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Quasi-Figuren
Im Grenzbereich der Körperlichkeit

Thierry Groensteen

 

In jeder ErzÀhlung passiert jemandem etwas. Dieser Jemand wird Figur genannt. Von jeher haben ErzÀhler_innen, Drehbuchautor_innen und Romanciers_iÚres die Figur als treibende Kraft der ErzÀhlung betrachtet, diejenige, ohne die es keine mögliche ErzÀhlung gÀbe.

Françoise Lavocat beobachtet dennoch, dass die schriftlich orientierte Kultur unlĂ€ngst »eine gewisse Herablassung«1 an den Tag legt in Bezug auf »den spielerischen, affektiven, imaginativen Gebrauch«, den einige Leser_innen von fiktionalen Figuren machen – eine Einstellung, die ausgedient hat in der Stunde des Triumphs der pop culture und der »Aufregung um die neuen kollektiven Praktiken der Fiktion – Fan-Fiction, virtuelle Welten, Cosplay – «2.

Ob im Roman, im Kino, im Fernsehen oder im Comic, die Figur ist fĂŒr gewöhnlich das Resultat einer Ausarbeitung, die aus Prozessen physischer, sozialer und moralischer Charakterisierungen besteht. Weil ihr eine Gesamtheit an Zuschreibungen und QualitĂ€ten gegeben ist, kann sie, in den Augen der Öffentlichkeit, eine Person darstellen, und wie eines der »experimentellen Egos«3 funktionieren, von welchen Milan Kundera spricht, anhand derer »der Autor ĂŒber experimentelle Ichs (Figuren) einigen großen Themen der Existenz auf den Grund geht« (Kundera 2007, 178).

Es ist entscheidend, so schreibt Vincent Jouve, dass die Figur uns glauben lĂ€sst, sie existiere auch außerhalb des Papiers. Auch Jean-Marie Schaeffer besteht darauf: »die Projektion, die uns dazu bringt, die [Figur] wie eine Person zu behandeln, ist essentiell fĂŒr das Erschaffen und die Rezeption von ErzĂ€hlungen«4. Das ist es, was man die Referenzillusion nennt.

Es handelt sich tatsĂ€chlich um eine Illusion, denn offensichtlich sind die fiktionalen Wesen nicht mehr als das, was Étienne Souriau »fĂŒrsorgebedĂŒrftig« (130) nennt, was bedeutet, dass sie eigentlich außerhalb der Aufmerksamkeit, die wir ihnen schenken, nicht existieren.

Diese Illusion entsteht in der Literatur und im Comic, in denen man auf ein einfaches â€șWesen aus Papierâ€č trifft, sicher nicht auf dieselbe Weise wie auf der BĂŒhne oder auf dem Bildschirm, wo man es mit einer Figur aus Fleisch und Blut zu tun bekommt, verkörpert durch die Schauspieler_innen. Dennoch ist es bemerkenswert, dass die fehlende Fleischwerdung der Figur keinesfalls bedeutet, dass die Illusion nicht entsteht: die Leser_innen können sich leidenschaftlich fĂŒr das Schicksal von Anna Karenina begeistern, genauso wie fĂŒr das von Mike S. Blueberry, Verlangen nach SalammbĂŽ empfinden genauso wie Mitleid fĂŒr Charlie Brown. Das rĂŒhrt daher, dass die Figur vor allem eine Konstruktion des Textes und des Plots ist. Wir sehen sie in Situationen verstrickt, die unsere Sympathie wecken, und sehen sie mit anderen Figuren interagieren, die als â€șEntwickler_innenâ€č dienen. Auf diese Weise projizieren wir dieselben GefĂŒhle auf sie, die auch eine reale Person in uns auslösen kann.

Wir haben bis hierher den traditionellen Blick auf die Figur zusammengefasst, der einem intuitiven umgang mit den ErzĂ€hlern genauso wie den Rezipienten von Geschichten entspricht. Allerdings wurde dieser Ansatz in Frage gestellt. So war fĂŒr den â€șnouveau Romancierâ€č Alain Robbe-Grillet, die Figur nicht mehr das Äquivalent einer Person, sondern vielmehr eine Funktion. Er berief sich dabei auf die strukturalistischen ErzĂ€hltheorien, die nach Vladimir Propp abstrakte Kategorien von Aktanten unterscheiden.

Vor mittlerweile doch recht langer Zeit dachte Aristoteles darĂŒber nach, dass die Idee der Figur sekundĂ€r sei im Vergleich mit der der Handlung und jene dieser unterstellt sein mĂŒsse. Seine Poetik erklĂ€rt, dass es Geschichten geben kann ohne Charaktere, aber keinen Charakter ohne Geschichte.

