indirekter Atomarer Erfahrungswert als ›Wahrnehmungskompetenz‹

Doch zurück zu den Bildern: Die oben genannten Fragen nach den Darstellungstaktiken von Radioaktivität berühren zunächst den vieldiskutierten bildphilosophischen Komplex der Referenzsemantik. Referenten können als Bezugnahmen auf visuelle Vergleichbarkeiten und als arbiträr festgelegte Konventionen im Bild auftreten oder zeigen sich als sichtbare Wirkung/Ursache-Kausalitäten. Desweiteren ist es sinnvoll, einen Blick auf die Probleme der Ambiguität und der Vagheit des Konzepts ›Radioaktivität‹ zu werfen. Als Definition von ›Bild‹ lege ich den offenen und allgemeinen Begriff zugrunde, den Klaus Sachs-Hombach in seinem Buch Das Bild als kommunikatives Medium (2003) etabliert hat: »Bilder sind wahrnehmungsnahe Zeichen« (Sachs-Hombach 2003, 74) und sie lassen sich

als artifiziell hergestellte oder bearbeitete, flächige und relativ dauerhafte Gegenstände charakterisieren, die in der Regel innerhalb eines kommunikativen Aktes zur Veranschaulichung realer oder auch fiktiver Sachverhalte dienen. (Sachs-Hombach 2003, 88)

In meinen Überlegungen zur adäquaten Rezeption von Radioaktivität zeigenden Abbildungen möchte ich von ›Wahrnehmungskompetenzen‹ (Sachs-Hombach 2002, 10) ausgehen, die erforderlich sind, um diese Bilder entschlüsseln zu können. ›Wahrnehmungskompetenzen‹, die ich hier als auf überliefertes Erfahrungswissen gestützte, erlernbare Kompetenzen definiere, mit denen Bildelementen eine Bedeutung zugeschrieben wird, erfordern im Falle von Radioaktivitätsdarstellungen im Comic folgende Differenzierungen: Beim Lesen von Comics muss erstens generell die Fähigkeit vorhanden sein, Bilder als zusammenhängend zu begreifen und als Textteile zu interpretieren, die in einem größeren Werkkontext zu lesen sind (closure). Zweitens muss der Rezipient_in bekannt sein, dass radioaktive Strahlung für das menschliche Auge unsichtbar ist und bildlicher Stellvertreter bedarf, damit sie die Bildreferenten, die auf radioaktive Strahlung hinweisen, als solche entziffern und einen zerstörten Landstrich als radioaktiv verseucht identifizieren kann.

Dazu möchte ich eine doppelseitige Sequenz aus Dietmar Daths und Oliver Scheiblers Mensch wie Gras wie (2014) als Beispiel nennen, die auf der Sprechblasenebene von der Aussage der Hauptfigur Elin eingefasst ist: »Ausserdem… / die Japaner sind mir zu hart drauf.« (Dath/Scheibler 2014, 15f.) Wir folgen Elins Gedanken nach der inhaltlich assoziativen Logik eines ›stream of consciousness‹, der ihre persönlichen Vorurteile gegen Japan ausdrückt. Die Sequenz beginnt mit der Tokio zerstörenden Figur Godzilla, die in mehrerlei Hinsicht auf die Gefahren nuklearer Technik hinweist.8 Unter einer mutierten Wasserfigur ist im Weiteren eine entstellte Allegorie auf Japan zu sehen. Die sitzende Figur hat ›Stielaugen‹, trägt wie ein Kamikazekämpfer das Stirnband mit der Flagge der Kaiserlich Japanischen Armee und schneidet mit einem Sushimesser ihren unverhältnismäßig langen Penis in dünne Scheiben. Am Hinterteil dieser Figur sieht man vier Pickel, die ›strahlen‹ bzw. in irgendeiner Form ›aktiv‹ sind und in ihrer Anordnung an die örtliche Lage der japanischen Atomkraftwerke Fukushima, Tokai, Onagawa und Kashiwazaki-Kariwa erinnern. Auf dem ganzseitigen Interior-Splash-Panel, der zweiten Seite der Sequenz, arbeiten zwei Menschen in Schutzanzügen schwitzend und auf einem blasenwerfenden und brodelnden Untergrund stehend, es herrscht also eine unnatürliche, mit Industrie in Verbindung zu bringende Hitze (vgl. Abb. 6). Der Zusammenhang der Bilder mit Elins vorherigem Sprechblasenkommentar könnte auf das Kraftwerk Fukushima Daiichi im japanischen Küstenort Ōkuma referieren, aus dem laufend radioaktiv verseuchtes Wasser in den Pazifik fließt – die Dekontaminationskräfte Fukushimas sind in der internationalen Presse auch als »Kamikazekämpfer« bezeichnet worden.9 Ohne dass es explizit auf der Textebene der Sprechblasen genannt wird, ist das Motiv ›Radioaktivität‹ als ein gemeinsamer Nenner der Bilder zugegen. Seine Entwicklung von der fiktionalen zur non-fiktionalen Bildreferenz und chronologisch von dem frühesten Atomtest auf dem Bikini-Atoll (Referent Godzilla) bis zur jüngsten Reaktorkatastrophe in Fukushima kann von der empirischen Leser_in (Eco, 76) nur durchdrungen werden, wenn sie grob um die Geschichte der Atomkraft in Japan und ihre populärkulturellen Ausprägungen bis in unsere Rezeptionsgegenwart weiß.

Abb. 6: Die Vorurteile der Hauptfigur gegenüber Japan referieren u. a. auf Fukushima (Dath/Scheibler 2014, 16f.).

