Sechshundert Seiten Stadt- und Seelen-Panorama

Bei mir zuhause rezensiert von Dorothee Marx

Mit Bei mir zuhause legt Paulina Stulin ein im wahrsten Sinne des Wortes wuchtiges Werk vor: Auf über 600 Seiten erkundet die Autorin in ihrem autofiktionalen Tagebuchcomic das Leben mit Ende zwanzig, voller Umbrüche und Selbstzweifel, aber auch Sinnfindung, Selbsterforschung und Lebensmut und schafft dabei ein betörend schönes Panorama ihres (Innen-)Lebens – und ihrer Heimatstadt Darmstadt.

Abb. 1: Paulina dokumentiert ihre Frustration in ihrem Comic (293).

Nachdem sie sich bei einem Fahrradunfall den Ellenbogen gebrochen hat, kommt Paulina Stulin von der schmerzhaften Physiotherapie zurück in ihre Dachgeschosswohnung. Dort zeichnet sich die Autorin in einer Abfolge mehrerer Panels heulend vor Schmerzen im Bett liegend. Doch schließlich setzt sich ihr Avatar auf und verkündet: »Nee, Schluss jetzt mit dem Selbstmitleid! /Das ist doch gutes Material, was ich hier grade erlebe./ Daraus kann man doch was machen.« (293). Die folgenden Seiten zeigen Paulina an ihrem Computer, beim mühevollen Versuch, etwas zu Papier zu bringen (Abb. 1). »Warum tue ich die ganze Quälerei eigentlich an?« fragt sie schließlich resigniert, nur um sich im nächsten Panel selbst die Antwort zu geben: »Na weil es das Einzige ist, was für mich in dieser Scheißwelt Sinn ergibt.« (297)

In dieser und ähnlichen Szenen lässt Stulin die Leser_innen an der Entstehung ihres monumentalen »Tagebuchromans« (JaJa Verlag) teilhaben, den sie zu diesem Zeitpunkt bereits in den Händen halten. Das Ergebnis der »Quälerei«, die Stulin in diesen metaleptischen Sequenzen sichtbar macht, ist ein 600-seitiger Wälzer, ein großartiges Panorama des hessischen Darmstadts und des Lebens mit Ende zwanzig. Paulinas Avatar beschreibt Bei mir zuhause selbst folgendermaßen: »Es geht ums Zuhausesein./ Um Rausch./ Und ums Dreissigwerden«, mahnt aber gleichzeitigt: »Ist aber keine Autobiografie./ Fiktion aber auch nicht« (487). Tatsächlich lässt die einnehmende Erzählung Leser_innen vergessen, dass auch die intimsten der Einblicke, die uns gewährt werden, sorgfältig ausgewählt und bewusst angeordnet sind. Nur diese kleinen Hinweise erinnern kurz an die ›Gemachtheit‹ von Bei mir zuhause, bevor man sich wieder in der perfekten Illusion verliert, an Paulinas Leben teilhaben zu dürfen. Genau diese Illusion ist es natürlich, die den Reiz und die Faszination des Comics ausmacht.

Abb. 2: Paulinas Dachgeschosswohnung

ist der Ausgangspunkt der Erzählung (53).

Zentrum der Erzählung ist die Dachgeschosswohnung der Protagonistin in der Alicestraße (Abb. 2). Von diesem Zuhause aus bewegt sich Paulina durch ein buntes Mosaik aus alltäglichen Situationen und tiefgründigen, politischen, manchmal albernen Gesprächen, wiederholt unterbrochen von doppelseitigen Splashpages, die entweder sie selbst, oft in intimsten Momentaufnahmen, oder ihre Umgebung zeigen – ihre Wohnung und immer wieder das Straßenbild von Darmstadt. Die Stadt wird dabei geradezu zur zweiten Hauptdarstellerin in der Geschichte. Stulin zeichnet sie bei Tag und bei Nacht: Wir sehen den Blick über die Dächer aus ihrer Dachgeschosswohnung und die Straßenzüge, die sie zu Fuß und mit dem Rad, allein oder mit Freunden erkundet. Dabei spiegeln die Stadtporträts oft Paulinas Stimmung wider. Ist sie guter Dinge, zeigt den Leser_innen die schönen Seiten der hessischen Kleinstadt, blauen Himmel über bunten Fassaden und farbenfrohen Dächern. Während sie mit Liebeskummer kämpft, kippt die Farbpalette ins Graue und wir sehen Graffiti, Pflastersteine, Verkehrsschilder, menschenleere Rolltreppen, Hundescheiße, Zigarettenkippen und einen halbgegessenen Döner auf dem Boden (Abb. 3).

Abb. 3: Bei schlechter Stimmung verändert sich auch Paulinas Wahrnehmung der Stadt und die Farbpalette (224).