Nach Robert Scholes, James Phelan und Robert Kellogg heben die â€șhöherenâ€č Werke der modernen Literatur die Figur hervor (angereichert mit dem Erbe der Freud’schen Psychologie), wĂ€hrend die â€șniederenâ€č Genres (zum Beispiel der Abenteuerroman) der Handlung den Vorrang gewĂ€hren (Scholes/Phelan/Kellogg, 237).

Wenn man sich dieser Unterscheidung anschließt, hĂ€tte der Comic, der ja sehr lange Zeit von der Abenteuergeschichte in all ihren Facetten dominiert war, also die Handlung bevorzugt, wĂ€hrend in jĂŒngster Zeit die Figur wieder zu ihrem vollen Recht gekommen sei, dank des Aufschwungs von Autorencomics, die oft das innere Abenteuer in den Vordergrund stellen. »Die Tatsache, dass er sich in den Fußstapfen des â€șrealistischen und psychologischen Romansâ€č sowie der Bekenntnisliteratur bewegt, ist zweifellos einer der GrĂŒnde dafĂŒr, dass der Comic, der in diesem Zuge mit dem Eskapismus brach, an Ansehen gewinnen konnte.«5

Wenn ein und dieselbe Figur ĂŒber die Jahre hinweg eine lange Reihe von Abenteuern erlebt, kann sie sich zahlreiche CharakterzĂŒge zulegen und erlangt schrittweise eine unbestreitbar reiche Persönlichkeit. Ich denke hier im Besonderen an KapitĂ€n Haddock, ein experimentelles Ego, das aus einem besonders reichhaltigen â€șmenschlichen Knetmasseâ€č gemacht zu sein scheint.

Auf der Suche nach etwas, das charakteristisch fĂŒr die gezeichnete Figur ist, kommt einem als erstes in den Sinn, dass sie nicht trennbar ist von ihrem Design – oder, wenn man lieber möchte, ihrer grafischen Kodierung. WĂ€re sie anders gezeichnet, wĂ€re sie nicht mehr dieselbe. Jean-Christophe Menu merkte apropos der Figur, die ihn in seinen autobiografischen Comics reprĂ€sentiert, an: »Es sind der Strich und der Stil, die in der Lage sind, diesem â€șIch aus Papierâ€č Konsistenz zu verleihen, und nicht die Ähnlichkeit. [...] Ist mein Strich mein eigentlicher Körper?«6 Im Grunde kann man, bei Ă€hnlichen Bedingungen, genau dies ĂŒber jede gezeichnete Figur sagen: Ihr Strich ist ihr wirklicher Körper.

Wenn eine Figur Anklang findet, schreibe ich im Übrigen den Erfolg zu ungefĂ€hr gleichen Teilen ihren persönlichen QualitĂ€ten und dem Vermögen des_der Zeichnenden zu. Haddock, da wir gerade von ihm sprachen, ist sicher eine anziehende Figur, aber seine Menschlichkeit schuldet er dem Genie von HergĂ©, der fĂ€hig war, seinem Gesicht eine unendliche Anzahl von Ausdrucksnuancen zu geben, und das mit nur einer kleinen Anzahl minimalistischer grafischer Zeichen. Gleichermaßen ist die physische VerfĂŒhrung, die ich beispielsweise bei einer femininen Figur finden kann, auch ambivalent: Wenn ich Chihuahua Pearl anziehend finde (oder Natacha oder Colombe Tiredaille oder Pelisse – setzen Sie hier den Namen der Ihrer Meinung nach verfĂŒhrerischsten Heldin ein), bedeutet dies auf der einen Seite, dass die Figur mich anzieht, und auf der anderen Seite, dass Giraud (oder WalthĂ©ry oder Dany oder Loisel ...) sehr gut Frauen zeichnen kann. Die fleischliche HĂŒlle besteht gleichzeitig aus einer Silhouette und dem Strich. Eine gelungene fiktive Figur ist eine, an die man sich erinnert. Wenn meine Erinnerung eine gezeichnete Figur heraufbeschwört, die mir gefallen, mich interessiert, gar fasziniert hat, ist das mentale Bild, das sich formt, das einer Zeichnung.

Oder, wenn alle Figuren, die die Comics bevölkern, gleichermaßen aus â€șmenschlicher Knetmasseâ€č und Zeichnung gemacht sind, gibt es wiederum einige, die hauptsĂ€chlich aus Zeichnung bestehen, was heißt, sie sind der vielen Eigenschaften beraubt, die gewöhnlich aus einer Figur ein experimentelles Ego machen. Im Folgenden werde ich auf einige Beispiele dieser â€șQuasi-Figurenâ€č eingehen.