Zur kommunikativen Funktion von Radioaktivität im Bild

Das Spiel mit den realen Gegenwartsbezügen im fiktionalen Text ist hier wichtig, um das bedrückende Gefühl zu unterstreichen, das die Hauptfigur Elin in Bezug auf Japan verspürt. Dieser Annahme entsprechend könnte der Begriff des ›Wirklichkeitseffekts‹, wie er von Hans-Joachim Hahn in Anlehnung an Barthes’ Thesen über den ›Wirklichkeitseffekt‹,10 entwickelt wird, um die emotionale Komponente einer uferlosen Verunsicherung und Unkontrolle erweitert werden, die der radioaktiv verseuchte Landstrich auf spezifische Weise auslöst. »Im Unterschied zu Barthes, der diese ›Wirklichkeitseffekte‹ als ›Auffüllungen‹ oder ›überflüssige Details‹ bezeichnet und sich im Rahmen seiner strukturalistischen Perspektivierung nicht für die Frage nach ihren kommunikativen Funktionen interessiert«, stellt Hahn fest, »dass einige Elemente in den Comics, die comic-externe Referenzen bezeichnen, tatsächlich kommunikative Funktionen erfüllen«. Als solcherlei Wirklichkeitseffekte führt er etwa Zeitungsüberschriften, Kleidungsstücke oder weitere dargestellte Gegenstände an, die eine zeitliche Situierung der Graphic Novel vornehmen, mit der auch historische Kontextualisierungen einhergingen (Hahn, 80). Dies setzt jedoch voraus, dass der Kontext bekannt ist oder zumindest recherchiert werden kann, wie Hahn an anderer Stelle anmerkt (Hahn, 84). Den Referenzen entsprechende ›Wahrnehmungskompetenzen‹ sind also erforderlich oder müssen erlangt werden können, wenn unbekannte Bildbezüge von der Rezipient_in für den ›Wirklichkeitseffekt‹ entschlüsselt werden sollen.

Abb. 7: Eine Bildgeschichte zur Warnung vor dem Eindringen in ein Atommülllager (Posner 1990, 15).

Um die Wichtigkeit dieser Feststellung für Radioaktivität im Bild zu verdeutlichen, sei auf das Problem verwiesen, dem sich die Zeitschrift für Semiotik 1982 annahm, indem sie fragte: »Wie ist es möglich, unsere Nachkommen innerhalb der nächsten 10.000 Jahre über die Lagerungsorte und die besonderen Gefahren von Atommüll zu informieren?« Die Frage war an Vertreter jener Wissenschaft gerichtet, die dem Semiotiker Roland Posner zufolge für diese Aufgabe am besten gerüstet schien, nämlich »die Wissenschaft von den Zeichen« (Posner, 9). Trotzdessen die Risiken der Atomkraft und ihrer Abfälle nicht direkt vermittelbar sind, müssen sie über die Frist der eigenen Lebenszeit hinaus für weit entfernte Generationen erklärt werden, um diese zu warnen. Dabei kann nur auf abstrakte Warnzeichen oder auf die sprachliche Überlieferung von Erfahrungswerten zurückgegriffen werden, die aufgrund des beständigen Wandels in der menschlichen Sprache dauernder Aktualisierungen bedürfen (vgl. Abb. 7).

Das schwarze ›Trefoil‹ auf dunkelgelbem Grund reicht als konventionell festgelegtes Symbol zur Kennzeichnung gefährlicher radioaktiver Strahlung bereits heute nicht mehr aus. Da Menschen, denen Radioaktivität nicht bekannt gewesen ist, mit dem Zeichen nichts anfangen konnten und es zu mehreren tödlichen Unfällen11 gekommen war, ist es 2001 von der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) um ein deutlicheres Hochgefahrensymbol ergänzt worden, das im Test auch von Kindern einer internationalen Schule verstanden werden konnte.12

Wenn es keinen einzigartigen Bildreferenten für ein Objekt gibt, treffen wir auf das Problem ›bildlicher Vagheit‹, das nur durch indirekte Referenten gelöst werden kann. Diese müssen wiederum in einen unmissverständlichen Kontext gestellt werden, um auf radioaktive Strahlung schließen zu lassen. Das arbiträr festgelegte Hochgefahrenzeichen referiert zwar auf eine tödliche Gefahr, enthält jedoch keinerlei Hinweise auf die Beschaffenheit von Radioaktivität und erklärt sie nicht. Bei der bildlichen Eingrenzung dessen, was Radioaktivität im zerstörten Raum ›ist‹, handelt es sich um einen Gegenstand, der mittels »Seh-Hilfe[n], als Information[en] dessen, was ein Bild nicht vermitteln kann« (Grünewald, 9) kontextualisiert werden muss, im Comic also mithilfe des geschriebenen Worts. Auch für die Deutung, mit welchem Anliegen Radioaktivität im Bild gezeigt wird, gilt, dass »unmittelbare Schlussfolgerungen für den Umgang mit Wirklichkeitsreferenzen« kaum abgeleitet werden können, wie es Hans-Joachim Hahn unter Zuhilfenahme von Marx’ »Entfremdungstheorie« und Barthes’ These vom »Wirklichkeitseffekt« formuliert. Aus seiner Sicht teilen die beiden Theoretiker »die Vorstellung einer unwirklichen bzw. entfremdeten Wirklichkeit«:

Comics stehen […] in einem komplexen Austauschverhältnis mit der externen Wirklichkeit. […] Die in den Comics anzutreffenden »Wirklichkeitseffekte« erfüllen dabei kommunikative Funktionen, eröffnen aber nur teilweise auch eine kritische Perspektive. Sie tun es in einem marxistischen Sinne dann, wenn sie auf die Möglichkeit einer Veränderung gesellschaftlicher Ausbeutungsverhältnisse hinweisen oder gar hinwirken. (Hahn, 85f.)

Täter/Opfer-Perspektive: ›Mushroom Cloud‹ und ›Pika-don‹

Die Darstellung von radioaktivem Fallout im Comic weist damit eine ästhetische Ambivalenz auf, wie sie aus der Diskussion um den Kriegsfilm/Anti-Kriegsfilm oder die ethischen Dimensionen der Kriegsfotografie bekannt ist.13 Wenn die Mehrdeutigkeit der Bilder im Text nicht zugunsten einer eindeutigen Position und Stellungnahme aufgelöst wird, die die Gefährlichkeit und unkontrollierbare Zerstörungskraft von Radioaktivität als negative Eigenschaft hervorhebt, wird sie relativiert oder zumindest missverständlich und kann in den Kontext der ›sauberen‹, da scheinbar emissionsfreien kontrolliert zivilen Nutzung gesetzt werden, die unmöglich ist. Einen eher kritischen Anspruch verfolgen zum Beispiel Raymond Briggs in Strahlende Zeiten (1983), Dietmar Dath in Mensch wie Gras wie (2014), Pierre Christin und Enki Bilal in Der Sarcophag (2001) und Keiji Nakazawa in Barfuß durch Hiroshima (1982/2004), wohingegen Kazuto Tatsuta mit Reaktor 1F (2016) unterstellt werden kann, dass er den radioaktiven Ort eher unkritisch funktionalisiert und ästhetisiert, um die chaotische und ausbeuterische Organisation der Arbeit in Fukushima durch die Sub-Unternehmer der Sub-Unternehmer von Tepco darzustellen. Emmanuel Lepage weist mit seinem erklärt kritischen Anspruch zwar immer wieder auf das faszinierende Paradoxon der unmittelbaren Zeichenlosigkeit von tödlicher Radioaktivität hin, seine zeichnerische Auseinandersetzung gerät jedoch zur professionellen Sinnkrise, die die unsichtbaren Gefahren der Radioaktivität teilweise eher zu relativieren droht, als dass sie sie vermittelt:

…ich denke über die Wahrheit der Dinge nach. Tauche in eine gefährliche Welt ein, die sich versteckt, trickst, lügt… …ich will greifbare Zeichen finden… …die von der Tragödie zeugen… …die ich vorzeigen kann… Auf dem Friedhof ist der Boden sandig. Man hat Tische unter den Bäumen aufgestellt, damit die Lebenden ihre Toten ehren können. Die Grabstätten, einfache, in metallene Schalungen in Form von Särgen gefüllte Sandblöcke! Es wachsen nur Plastikblumen darin. Ich lese die Inschriften, berechne das Todesalter. Nichts. Keine kürzeren Leben als anderswo, nichts Maßgebliches. Nichts, nichts, nichts. Die Toten des Krieges von Tschernobyl – wie man hier sagt – sind auch unsichtbar! (Lepage, 130f.)

Der politisch instrumentalisierte Missbrauch dieser Ambivalenz, das Verschweigen und das Verschleiern von Gefahren und Opfern der Radioaktivität oder sogar die Umdeutung der Atomkraft zum rettenden Heilsversprechen hat sich besonders deutlich in der Abbildungsgeschichte der Pilzwolke gezeigt, die seit der Explosion der Bomben von Hiroshima und Nagasaki entstanden ist. Gerhard Paul zeichnet die Entwicklung der – aus europäischer Sicht absurd-grotesken – amerikanischen »Ikone des atomaren Zeitalters« eindrücklich in seinem Aufsatz »›Mushroom Clouds‹. Der atomare Bildakt und seine transkulturelle Resonanz« (2013) nach und weist auf die unterschiedlichen Wahrnehmungsperspektiven auf den Atompilz in den USA, Japan und Europa hin. Die ›Wahrnehmungskompetenz‹ als national individueller Blick auf Radioaktivität ist von Kollektiverlebnissen oder auch von ideologischen Rahmungen politischer Systeme beeinflussbar und kann sich, wie auch Masashi Ichiki erklärt, zu einem selbstreferenziellen System verselbstständigen (Ichiki, 35f.) – man denke an die aktuelle japanische Informationspolitik im Fall Fukushima.14 Deshalb ist sie grundsätzlich auch im Comic zu hinterfragen:

Die Mehrzahl der Amerikaner betrachtet die Atompilzwolken über Hiroshima und Nagasaki bis heute als Symbol des technologischen Fortschritts und des Sieges im Pazifikkrieg, der Hunderttausenden das Leben gerettet hat. Diese zieren daher Autokennzeichen, Kaffeetassen und T-Shirts. Museen offerieren sie in Plakatgröße mit den Unterschriften der Bomberbesatzung. Für kritische Wissenschaftler sind sie schlicht nur »an excellent example of American kitsch«. Ganz anders gestaltete sich der Blick auf die Atompilze in Europa und in Japan. (Paul, 245)

Abb. 8: Das Titelbild von Strahlende Zeiten (Briggs 1983, Cover).

Letztere Feststellung von Paul kommt unterschwellig in den Zeichnungen der Graphic Novel Strahlende Zeiten. Eine Anti-Atomtod-Bildergeschichte (1983) zum Tragen. Raymond Briggs veröffentlichte diesen satirischen Comic (Originaltitel: When the Wind Blows), der im deutschsprachigen Raum auch als Wenn der Wind weht publiziert wurde, noch vor den Nuklearkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima. Das paradoxe Cover zeigt ein zaghaft lächelndes älteres Ehepaar vor dem feurigen Panorama eines Atompilzes, und legt damit bereits beim Aufschlagen des Buches die absurde Idee nahe, die Bevölkerung könne sich vor den Folgen eines Atomkrieges schützen, wenn sie sich nur darum bemüht (vgl. Abb. 8).

Briggs’ Werk ist als Beispiel für die Darstellung von Radioaktivität deshalb interessant, weil seine Bilder die graduelle Ursache/Wirkung-Kausalität von atomarem Fallout und biologischem Verfall verdeutlichen, die sich in einer seriellen Chronologie in den Panels kontinuierlich weiterentwickelt. Die Eheleute James und Hilda versuchen, sich in ihrem Haus mittels eines von der Regierung verteilten Schutzmaßnahmenkatalogs bestmöglich auf den Abwurf einer Atombombe vorzubereiten, der aufgrund der aktuellen Weltlage sehr wahrscheinlich ist.15 Nach der Explosion scheint das Schlimmste zunächst überwunden, die grausamen Auswirkungen der Strahlung auf die Gesundheit der beiden lässt jedoch nicht lange auf sich warten, obwohl sie den Anweisungen der Broschüre akribisch Folge leisteten… Die Explosion der Atombombe wird in Strahlende Zeiten durch ein strichfreies und nahezu weißes Interior-Splash-Panel auf zwei Blättern dargestellt, dessen äußere Seiten zum Rand hin ein immer dunkleres Orange-Rosa aufweisen (vgl. Abb. 9).

Abb. 9: Interior-Splash-Panel aus Strahlende Zeiten (Briggs 1983, 18f.).

Dieses ›Nicht-Bild‹, das mit dem Farbeindruck vergleichbar ist, den man bekommt, wenn man seine geschlossenen Augen in die grelle Sonne richtet, knüpft weniger an das Erfahrungswissen an, das im europäischen Raum zur Atombombenexplosion besteht, als vielmehr an das japanische. Hiroshima und Nagasaki werden in Japan mit dem Pika-don, dem Atomblitz und -knall, in Verbindung gebracht und mit einer »glutroten Feuersäule«, die entweder aus einer gerade noch nicht tödlichen Nähe oder nur wenige Kilometer entfernt als solche wahrgenommen wurde.

