Die absonderliche Geschichte vom »Freistaat Flaschenhals«

Eine Graphic Novel erzählt eine vergessene Episode aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg

Freistaat Flaschenhals rezensiert von Frank Kaltofen

Am Beginn dieser Geschichte steht ein Ende – das des Ersten Weltkriegs. Der berühmte Eisenbahnwaggon von Compiègne, in dem der Waffenstillstand vom November 1918 besiegelt wurde, eröffnet die außergewöhnliche Erzählung über den »Freistaat Flaschenhals«. Dieser verdankt den Namen seiner optischen Gestalt auf der Landkarte: ein Territorium, das durch ein kartografisches Missgeschick zwischen den von den Alliierten besetzten Gebieten auf der deutschen Rheinseite entstanden war – ein Niemandsland sozusagen, bewohnt von etwa 17.000 Menschen.

Einer von ihnen ist Albert, der Protagonist dieser Graphic Novel, ein junger Kriegsheimkehrer, gezeichnet von Erinnerungen an den Grabenkrieg und einen persönlichen Verlust. Über Wiesbaden weht die Trikolore, als sich der Freistaat Flaschenhals für unabhängig erklärt. Der oberste Befehlshaber der französisch besetzten Gebiete warnt Albert und den machtbewussten Bürgermeister: »Ihre Lage ist aussichtslos!« Die Bevölkerung hält sich durch Schmuggel in den und aus dem Freistaat über Wasser, wobei die Situation der Flaschenhals-Bewohner immer wieder durch äußere Umstände – etwa die Ruhrbesetzung oder die Hyperinflation – entscheidend beeinflusst wird.

Dass der Autor von Freistaat Flaschenhals, Marco Wiersch, der hier als Szenarist seine erste Graphic Novel vorlegt, vom Drehbuchschreiben (u.a. Tatort) kommt, merkt man deutlich. An einigen Stellen will diese Erzählung dabei zu sehr (Comic-)Vorlage für eine Verfilmung sein. Als filmreife Graphic Novel wird manchen das positiv beeindrucken, andere werden beim Lesen der Meinung sein, dass solch eine inhärente »Verwertungslogik« dem Comic eher nicht guttut. Im Subtext schwingt stets eine gewisse Theatralik mit, sowohl durch bedeutungsschwangere Off-Kommentare als auch durch mehrere, unterschiedlich stark ausgeleuchtete Liebesgeschichten.

Bernd Kissels markanter Zeichenstil, der auch bei der Absurdität von Münchhausen (ebenfalls bei Carlsen erschienen, in Zusammenarbeit mit Flix) gut aufgehoben war, erweist sich auch hier wieder als passend. Und wie schon bei Münchhausen beweist Kissel ein Gespür für kreative Seiten- und Panelarchitektur, wo es sich anbietet. Der temporeich erzählte historischen Stoff braucht zudem keine fotorealistische Strichführung, um fesselnd zu sein. Gleichzeitig harmoniert das Cartoonige in Kissels Figurendarstellung mit der Absurdität, die dieses Freistaat-Szenario an vielen Stellen mitbringt, ohne allerdings das Schicksal der Betroffenen ins Lächerliche zu ziehen. Dass dabei gänzlich ohne Farben, dafür unter sehr bewusstem Einsatz diverser Grautöne gearbeitet wird, steht der Graphic Novel gut zu Gesicht.

Aber: Was bleibt vom Freistaat? Als im Sommer 1930 die Besatzung endet, verschwindet auch der Flaschenhals von der Landkarte. Der Epilog des Comics adressiert die Frage, was aus den Personen geworden sein könnte, in den anschließenden Jahren, als die Hakenkreuz-Fahnen auftauchten: Wer war Mitläufer, wer Widerständler; wer fand sich später an der Front wieder, wer im Konzentrationslager? Hier beweist die Graphic Novel von Kissel und Wiersch noch einmal erzählerische Stärke. In Gänze betrachtet ist Freistaat Flaschenhals aber eher von allem ein bisschen: Ein wendungsreicher Polit-Thriller. Eine Geschichte über Nationalismus und rassistische Vorbehalte. Eine Posse über Provinzbeamte mit Größenwahn und trickreiche Landbewohner. Eine historische Darstellung über Grenzziehungen und passiven Widerstand. Irgendwie ist Freistaat Flaschenhals all dies. Zu viel für knapp 200 Seiten Graphic Novel, um nicht wie erzählerisches Stückwerk zu wirken.

 

Freistaat Flaschenhals
Marco Wiersch, Bernd Kissel
Hamburg: Carlsen, 2019
208 S., 20,00 Euro
ISBN 9783551781505