Es gibt zunĂ€chst die Kategorie der â€șwinzig Kleinenâ€č. Seine Figur so zu miniaturisieren, dass sie eine GrĂ¶ĂŸe von weniger als 1 cm hat, stellt einen Distanzierungsprozess dar und verpflichtet zur grafischen Vereinfachung. Dies ist ein Gestus, der aus dem Willen zum Minimalismus heraus entsteht. Im NiederlĂ€ndischen heißen die kleinen Wesen, mit denen sich die Zeichnerin Maaike Hartjes selbst darstellt, â€șkrabbelsâ€č, ein Wort, das gleichzeitig Handzeichnung und Gekritzel bedeutet (Abb. 1). Hartjes ist 1972 geboren und wurde bekannt durch eine Serie autobiografischer Mini-Comics, veröffentlicht unter dem Gesamttitel Maaike’s Dagboekje (Maaikes TagebĂŒchlein). â€șDagboekjeâ€č statt â€șDagboekâ€č (Hartjes, â€șHerzchenâ€č): die Diminutive scheinen die Miniaturdimension ihrer kleinen grafischen Welt sogar noch zu unterstreichen.

Abb. 1: Maaike Hartjes: Mon Journal. Paris: La CafetiĂšre, 1999, o. S.

Vor allem veröffentlicht im alternativen Comic-Magazin Zone 5300, im Frauenmagazin Viva und in der Tageszeitung NRC, bewegte sich die Zeichnerin weg von einer simplen Chronik ihres Alltags hin zu ernsteren Themen. Sie berichtet von ihrer Auseinandersetzung mit der Apartheid in SĂŒdafrika und ihrem plötzlichen Burnout Ende 2014 (Hartjes 2018). In diesem Werk drĂŒckt sie ihre Erschöpfung aus, ihre Verzweiflung, ihre Panikattacken, und integriert auf ihren Seiten Fotos von BriefumschlĂ€gen, Post-Its, Bustickets, und andere Papierfetzen aller Art.

Hartjes ist durchaus fĂ€hig, auf andere Art als in krabbels zu zeichnen: In einem realistischen Stil hat sie eine epische FantasyerzĂ€hlung mit dem Titel Lyla veröffentlicht. Zwei Dinge können hier also festgehalten werden – zunĂ€chst der umstand, dass sie ihrem winzigen Alter Ego die Aufgabe anvertraut hat, sehr persönliche, dĂŒstere und schmerzhafte Situationen auszudrĂŒcken, was beweist, dass sie ihm die WirkmĂ€chtigkeit einer Figur voll und ganz zuschreibt. Außerdem, dass sie dachte, der minimalistische grafische Stil sei nicht inkompatibel mit einem sehr viel elaborierterem materiellen und sensorischen Aufwand.

Kommen wir zum ersten dieser beiden Punkte zurĂŒck. Wir erinnern uns vielleicht an die Meditation von Ernst Gombrich ĂŒber das Kind, das sich auf einen Besenstiel setzt oder irgendeinen anderen Stock und diesen als Holzpferd benutzt: »Der Stecken ist weder ein Zeichen, das den Begriff des Pferdes symbolisiert, noch das PortrĂ€t eines bestimmten Pferdes. Dank seiner FĂ€higkeit, fĂŒr ein Pferd einstehen zu können, wird er selbst zum Pferd« (Gombrich, 19). Auf dieselbe Weise, auf die der Besen alle Charaktereigenschaften eines Pferdes bekommt, weil er den gleichen Gebrauchswert in einer besonderen Logik, nĂ€mlich der des Spiels, hat, zeigt sich ein krabbel als ein ĂŒberzeugender Ersatz fĂŒr eine Person in einer anderen Logik, anders als die des Spiels und doch Ă€hnlich, die Logik der ErzĂ€hlung. Mit einem Kreis fĂŒr den Kopf (und darin zwei Punkte fĂŒr die Augen, eine Linie fĂŒr den Mund), einem Rechteck fĂŒr den Körper und kleinen Strichen, die die vier Gliedmaßen darstellen, behalten die Minuskeln von Hartjes ein wiedererkennbares Körperschema bei; sie Ă€hneln tatsĂ€chlich reduzierten Kinderzeichnungen.

Abb. 2: Perrine Rouillon: La Petite Personne et la Mort. Paris: Seuil, 2003, o. S.