Bei den Überlebenden des nuklearen Angriffs und seinen unmittelbaren Augenzeugen mobilisierte das ›Täter‹-Bild der ›Mushroom Cloud‹ naturgemäß völlig andere Assoziationen und innere Bilder als bei den Menschen in den USA und in Europa. Aus der Erfahrung der Bodenperspektive dominierte nicht die Wolke, sondern der mit der Zerstörung in Verbindung gebrachte helle Blitz: japanisch ›Pika-don‹. Eine damals 11-jährige Schülerin beschrieb ein grelles »unbeschreibliches orangefarbenes Licht«, das in ihr Zimmer drang, bevor sie bewusstlos wurde. Ein 18-jähriger Polizeischüler empfand ein intensives blauviolettes Licht »wie beim Elektroschweißen«, bevor das Gebäude zusammenbrach und er verschüttet wurde. Auch in den Zeichnungen und den wenigen Fotografien vom unmittelbaren Geschehen überwogen der Blitz, sowie die übermächtige sich ausbreitende orangefarbene Wolke, die erst aus einer Entfernung von etwa 10 Kilometern vom Hypozentrum als konturierter Atompilz zu identifizieren war. (Paul, 273f.)

Abb. 10: Abklingende Atomexplosion (Briggs 1983, 20f.).

Abb. 11: Atomic Bombs von Andy Warhol (1965).

Die auf den grellen Moment der Explosion folgende Sequenz in Strahlende Zeiten zeigt das langsame Verglühen des Lichts, indem der linke obere Teil der linken Seite noch ganz weiß ist, der rechte untere Teil aber bereits ein sich wiederholendes, in der Panelstruktur wie von großer Hitze Fata morgana-artig verschwommenes, rötliches und dann immer deutlicher werdendes Bild der Füße des Ehepaars zeigt, die aus dem selbstgebauten ›Hausschutzraum‹, einer schräg an die Wand gelehnten Tür, herausragen. Die ›Verfestigung‹ dieses Bildes zieht sich fort, bis es unten rechts auf der zweiten Seite wieder ganz stabil ist (vgl. Abb. 10). Der Übergang von der grellroten Verschwommenheit zur vorher als ›normal‹ etablierten Farbgebung der intradiegetischen Realität, wird auch über die Panelstruktur vermittelt, die in ihrer gleichmäßigen seriellen Wiederholung an Andy Warhols deskriptive Arbeit Atomic Bombs von 1965 erinnert. Mit diesem Kunstgriff weist Briggs über das Verfahren der Interpiktorialität indirekt auf den Atompilz von Hiroshima hin (vgl. Abb. 11). Linda-Rabea Heyden ist in diesem Zusammenhang der Auffassung, dass eine Seitengestaltung, die die Form einer Epoche aufgreift, »sofort Stimmung und Zeit der Handlung setzen [kann], ohne im restlichen Comic verwendet werden zu müssen« (Heyden, 286), dies kann auch für einzelne Kunstwerke gelten, wenn sie der Comicleser_in bekannt sind.

Radioaktivität als vages Bildkonzept

Erstaunlicherweise können James und Hilda unmittelbar nach der Bombenexplosion bis auf die zerbrochenen Gegenstände in ihrer Wohnung und ein leichtes Unwohlsein keine Veränderung an sich und in ihrer Umgebung feststellen. Da die im Schutzmaßnahmenkatalog angekündigte Entwarnung nicht kommt, verlassen sie ihren ›Hausschutzraum‹ verfrüht. Auch als James erschrocken einfällt, dass es »die Hauptvorschrift war«, den Schutzraum nicht zu verlassen, und er sich fragt, »ob hier wohl noch verstrahltes Gebiet ist«, erwidert Hilda beim Blick aus dem Fenster nur, »sehen kann ich jedenfalls nichts« und »also, wenn man was nicht sehen und fühlen kann, ists auch bestimmt nicht schädlich« (Briggs, 29). Im weiteren Verlauf der Erzählung, die der Behäbigkeit des Begreifens des alten Ehepaars angepasst ist, machen James und Hilda alles falsch, was man im Umgang mit radioaktivem Fallout falsch machen kann. Sie gehen hinaus, stellen sich ungeschützt in den Regen und trinken Regenwasser. Der körperliche Verfall der beiden Figuren wird durch immer tiefere Augenringe und eine zunehmend fahle Gesichtsfarbe illustriert, auf die gesamte Umgebung legt sich ein immer grauer werdender und die Farben abdämpfender Schleier (vgl. Abb. 12).

 

Abb. 12: Farbgebung zu Beginn und am Ende von Raymond Briggs’ Strahlende Zeiten (Briggs 1983, 1; 37).

Die sich allmählich verschlimmernde Strahlenkrankheit lässt auf den nicht wahrnehmbaren Fallout schließen, dessen radioaktiver Grad nur an der Schwere der Auswirkungen deutlich werden kann. Ausgehend von dem linguistischen »Konzept der Vagheit«, wie es Sebastian Löbner beschreibt, könnte man hier für die Bildsemantik folgern, dass unterschiedliche Bild- und Farbreferenten Kategorien aus dem Konzept ›radioaktiv‹ darstellen und seine Beschaffenheit gewissermaßen modifizieren können. Eine lexikalische Bedeutung ist Löbner zufolge »vage, wenn sie eine flexible Anpassung an den Kontext erlaubt« (Löbner, 56). Der Kontext, in den die Radioaktivität gesetzt wird, weist dann auf ihre Beschaffenheit und graduelle Schwere hin. Des Weiteren ist

Vagheit bei allen Konzepten zu verzeichnen, die Merkmale beinhalten, deren Wert auf einer kontinuierlichen Skala oder in einem kontinuierlichen Bereich variieren kann. Farbwörter wie grün haben eine vage Bedeutung, weil wir das Farbspektrum als ein Kontinuum empfinden. Ob wir etwas als »groß« bezeichnen oder nicht, als »lecker« oder nicht, ist eine Frage des Grades auf einer offenen Skala. Steigerbare Adjektive sind generell vage. (Löbner, 56)

Weil nukleare Strahlung graduell messbar ist, ist ›radioaktiv‹ ein steigerbares Adjektiv und damit vage. Das ungefähre Wissen um seine variierenden Strahlungsgrade, die entsprechend unterschiedliche Auswirkungen auf Mensch und Umwelt zeitigen, muss mit in den Katalog der ›Wahrnehmungskompetenzen‹ aufgenommen werden. Löbner weist darauf hin, dass die Vagheit vieler sprachlicher Begriffe als Unvollkommenheit natürlicher Sprache betrachtet werde. Aus seiner Sicht ist sie jedoch eine große Errungenschaft, weil auf diese Weise von den gegebenen semantischen Mitteln ein sehr vielfältiger und effizienter Gebrauch gemacht werden könne (Löbner, 350).