Diese Ansichten bestimmen auch den Einstieg in die Lektüre, denn Bei mir zuhause beginnt mit einem Umbruch: dem Ende einer sechsjährigen Beziehung. Was folgt, ist eine intensive Auseinandersetzung mit dem Leben, eine Mischung aus Introspektion und Begegnungen mit anderen Menschen. In einem Interview vergleicht Stulin den Comic mit einem Fenster: »Im Sinne, dass ich durch das Buch Einblick in mein Oberstübchen gewähre… als auch, dass ich darin meinen Ausblick auf die Welt zeige.« (JaJa Verlag 2020). Und tatsächlich blicken wir immer wieder durch Paulinas Dachfenster auf die Stadt, und durch die Panels der Comicseiten auf ihr (Seelen-)Leben. Dabei gewährt der Comic tiefe Einblicke in Alltägliches und scheinbar Banales. Stulin zeichnet ihren Avatar beim Kochen (Abb. 4), beim Putzen der Dachgeschosswohnung, beim Schlafen, beim Essen, beim Feiern mit Freunden, unter der Dusche und auf dem Klo, beim Sex und beim Zeichnen des Comics.

Abb. 4: Beim Kochen bleibt Zeit, die Gedanken schweifen zu lassen (157).

Laut Stulin spielt der Comic in der Zeit zwischen 2015 und 2019 (JaJaVerlag 2020) und thematisiert auch die gesellschaftlichen Konflikte dieser Zeit. In den vielen Begegnungen und Gesprächen mit anderen Menschen wird zum Beispiel auch die Flüchtlingskrise Thema. So gerät Paulina auf einer Party mit einem Mann aneinander, der rechte Übergriffe verharmlost oder sie reißt einen AfD-Aufkleber von einer Ampel ab. In den Gesprächen geht es aber auch immer wieder um ›den Sinn des Lebens‹ und wie Paulina und die Menschen, denen sie begegnet, sich die Zukunft vorstellen.

Abb. 5: Unverstellter Blick auf den nackten Körper der Protagonistin (603).

Der Avatar selbst verändert sich äußerlich kaum und wird fast immer in der gleichen Kombination aus schwarzer Hose und schwarzem Top abgebildet. Ihren Körper zeichnet Stulin dafür in allen Details. Immer wieder folgen seitenlange Sequenzen, die sie uns nackt zeigen, etwa beim nächtlichen Schwimmen im See, beim Sex, oder, am Ende des Comics, in einer beeindruckende Panelabfolge, in der sich Stulin nackt von Kopf bis Fuß eincremt (Abb. 5).

Die Intimität der Bilder wird durch den Stil des Comics dabei noch unterstrichen. Stulin folgt der New Barbizon School, einem israelischen Künstlerkollektiv, das den Ansatz der Barbizon Künstlerkolonie adaptiert, deren Mitglieder Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in der Nähe von Paris Landschaften malten. In diesem impressionistischen Stil aus scheinbar weichen Pinselstrichen ohne Ränder und scharfe Konturen ähneln die Panels kleinen Gemälden, die seitenlang ohne Sprechblasen auskommen und dabei Gefühle oft nur über Paulinas Gesichtsausdrücke kommunizieren. So zeigt eine Doppelseite zum Ende des gemeinsamen Urlaubs mit ihrer Freundin die beiden auf dem nächtlichen Weg zum Flughafen. Paulina, die kurz vor dem Aufbruch noch Sex im Badezimmer mit einem der anderen Gäste hatte, kann sich das Grinsen nicht aus dem Gesicht wischen und reagiert mit einem verlegenen Lachen auf den fragenden Blick der Begleiterin, die mit einem stummen Augenrollen antwortet. Für die Kommunikation zwischen den beiden braucht es an dieser Stelle keine Worte (Abb. 6).

Abb. 6: In vielen Sequenzen findet Kommunikation nur durch Blicke statt (411).

Dabei ist Stulins Sicht auf sich selbst zwar oft kritisch und von Zweifeln geplagt, aber durch die weiche Linienführung wirken ihre Selbstportraits nie herabwürdigend oder voyeuristisch, sondern stets freundschaftlich und verständnisvoll. Auch wenn sie die Unzufriedenheit mit ihrem Gewicht, oder die (Nicht-)Notwendigkeit des Rasierens thematisiert, sucht der Comic doch stets nach dem Gefühl, sich im eigenen Körper ›zuhause‹ zu fühlen. So gelingt Stulin ein berührendes, manchmal komisches, aber immer authentisches Portrait des Lebens mit Ende zwanzig. Nach der Lektüre meint man, Paulina persönlich zu kennen und hat sich dabei vielleicht in der ein oder anderen Sequenz auch selbst wiedererkannt.

Bibliografie

  • JaJa Verlag. »JAJATUBE - Paulina Stulin im Comicinterview & Gespräch -7/2020«. YouTube, 11.07. 2020. https://www.youtube.com/watch?v=WlJP5MJ3zhQ (27.08.2021).

 

Bei mir Zuhause
Paulina Stulin
Berlin: JaJa Verlag, 2020
612 S., 35,00 Euro
ISBN 978-3-948904-00-5