La Petite Personne [die kleine Person, Anm. d. Übs.] (1994) von Perrine Rouillon ist auch von kleiner GrĂ¶ĂŸe, aber sie hat keine menschliche Figur, außer der Kugel, die den Kopf symbolisiert (Abb. 2). Nach den Worten der Autorin ist sie eine »kleine um sich selbst gewickelte Kugel«7, eine »Art Ideogramm des Ich«8. Die kleine Person monologisiert oder ist im Dialog mit anderen Minuskeln, die kaum weiter ausgearbeitet werden als sie selbst, auf Seiten ohne Panels oder Hintergrund, auf denen die Leere dominiert. Wenn Rouillon vom Bereich der Wörter in den der Handlung wechselt und eine Geste zeichnet, sieht man, wie ein Arm sich bewegt, ein Bein, und in diesem krabbel wird eine menschliche Form, das heißt ein Körper, kenntlich. Von La Petite Personne ĂŒber Moi et les autres petites personnes on voudrait savoir pourquoi on n’est pas dans le livre (2016), Mona-Mie, la petite personne (1997), Le Diable, l’amoureux et la photocopine (1999) und La Petite Personne et la Mort (2003) bis zu L’AbĂ©cĂ©daire de la Petite Personne (2008) bleibt Rouillon, seit dem Jahr ihrer Erfindung 1970, der kleinen Kreatur aus Tinte treu, aus der sie eine VerlĂ€ngerung von sich selbst gemacht hat.

Die umliegenden Worte, die mit dem Schweigen der kleinen Person in Austausch treten, sind es, die hier zÀhlen, mehr als die Zeichnung. Die kleine Person und ihre GesprÀchspartner_innen sind vor allem Sprecher_innen, verwickelt in witzige, existenzielle, sogar metaphysische Dialoge. Durch sie vermittelt die Autorin ihr eigenes Denken, sich vorantastend, unentschieden, und bahnt sich einen Weg zu »ihrem intimsten Ich«9. Diese letzten Worte stammen von Benoßt Jahan, der erkannt hat, was wir eigentlich sind im Angesicht einer »Schrift, die sich zugleich sehen und lesen lÀsst«10.

Die letzten Minuskeln, die wir uns anschauen, tauchen in den Comicalben von Lewis Trondheim Mister O und Mister i auf. Ist es ein Zufall, dass das Akronym der beiden Titel uns die Buchstaben fĂŒr die Wörter Mimo (wie um anzuzeigen, dass die beiden BĂŒcher, die Pantomime wieder aufleben lassen) und Moi [Ich/Mich, Anm. d. Übs.] liefert? ZunĂ€chst sind in diesen beiden Werken, noch vor den Figuren, bereits die Panels miniaturisiert. Wenn die Maße eines gewöhnlichen Panels mehr oder weniger dem optischen Bereich entsprechen, den der Blick auf einer Seite aus einer Distanz von 30 Zentimetern erfassen kann, und wenn sie genĂŒgen, um ein Analogon zu erzeugen, die Imitation eines Ausschnitts aus der Welt, dann hat man es hier mit etwas zu tun, das mit dem thimble theatre [â€șthimbleâ€č: Fingerhut, Anm. d. Übs.] verwandt sein könnte – um den originaltitel der Serie aufzugreifen, in der Popeye das Licht der Welt erblickte, ein â€șFingerhuttheaterâ€č. Diese unkonventionelle und spielerische Verwendung der Codes markiert eine Entwicklung in der Unterhaltungsliteratur. Die umgebung wird auf fast nichts reduziert, die Handlung genauso. Auch die Figur hat kaum noch eine tatsĂ€chlich menschliche Erscheinungsform. Wie die Namen schon erkennen lassen, ist Mister o ein Kreis und Mister i ein lĂ€nglicher Stab, eine Art Frankfurter WĂŒrstchen. Ganz gleich um welches Piktogramm es sich handelt, immer reichen zwei Punkte fĂŒr die Augen und einige Striche fĂŒr den Mund und die vier Gliedmaßen, um einer Zeichnung Leben einzuhauchen. Indem sie stumm bleiben, werden sie der RealitĂ€t noch ein wenig mehr entrĂŒckt. Sie verkörpern etwas Lebendiges, doch sie können nicht lĂ€nger als Ersatz fĂŒr irgendetwas herhalten. Die einfachen und repetitiven Handlungen, denen sie sich hingeben, machen aus ihnen vielmehr ZahnrĂ€dchen in einem Mechanismus. Mister o will eine Art enge Schlucht ĂŒberwinden, einen vertikalen Spalt, deren Form ungefĂ€hr die eines großen I ist. Mister i will nach einer Torte grapschen, in Form eines o. Beide scheinen also besessen zu sein von ihrem Gegenteil.