Künstlerischer Journalismus als Form des artistic research

Da Radioaktivität in hoher Dosierung eine tödliche Gefahr für den menschlichen Organismus bedeutet, ist es sehr wichtig, auf ihren Strahlungsgrad hinzuweisen. Doch wie gestaltet sich die Effizienz der Vagheit für das bildsemantische Konzept ›radioaktiv‹ im Comic? Emmanuel Lepage hat sich für die Hilfsorganisation Les enfants de Tchernobyl16 und die Gruppe Les Dessin’Acteurs17 nach Tschernobyl begeben, um vor Ort Bilder des radioaktiv verseuchten Gebietes zu produzieren. Wie Briggs in Strahlende Zeiten, Christin und Bilal in Der Sarcophag und Keiji Nakazawa in Barfuß durch Hiroshima zeigt Lepage die Auswirkungen der radioaktiven Strahlung auf den Menschen, wenn auch nur kurz und in schwarzweißen Bildern aus seiner Erinnerung (vgl. Abb. 13a-d).

Abb. 13a: James und Hilda versuchen »das Gute« ihrer Strahlenkrankheit zu sehen (Briggs 1983, 36). Abb. 13b: Dokumentarische Stills aus Der Sarcophag (Christin/Bilal 2001, 21).
Abb. 13c: Emmanuel Lepage erinnert sich an Fotos aus Tschernobyl (Lepage 2013, 15). Abb. 13d: Große radioaktive Hitze hat die Unterhaut der Opfer aus Hiroshima verkocht (Nakazawa 2004, 46).

Der Künstler betrachtet seine Tätigkeit als politischen Aktivismus: »Man hat mir die Gelegenheit gegeben, zum ersten Mal eine gezeichnete Reportage zu machen. Ich werde nicht mehr nur die Welt betrachten, sondern ›eingebunden‹ sein! Ein Aktivist eben!« (Lepage, Klappentext Rückseite). Er steht damit in der Tradition journalistischer Comics, die nach Pascal Lefèvre

mit dem Konzept des ›langsamen Journalismus‹ in Verbindung gebracht [werden], weil sie in punkto Geschwindigkeit nicht mit Radio, Fernsehen und Internet mithalten können: eine Reportage als grafische Sequenz auszuführen benötigt wesentlich mehr Zeit als ein paar Bilder zu fotografieren oder einen schriftlichen Bericht zu verfassen. Während Zeichnungen nicht mit der dokumentarischen Kraft einer Fotografie mithalten können, so vermögen sie doch ein vertrauenswürdiges Bezugsmodell herzustellen, das sich […] von einer wahrheitsgetreuen Abbildung visueller Eindrücke unterscheidet. Comicjournalismus […] führt dem Leser die Konstruiertheit von Nachrichten vor Augen und kann Inhalte vermitteln, die eine Kamera auf diese Weise nicht einfangen kann. (Lefèvre, 33f.)

In seiner autobiografischen Graphic Novel Ein Frühling in Tschernobyl (2013) begibt sich der Ich-Erzähler Lepage sogar ausdrücklich auf die Suche nach Möglichkeiten, Radioaktivität und ihre unterschiedlichen Ausformungen im Bild festzuhalten, so dass eine Art zeichnerischer Forschungskatalog entsteht, der in die Erzählung von den Erlebnissen in Tschernobyl eingewoben wird und dessen Strategien hier im Vergleich mit den anderen genannten Werken noch genauer betrachten werden sollen. Formal sind vom Atomcomic­zitat über die im schwer verstrahlten Gebiet hastig skizzierten Kohlezeichnung bis zum farbig ausgearbeiteten Aquarellpanel alle Stufen von Lepages künstlerischem Arbeitsprozess im Buch enthalten, denn neben seiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem Thema hat auch die Radioaktivität die Bilder geformt (vgl. Abb. 14).

 
 

Abb. 14: Der Arbeitsprozess des Künstlers ist in den Maltechniken erkennbar (Lepage 2013, 20; 67; 50; 66).

Lepages Arbeit ist ein Beispiel dafür, »dass das Gezeigte nicht einfach ein Spiegel einer historischen Situation ist, sondern eine künstlerische Interpretation darstellt« (Lefèvre, 34), die, so gründlich ihr Produzent auch vorgeht, nur subjektiv und selektiv sein kann. Das gilt auch für den Manga Reaktor 1F. Ein Bericht aus Fukushima von Kazuto Tatsuta, der im Vorwort als »Zeugenbericht eines Kämpfers, nicht mehr und nicht weniger« eingeordnet wird (Nishimura Poupée, 2). Karyn Nishimura Poupée, die Autorin des Vorworts, ist es auch, die die atomkraftunkritische Subjektive von Tatsuta verteidigt:

Natürlich kann man einiges einzuwenden finden, könnte man gelegentlich meinen, der Held sei zu willfährig, ein wenig naiv, sich des Ausmaßes der Gefahr nicht bewusst, er stelle sich auf die Seite des Tepco-Konzerns. Das mag sein… Aber er ist es, der eine Wahl trifft, eine Sicht auf die Dinge anbietet. Der Autor nimmt für sich nicht die Wahrheit in Anspruch, denn er sagt selbst: Er zeichnet nur auf, was er wahrgenommen und durchlebt hat, wie es ein Soldat täte, der, aus dem Krieg heimgekehrt, von der ganzen Auseinandersetzung nur den einen Teil der Schlacht erlebt hat, an der er teilgenommen hat. Doch schmälert das nicht den Wert seiner Erfahrungen. (Nishimura Poupée, 3)