Den Gipfel der Miniaturisierung findet man bei dem Quebecer Shane Simmons und seinem experimentellen Comic The Long and Unlearned Life of Roland Gethers11. 3840 Panels (160 pro Seite) zĂ€hlt diese ErzĂ€hlung – und eine ErzĂ€hlung ist es tatsĂ€chlich, die umfangreich und ambitioniert die komplette, 89 Jahre lange Lebensgeschichte des Protagonisten erzĂ€hlt und dabei mehrere unterschiedliche orte, Epochen, drei Kriege und eine Vielzahl an Personen umfasst –, und jedes dieser Panels besteht aus nichts weiter als einfachen Punkten. Es handelt sich also hier nicht um einen long shot, wie der Untertitel schelmisch andeutet, sondern einen extreme long shot (eine Sichtweise von sehr weit weg), bei dem jede Handlung aus einer so großen Entfernung beobachtet wird, dass die Figuren fast unsichtbar sind. Auf der RĂŒckseite des Buches heißt es, die Bilder bestĂŒnden eigentlich aus durch photokopieren reduzierten Gravuren viktorianischen Ursprungs. Dies taucht das Ganze in ein augenzwinkerndes Licht und macht es unmöglich, die Frage zu beantworten: Sind es die Figuren, die man nicht mehr unterscheiden kann, oder ihre Darstellung?

Reductio ad absurdum? Diese Worte mĂŒssen hier wörtlich genommen und nicht wie sonst ĂŒblich verstanden werden als â€șBeweis durch Widerspruchâ€č. obwohl ... Es steckt sehr wohl etwas Absurdes in der Tatsache, einen Text in die Kategorie Comic aufnehmen zu wollen, der, alles zusammengenommen, nicht mehr ist als ein dramatischer Text, eine Folge dialogischer Szenen (mit mehreren wiedererkennbaren Stimmen, und spielerischen VerĂ€nderungen bei GrĂ¶ĂŸe und Schreibart der Buchstaben), jedoch ohne erzĂ€hlende Bilder. Warum aber fordert Simmons fĂŒr sein Werk diesen Status ein? Die Antwort ist, meines Erachtens, dass die Bilder hier durch die Leser_in produziert werden. Eine Kugel oder ein Stab behindern das Imaginative; es geht nichts ĂŒber einen Punkt, wenn man dem Imaginativen grĂ¶ĂŸtmöglichen Spielraum ermöglichen will.

Wenn wir ein literarisches Werk lesen, kann es vorkommen, dass in unserem Geist Bilder entstehen. Dies ist der Grund, erklĂ€rt Paul Auster, »warum jeder einzelne Leser eines Romans ein anderes Buch liest als jeder andere Leser dieses Romans. Man ist aktiv beteiligt, und jeder Kopf produziert stĂ€ndig seine eigenen Bilder« (Auster/Coetzee, 22. oktober 2010). Die mentalen Bilder, die wir malen, wĂ€hrend wir Simmons lesen, sind dementsprechend auch persönlich. Aber sicher ist, dass die Tatsache, dass er seiner ErzĂ€hlung die Form des Comics gegeben hat und dabei die Funktionsweise dieser aus KĂ€stchen geformten Maschinerie, die »secondary machinery« (189) der neunten Kunst, um den Begriff von Kirk Varnedoe und Adam Gopnik zu verwenden, sein »rohes Skelett«12, um es mit den Worten Menus zu sagen, respektiert hat, uns nur umso mehr zum folgenden Akt der Visualisierung motiviert: Im Geiste fĂŒgen wir die fehlenden Bilder hinzu, dem Impuls der vielen Frames folgend, durch die eine Matrixdimension entsteht, »abgebildet und abbildend«13 – Begriffe, die in diesem Fall von Henri Van Lier stammen.

Abb. 3: François Ayroles: Feinte TrinitĂ©. In: ouBaPo: oupus 2. Paris: L’Association, 2003, 24.

Ein Comic ohne Bild, ja, das kann existieren. Von all den Versuchen, die in diese Richtung bereits unternommen wurden, bleibt, nach unserem Wissen, derjenige von François Ayroles, Feinte TrinitĂ© genannt, der geschmackvollste (Abb. 3). Er besteht aus 45 Panels, jeweils in Gruppen von drei, sechs oder neun angeordnet (in ouBaPo 2003). Die â€șMaschinerieâ€č des Comics ist hier vollstĂ€ndiger, oder dem herrschenden Gebrauch besser angepasst, denn die Dialoge schreiben sich wie von selbst in die Sprechblasen, deren perfekte Rundung sich dialektisch der quadratischen Form der Panels entgegenstellt. Es gibt vier (unsichtbare) Figuren: eine Mutter, ein Vater, ihr Sohn und Gott. Die Sprechblasen sagen nichts aus, sondern zeigen jeweils auf eines der vier Gesichter im Panel: Das Kind unten, die Mutter auf der einen, der Vater auf der anderen Seite und Gott oben. Der extremen Entfernung oder Verkleinerung, die Simmons praktiziert, setzt Ayroles eine andere Prozedur des Verschwindens entgegen: die Beibehaltung des nicht-sichtbaren Raums.