Vielen Kriegsheimkehrern ist es, anders als Tatsuta, dennoch möglich, subjektive Erlebnisse mit einer problematisierenden Perspektive auf das, was ihnen widerfahren ist, zu verbinden, könnte man hier entgegnen. Sie schaffe es, sich kritisch zu positionieren und den »Wert ihrer Erfahrungen« in ihren Berichten konstruktiv in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, indem sie den Verwertungscharakter des Kriegsdienstes offen legen und seine tödlichen Konsequenzen konkret benennen. An Mahnungen, Tatsutas Werk nicht vorschnell zu kritisieren, mangelt es jedenfalls auch im Vorwort des zweiten Teils nicht. Dabei erschließt sich mir persönlich das Argument von Stephane Beaujean nicht, dass Kritik an »Tatsutas beschränkte[r] Sicht der Dinge« zu äußern gleichzeitig bedeute, den Standpunkt der Arbeiter zu ignorieren, die es auf sich genommen hätten, in Furcht zu leben und sich mehr als andere der Verantwortung zukünftigen Generationen gegenüber stellten, indem sie sich voller Mut bemühten, Antworten auf die bedrückende Frage, wie man den Risiken gescheit begegnen und wie man die unvermeidlichen Rückschläge bewältigen könne, die diese endlose Demontage unvermeidlich mit sich bringen werde (Beaujean, 3). Auch wenn Mangaka die Stimmung der Gesellschaft zeichnen, wie es Felix Lill auf dem Buchrücken vom zweiten Teil von Reaktor 1F formuliert, so ist es doch etwas hoch gegriffen, davon auszugehen, man habe die Stimmung der japanischen Gesellschaft aufgenommen, wenn man erst einen Fukushima-Manga gelesen hat, derer mittlerweile über 60 existieren (Hanisch, 22). In diesem Zusammenhang sei auch auf den Skandal hingewiesen, den die Food-Manga-Serie Oishinbo (2009–2014) des japanischen Magazins Big Comic Spirits auslöste, dessen Autoren Tetsu Kariya und Akira Hanasaki eine weniger hoffnungsfrohe Sicht auf die Folgen von Fukushima eröffneten als Tatsuta.18 Denn auch im Falle der Abbildungsreferenten von Radioaktivität im verseuchten Niemandsland gilt, dass »die bildproduzierenden Akteure – etwa FotografInnen, MalerInnen, DokumentarfilmerInnen, GraphikerInnen – in und durch ihr artefakterzeugendes Handeln möglicherweise Position [beziehen], vielleicht sogar gegen andere, bereits bestehende Bildproduktionen […]«, wie Rainer Keller ausführt (Keller, 77).

Die mittelbare oder unmittelbare Zeugenschaft ist ein wichtiges Kontextmerkmal für Comics, die sich mit Atomkatastrophen befassen, und der bereits 2012 erschienene Manga 3/11 – Tagebuch nach Fukushima von Yuko Ichimura ist als Beispiel des Zeitzeugen- bzw. Erfahrungsberichten zu nennen. Sowohl Lepage als auch Tatsuta authentifizieren den Realitätsbezug mit Fotografien der Gebiete, aus denen sie berichten, zu Anfang bzw. am Ende ihrer Werke (vgl. Abb. 15).



Abb. 15: Realitätsbezug durch Einsatz von Fotografien. Links (Tatsuta 2016a, 1); rechts (Lepage 2013, 109; 166).

Einige der Bildreferenten, die Lepage skizziert, um Radioaktivität und den verstrahlten Raum zu illustrieren, werden auch von den Zeichnern der anderen hier genannten Comics in Gebrauch genommen, deshalb werde ich im Folgenden die bildlichen Stellvertreter, die auf radioaktive Strahlung hinweisen, in ihren unterschiedlichen Ausführungen einander gegenüberstellen. Eine funktionale Darstellung der Verteilung radioaktiven Fallouts auf unserem Planeten sind stilisierte Landkarten, die die Wind- oder, im Falle von Fukushima, die Strömungsrichtung angeben (vgl. Abb. 16). Die simpelste Möglichkeit, graduelle Veränderlichkeit von Radioaktivität zu verdeutlichen, bietet sich durch das Abbilden eines Geigerzählers und seiner unterschiedlichen Messwerte.19

Abb. 16: Durch Landkarten wird die Verteilung radioaktiven Fallouts dargestellt (Lepage 2013, 10).

Auch der Umfang der Schutzkleidung, um radioaktive Partikel von sich fernzuhalten, unterscheidet sich je nach Stärke der radioaktiven Gefahr. Tatsuta zählt die Kleidungsstücke bis ins kleinste exemplarische Detail auf und beschreibt auch, wie sie gesäubert werden, während Lepage sie als Fremdkörper im Bild inszeniert. Beide Bildtaktiken können als Formen einer Verfremdung betrachtet werden, die die stringente dokumentarische Erzählung bricht und den menschlichen Lebensraum in Fukushima und Tschernobyl als gesundheitsschädlich auszeichnet, solange man sich nicht entsprechend schützt. Raymond Briggs hingegen entlarvt die ›Schutzkleidung‹ seiner beiden Protagonisten als letztes Aufbäumen einer Zufluchtshoffnung, bevor sie zu Grunde gehen (vgl. Abb. 17).

 

Abb. 17: Unterschiedliche Darstellungen der Schutzausrüstung. (links: Tatsuta 2016a, 62; rechts oben: Briggs 1983, 37; rechts unten: Lepage 2013, 135).

Das Konzept ›radioaktiv‹ ist bei Briggs also durch seine fiktionale und schwarzhumorige Ironisierung vernichtender und hoffnungsloser als bei Lepage und Tatsuta, die die Möglichkeit, dass ein dauerhaftes Leben in der Nähe des kontaminierten ›Niemandslandes‹ mit bestimmten Abstrichen möglich sein kann, in ihren dokumentarischen Darstellungen zumindest nahelegen. Der sich graduell verändernden Farbgebung bei Briggs entfernt ähnlich lässt Lepage immer mehr Farbe in seinen Comic einfließen und vergleicht seine »romantische Faszination« für die verfallenen Gebäude im verstrahlten Gebiet mit der der Ruinenmaler des 19. Jahrhunderts, »aber in Tschernobyl mischt sich ein Schuldgefühl bei.« (Lepage, 91) Der Zeichner kommentiert manche seiner Kreidezeichnungen so, dass deutlich wird, dass alles in seinen Bildern vorhanden ist, außer der Radioaktivität. Er wählt eine Art künstlerisches Ausschlussverfahren in Ermangelung der Fähigkeit, die nukleare Strahlung zu malen und damit zu beweisen, dass sie existiert. Die Farbauswahl wirkt stark überzeichnet, ohne dass der Eindruck natürlichen Frühlingslichts in einem osteuropäischen Wald verloren geht. Dass die Farben, die Lepage für seine Naturbilder in der kontaminierten Zone wählt, manchmal jener Fluoreszenz ähneln, die am Anfang dieses Artikels zur Darstellung von Radioaktivität besprochen wurde, kann ein Zufall sein, der Zeichner erklärt seine Farbaus­wahl nicht. Lepage thematisiert hingegen auf der Ebene der Sprechblasen immer wieder seine Unfähigkeit, »die Wahrheit« ins Bild zu setzen (vgl. Abb. 18).