Aber kann man hier von Figuren sprechen? MĂŒsste man sie nicht einfach als Sprecher_innen bezeichnen?

In einer Fiktion existieren Figuren nur mittels ihrer Dialoge, ihrer Interaktionen. Zusammen bilden sie eine emotionale und dynamische Konstellation, was bedeutet, ihre gegenseitigen GefĂŒhle entwickeln sich im Laufe der Geschichte. In dem hier vorliegenden Fall spielen sich die Interaktionen einzig auf der verbalen Ebene ab. Aber wir mĂŒssen anerkennen, dass Reden eine Form des Handelns ist. Bei Schriftstellern wie Racine oder Marivaux steht das Wort im Zentrum der Theaterhandlung und verschmilzt fast komplett mit dieser. Fragen, widersprechen, Dinge erörtern, lĂŒgen, befehlen, spotten, verurteilen ... sind ebenfalls allesamt ModalitĂ€ten einer Sprechhandlung. In diesem Sinne sind die unsichtbaren Sprecher_innen von Ayroles auch literarische Figuren. Wie man von manchen Tieren sagt, â€șsie mĂŒssten nur noch sprechen könnenâ€č, wĂŒrde man in Bezug auf Ayroles Sprecher_innen sagen, dass ihnen nur noch die körperliche HĂŒlle fehlt.

Die letzten Panels aus Feinte TrinitĂ© sind natĂŒrlich ein raffiniertes Augenzwinkern: Gott ist erstaunt, dass seine drei irdischen Sprecher_innen verschwunden sind ... obwohl wir ja wissen, dass sie eigentlich niemals ganz erschienen sind.

In seinem gesamten (mehr als 40 Titel umfassenden, bis 1995 zurĂŒckreichenden) Werk, behĂ€lt der in LiĂšge lebende Zeichner JosĂ© Parrondo einen minimalistischen Stil bei. Seine schematischen Figuren eignen sich, je nach Anlass, fĂŒr humoristische, poetische oder metaphysische Zwecke. In seinem jĂŒngsten Werk I Am The Eggman gibt sich der Protagonist eiförmig. Er hat Augen, zwei kurze Beine und Arme, die jedoch nur zu sehen sind, wenn er sie braucht, fĂŒr eine Geste etwa, oder eine Handlung. Über die Lettre Ă©lectronique [Newsletter, Anm. d. Übs.] des Verlags l’Association (von Februar 2021) kommentiert der Autor dies wie folgt: »Das Ei ist die Grundform, die am einfachsten zu zeichnende Form. Ich greife fĂŒr meine Figuren immer auf einfache Formen zurĂŒck, und es ist nicht das erste Mal, dass ich ein EiermĂ€nnchen zeichne. Bolas Bug, eine Figur meiner ersten BĂŒcher bei den Verlagen Rouergue und l’Association, war auch eines. Außer dass Bolas Bug eine Nase hat, einen Mund und eine Krawatte, Dinge, die Eggman entbehren könnte. Eine Krawatte fĂŒr Eggman?, Nein, sicher nicht, er trĂ€gt nichts außer seine Eierschale, das reicht ihm vollkommen. und auch kein Mund, er braucht ihn nicht: Er lebt in einer stummen Welt«14.

Ein unvollstĂ€ndiges Körperschema, ein Entzug der Sprache: es scheint erneut so, dass man es hier mit einem Grenzbereich der Figur zu tun hat, einem verstĂŒmmelten Wesen, nicht vollendet, deren Handlungsmöglichkeiten begrenzt sind. oder, wie es Thomas Bernard in seinem auf der Seite ActuaBD erschienenen Bericht formuliert hat: »das Faszinierende an I Am The Eggman ist das komische GefĂŒhl, etwas zu betrachten, das, weit davon entfernt lebendig zu sein, dem Leben sehr nahe scheint. Direkt vor seiner Nase ein autonomes Ökosystem sich entfalten zu sehen, erst im Verlauf der Seiten und dann nach dem Ende der LektĂŒre in unserer Vorstellung ...«15

Die sich auf etwas beziehende Illusion hat hier ausgedient. Wir merken deutlich, dass wir es mit einem â€șWesenâ€č zu tun haben, das nichts anderes mehr sein will als eine Zeichnung. Kann dieses Wesen mit seiner rudimentĂ€ren Erscheinungsform trotzdem noch so tun, als sei es eine Figur? Auf eine gewisse Weise ja, denn es macht uns zu den Zeug_ innen seiner Handlungen, seinem Erstaunen, der Schwierigkeiten, auf die es trifft. Seine aufgerissenen Augen verleihen ihm eine unleugbare Ausdruckskraft, vor allem da sie mit regelmĂ€ĂŸigen AbstĂ€nden auf unsere Augen gerichtet sind, und wir uns auf diese Weise angesprochen fĂŒhlen. Philippe Marion und Chantale Anciaux beobachteten unlĂ€ngst, dass »im klassischen Spielfilm der direkte Blick eines Schauspielers in die Kamera extrem selten ist: er wird generell als plötzlicher Riss im fiktionalen Gewebe erachtet«16. Im Comic hingegen ist diese Zuwendung kein Tabu. und, wie man bei Gotlib deutlich sieht, gebrĂ€uchlich bis ĂŒbertrieben.

Die Welt, in der Eggman entsteht, ist eine Welt grafischen ursprungs. Parrondo spielt ohne unterlass mit den verschiedenen Kodierungen des Zeichnens, mit illusionĂ€ren Perspektiven, BrĂŒchen im Maßstab und unzĂ€hligen anderen selbstreflexiven Kniffen. Diese Spiele erzeugen Situationen, die sich als kompletter Nonsens entpuppen wĂŒrden, bezöge man sie auf unsere Erfahrungswelt, auf unsere umgebung. Aber Eggman entwickelt sich in einer Welt, die die seine ist, eine Welt ohne Linien auf dem Papier, eine Welt grafischer Poesie, in der andere Gesetze gelten und die Logik, an die gewohnt sind, nicht funktioniert.

Dies bedeutet, dass wir durch Eggman ein Paralleluniversum entdecken, in dem Eggman nicht nur wichtigster Bewohner, sondern auch dessen Botschafter bei uns ist. Auf diese Weise können wir Eggman eine anthropologische Dimension nicht absprechen: Was wir sehen, dokumentiert, wie es ist, in jenem Universum zu leben.

Abb. 4: Alex Baladi: Petit Trait: Paris: L’Association, 2008, o. S.

Suchen wir eine_n Zeichner_in, die sogar noch weiter gegangen ist als Parrondo bei der Schöpfung einer Welt purer Zeichnung ohne jede anthropomorphe Referenz, stoßen wir auf Alex Baladi und sein Mini-Comicalbum Petit Trait [Kleiner Strich, Anm. d. Übs.] (Abb. 4). Dieser Comic zeigt, dass ein einziger Strich, eine Form, eine Farbe, ein grafisches objekt gleich welcher Art selbst â€șAbenteuerâ€č erleben kann, wie es Menu nahegelegt hat (10f.). Die histoire, die erzĂ€hlt wird, ist demnach die der Transformationen, die jenes objekt in einer physischen Welt, in der ein Bild das nĂ€chste gebiert, durchmacht. Im vorliegenden Fall betritt der â€șkleine Strichâ€č das Feld, verrenkt sich, rollt sich ein, schlĂ€ngelt oder vervielfĂ€ltigt sich, transformiert sich in einen ganzen Strauß Ă€hnlicher Striche, die zu einer Schraffur werden und sich in einem Kraftfeld zu bewegen scheinen, und so fort. I am the Eggman könnte also theoretisch auch Ich bin ein kleiner Strich heißen, genauso wie Bleu [Blau, Anm. d. Übs.] von Trondheim, genauso gut den Titel Ich bin ein Farbklecks hĂ€tte tragen können.

In diesem Fall scheint es nicht möglich zu sein, den kleinen Strich von Baladi eine literarische Figur zu nennen, außer im metaphorischen Sinne. Wir können von Panel zu Panel nicht einmal sicher sein, ob wir ĂŒberhaupt immer denselben Strich bei seinen Metamorphosen und Wendungen verfolgen. Scheint es nicht vielmehr immer wieder ein neuer Strich zu sein? und ist nicht sogar das Besondere an jeder gezeichneten ErzĂ€hlung, dass sie mit jedem neuen Abschnitt auch ein neues Ensemble von Strichen zusammenstellen kann? Rein faktisch gesehen kann ein Strich nicht wiederholt werden, sondern wird jedes Mal neu erschaffen. Man kann ihm daher nur erlebte Abenteuer zuschreiben, wenn man ihm vorher bereitwillig die Funktion des Aktanten zugeschrieben hat, die die Möglichkeit einer PerspektivĂ€nderung impliziert, wodurch der Strich schließlich zur grafischen Spur und zur selben Zeit zur Darstellung dieser Spur wĂŒrde.