Abb. 18: Die Vermittelbarkeit der Radioaktivität fällt besonders im Wald schwer (Lepage 2013, 112f.).

Schließlich nimmt er an, dass »vielleicht eine ›Spiegelzeichnung‹«, »dieser ungewollte Abdruck der blauen Bäume auf der nächsten Seite« seines Skizzenbuches, dem nahe komme, was als trugbildhafte Darstellung von Tschernobyl erscheinen könne (Lepage, 114f.; Abb. 19).

Abb. 19: Blaue ›Spiegelzeichnung‹ aus dem Skizzenbuch von Emmanuel Lepage (Lepage 2013, 114f.).

Ist das ›radioaktiv‹? – Sichtbare Merkmale eines unsichtbaren Konzepts

Die visualisierte Radioaktivität im nuklear zerstörten ›Niemandsland‹ des Comics ist mehr als die Summe ihrer Referenten. Ereignisgenerierte Abbildungen, wie die ›Mushroom Cloud‹ oder der japanische ›Pika-don‹, weisen durch den möglichen »Wechsel der Zeigehorizonte«, mit dem »Visualisierungen mithin sowohl unterschiedlich gestaltet […] wie auch sehr unterschiedliche Funktionen übernehmen [können]« (Keller, 79) eine Ambivalenz auf, die erst durch eindeutige Kontextualisierungen und Bewertungen behoben werden kann. Dem Katastrophenraum als ›Alltagsgegenstände‹ zugehörige Objekte, wie der Geigerzähler, die Schutzkleidung oder von wildlebenden Tieren bewohnte verfallene Industriebrachen, sind im Bild darstellbare Auswirkungen, die an ›Radioaktivität‹ als unsichtbare Ursache rückgebunden werden, und anhand derer, wie im Falle der benötigten Schutzkleidung oder körperlicher Schäden durch die Strahlenkrankheit, ein Eindruck über die graduelle Stärke der Radioaktivität hervorgerufen werden kann, der die jeweilige Beschaffenheit des vagen Konzepts von ›radioaktiv‹ definiert und eingrenzt. Dies kann auch durch ursächlich kontextualisierte graduelle Farbveränderungen und ›Radioaktivität‹ verdeutlichende Strahlungsreferenten funktionieren, wie ein leuchtender ›Schimmer‹ oder vom strahlenden Objekt ausgehende ›Wellen‹. Diese Zeichen, je nach dem, ob sie isoliert oder in Verbindung zueinander eingesetzt werden, evozieren ein immer anders beschaffenes ›Unsichtbares‹ von Radioaktivität, das sich der Bildumgebung der jeweiligen Erzählung entsprechend anpasst. Das bewusste Infragestellen von schon bestehenden Bildproduktionen im Sinne einer ›Bildgewohnheit‹, betreibt Emmanuel Lepage ausdrücklich, wenn er die finstere gräulich-schwarze Betontristesse Tschernobyls durch beinahe unnatürlich leuchtende frühlingshafte Landschaftsbilder konterkariert. Er präzisiert seine widersprüchliche Wahrnehmung der verseuchten Umgebung im Bild und folgt seinem übergeordneten professionellen Interesse an einer künstlerisch falsifizierenden und sich von vorangegangenen Bildstrategien emanzipierenden ›Forschung‹. Lepage verzichtet nicht darauf, den wissenschaftlichen Authentizitätsanspruch und die subjektiven ›Wahrnehmungskompetenzen‹ des vom empirischen Autor vorausgesetzten empirischen Betrachters als konfligierende Elemente im eigenen Schaffen herauszuarbeiten. Dies gilt auch für das gleichzeitige Installieren von ›Wirklichkeitseffekten‹ und eigener politischer Positionierung. Er lässt sich damit zwischen Tatsuta, dessen Bilder hinsichtlich Radioaktivität als unkritisch und neutral bezeichnet werden können, und Nakazawa, Briggs, Christin und Bilal einordnen, die in ihren Bildern anhand gradueller Drastik und kontextualisierender ›Seh-Hilfen‹, wie zum Beispiel ironischer Stilmittel im Text, eindeutig auf die Gefahren von Radioaktivität und Atomkraft referieren.

Die Untersuchung des Bilddiskurses der Radioaktivität im Comic ist mit diesen Überlegungen noch lange nicht abgeschlossen. Nicht zuletzt, weil dem in diesem Artikel besprochenen kleinen Textkorpus nur Beispielcharakter zukommen kann und andere Formen des Mediums wie Strips, Karikaturen oder pädagogische Lehrbücher nicht berücksichtigt werden. Auch eine genauere Betrachtung der historischen Entwicklung des Diskurses von Radioaktivität und Atomkraft im Bild wäre hoch interessant, da anzunehmen ist, dass ihr Motiv entscheidend von gesellschaftspolitischen Einflüssen geprägt wird und zeitgenössische Künstler_innen mit geschärftem Blick aufgreifen, welche Folgen die bis heute nicht aus der Welt zu schaffende katastrophale Zerstörungskraft der Radioaktivität für unseren Lebensraum und unser Zusammenleben hat und möglicherweise haben wird.

Emmanuel Lepage hat seinem Buch Ein Frühling in Tschernobyl folgendes Zitat von Rainer Maria Rilke vorangestellt:

Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch gerade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören.

Ein jeder Engel ist schrecklich. (Lepage, 2)

Auf dass kein Mensch dem Schrecken des nuklearen Engels jemals wieder begegnen muss, er ist schon zu lange unerträglich.

_______________________________________________________

Bibliografie

  • Beaujean, Stéphane: Orientalismus Vermeiden. Vorwort von Stéphane Beaujean. In: Kazuto Tatsuta: Reaktor 1F. Ein Bericht aus Fukushima. Teil 2. Hamburg: Carlsen Verlag, 2016, S. 2–3.
  • Briggs, Raymond: Strahlende Zeiten. Frankfurt am Main: Wolfgang Krüger Verlag, 1983.
  • Ceranski, Beate: Das authentische Radium. Die Zurichtung der frühen Radioaktivitätsforschung zum kulturellen Konsumgut. In: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag. Hg. von Silvia Paletschek, Band 16, Heft 1 Köln: Böhlau, S. 92–117.
  • Christin, Pierre u. Enki Bilal: Der Sarcophag. Der Briefwechsel. Projekt für ein Museum der Zukunft. Berlin: Egmont Ehapa Verlag GmbH, 2001.
  • Dath, Dietmar u. Oliver Scheibler: Mensch wie Gras wie. Berlin: Verbrecher-Verlag, 2014.
  • Eco, Umberto: Lector in Fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. München/Wien: Carl Hanser Verlag, 1987.
  • Grünewald, Dietrich: Zwischen Fakt und Fiktion. Dokumentarische Bildgeschichten. In: Der dokumentarische Comic. Reportage und Biografie. Hg. v. Dietrich Grünewald. Essen, Bachmann Verlag, 2013, S. 9–16.
  • Hahn, Hans-Joachim: »Reality beats out surrealism every time!«. Realitätseffekte reconsidered: Comics als Reflexionen von Wirklichkeit. In: Der dokumentarische Comic. Reportage und Biografie. Hg. v. Dietrich Grünewald. Essen, Bachmann Verlag, 2013, S. 75–89.
  • Heyden, Linda-Rabea: Interpiktorialität im Comic. Versuch einer Systematik zu bildlichen Bezugnahmen in Comics. In: Interpiktorialität. Theorie und Geschichte der Bild-Bild-Bezüge. Hg. v. Guido Isekenmeier. Bielefeld: transcript Verlag, 2013, S. 281–298.
  • Ichiki, Masashi: Embracing the victim-hood. A history of A-bomb manga in Japan. In: IJAPS, Vol. 7, No. 3 (Special Issue, September 2011). <http://ijaps.usm.my/wp-content/uploads/2012/07/AbombManga-MasashiIchiki.pdf>. Letzter Zugriff am 27.11.2016.
  • Keller, Rainer: Die komplexe Diskursivität der Visualisierungen. In: Perspektiven wissenssoziologischer Diskursforschung. Theorie und Praxis der Diskursforschung. Hg. v. Saša Bosančić und Reiner Keller. Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2016, S. 75–93.
  • Lefèvre, Pascal: Die Modi dokumentarischer Comics. In: Der dokumentarische Comic. Reportage und Biografie. Hg. v. Dietrich Grünewald. Essen, Bachmann Verlag, 2013, S. 31–49.
  • Lepage, Emmanuel: Ein Frühling in Tschernobyl. Bielefeld: Splitter, 2013.
  • Löbner, Sebastian: Semantik. Eine Einführung. Berlin: de Gruyter, 2013.
  • Nakazawa, Keiji: Barfuß durch Hiroshima. Teil 1. Kinder des Krieges. Hamburg: Carlsen Verlag, 2004.
  • Nishimura Poupée, Karyn: Der Zeugenbericht eines Kämpfers, nicht mehr und nicht weniger. In: Kazuto Tatsuta: Reaktor 1 F. Ein Bericht aus Fukushima. Teil 1. Hamburg: Carlsen Verlag, 2016, S. 2–3.
  • Paul, Gerhard: ›Mushroom Clouds‹. Der atomare Bildakt und seine transkulturelle Resonanz. In: Gerhard Paul: BilderMACHT. Studien zur »Visual History« des 20. und 21. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein Verlag, 2013, S. 245–284.
  • Posner, Roland: Atommüll als Kommunikationsproblem. In: Warnungen an die ferne Zukunft. Atommüll als Kommunikationsproblem. Hg. v. Roland Posner. München: Verlag von Wittern,1990, S. 7–16.
  • Sachs-Hombach, Klaus: Bildbegriff und Bildwissenschaft. In: kunst – gestaltung – design, Heft 8. Hg. v. Dietfried Gerhardus und Sigurd Rompza, Saarbrücken: Verlag St. Johann, 2002.
  • Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft. Köln: Halem, 2003.
  • Tatsuta, Kazuto: Reaktor 1F. Ein Bericht aus Fukushima. Teil 1. Hamburg: Carlsen Verlag, 2016.
  • Tatsuta, Kazuto: Reaktor 1F. Ein Bericht aus Fukushima. Teil 2. Hamburg: Carlsen Verlag, 2016.
  • Träbert, Elmar: Radioaktivität – verständlich. Norderstedt: Books on Demand GmbH, 2007.

Filmografie

  • hadashi no gen (Barfuß durch Hiroshima; JP 1983; R: Mori Masaki)

Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: Autor und Jahr unbekannt, Pharmazie-Historisches Museum der Universität Basel, Schweiz.
  • Abb. 2: United States Department of Defense. <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Operation_Crossroads_Baker_Edit.jpg?uselang=de>. Letzter Aufruf 01.12.2016.
  • Abb. 3: Links: barfuß durch hiroshima (JP 1983); rechts: <http://www.eluniversal.com.mx/articulo/mundo/2015/08/2/el-aterrador-inicio-de-la-era-atomica>. Letzter Zugriff am 27.11.2016.
  • Abb. 4: Lepage 2013, 111.
  • Abb. 5: Christin/Bilal 2001, 54f.
  • Abb. 6: Dath/Scheibler 2014, 16f.
  • Abb. 7: Posner 1990, 15.
  • Abb. 8: Briggs 1983, Cover.
  • Abb. 9: Briggs 1983, 18f.
  • Abb. 10: Briggs 1983, 20f.
  • Abb. 11: <http://www.saatchigallery.com/aipe/andy_warhol.htm>. Letzter Zugriff am 26.11.2016.
  • Abb. 12: Briggs 1983, 1; 37.
  • Abb. 13a: Briggs 1983, 36.
  • Abb. 13b: Christin/Bilal 2001, 21.
  • Abb. 13c: Lepage 2013, 15.
  • Abb. 13d: Nakazawa 2004, 46).
  • Abb. 14: Lepage 2013, 20; 67; 50; 66.
  • Abb. 15: Links: Tatsuta 2016a, 1; rechts: Lepage 2013, 109; 166.
  • Abb. 16: Lepage 2013, 10.
  • Abb. 17: Links: Tatsuta 2016a, 62; rechts oben: Briggs 1983, 37; rechts unten: Lepage 2013, 135.
  • Abb. 18: Lepage 2013, 112f.
  • Abb. 19: Lepage 2013, 114f.