Widmen wir uns hier einem Einschub. Es gibt alle möglichen Arten von HandbĂŒchern oder auch Webseiten, die erklĂ€ren, wie man eine Figur zeichnet. Meist wird geraten, dass man damit beginnen soll, ein StrichmĂ€nnchen zu zeichnen, ausgehend von einer schematischen Vorlage, um dieses dann Schritt fĂŒr Schritt auszuarbeiten. Die AnfĂ€nger_innen im Zeichnen sollen die Proportionen und Gelenke festlegen, ein Repertoire von Haltungen, Posen und Bewegungen erlernen.

Aber seit einigen Jahren ist eine neue Art von HandbĂŒchern hinzugekommen, in denen es nicht mehr im Vordergrund steht, den menschlichen Körper zu zeichnen, sondern stattdessen sofort â€șLieblingsheldenâ€č aus dem universum der Mangas und Animes. Nach diesen Anleitungen ĂŒberspringen die ZeichenschĂŒler_innen die anatomischen und physiologischen Grundlagen, die seit Jahrhunderten eine Grundlage des Kunstunterrichts bilden. Was der oder die Zeichnende imitiert, ist nunmehr die Zeichnung, und zwar eine mit einer bereits extrem kodifizierten Zeichensprache. So entstehen mehr und mehr Ă€ußerst stilisierte Figuren, die allesamt wie enge Verwandte aussehen. Es ist auf keinen Fall verboten, hierin eine Form der Verarmung zu sehen, und zwar nicht nur grafischer Natur, die sich sogar auf die IdentitĂ€t und Tiefe der Figuren auswirkt. Sie Ă€hneln wirklichen Persönlichkeiten immer weniger und wirken mehr und mehr wie Zeichnungen. um noch einmal auf Eggman zu kommen: Insgesamt gesehen reicht es, die Vereinfachung um einige Grade zu steigern.

Abb. 5: Marion Fayolle: Les Amours suspendues. Paris: Magnani, 2017, 207.

Abschließen möchte ich diese Studie gern mit einer Zeichnerin, Marion Fayolle, welche anatomische Proportionen berĂŒcksichtigt und deren Figuren eine â€șklassischeâ€č menschliche Erscheinung haben (Abb. 5). In Comicalben wie La Tendresse des pierres oder Les Amours suspendues sieht man MĂ€nner und Frauen herumtollen, im Kampf mit dem Leben, dem Tod, dem Begehren, der Fantasie – MĂ€nner und Frauen, die sich mit ihren familiĂ€ren Beziehungen auseinandersetzen, den emotionalen, amourösen und sexuellen. obwohl Fayolle die Natur des Menschen in all ihren Dimensionen thematisiert, scheinen ihre Figuren, die ohne eine soziale oder berufliche IdentitĂ€t auftreten und lediglich einige minimalistische VerĂ€nderungen ihres physiognomischen Ausdrucks aufweisen, nicht die Voraussetzungen fĂŒr ein experimentelles Ego und damit den Status seiner vollwertigen Figur zu erfĂŒllen. Die Autorin stimmt zu: »FĂŒr mich sind Figuren nicht wirklich menschlich, sie haben keinen Vornamen, keine sehr definierte IdentitĂ€t. Ich sehe sie vor allem als theoretische Silhouetten an, Reflexionsobjekte. Zweifellos aus diesem Grund lenke ich sie ein wenig wie Marionetten, HampelmĂ€nner, die man zerstĂŒckeln kann, ohne dass das allzu schlimm wĂ€re. Wie Vasen können sie zerbrechen, wenn sie fallen; wie Kuchen kann man sie in mehrere gleich große Teile teilen; wie Schildkröten können sie ihre Köpfe in ihren Körper einziehen. FĂŒr all diese Möglichkeiten liebe ich das Zeichnen so sehr, denn damit kann man alles tun, alles erfinden und andere Versionen der Wirklichkeit erscheinen lassen.«17

Theoretische Silhouetten, HampelmĂ€nner, Marionetten: die MĂ€nner und Frauen, die Fayolle zeigt, scheinen uns daher vor allem wie Wesen aus Papier, die letzten Endes, trotz eines â€șrealistischerenâ€č Aussehens, genau wie Eggman vielmehr den Gesetzen der Zeichnung und der Fantasie gehorchen als denen der physischen Welt. Generell ist der Strich der Zeichnerin nicht besonders fleischlich und verweist auf keine der grafischen Familien, aus denen der moderne Comic, und im Besonderen die bande dessinĂ©e, besteht. Wenn man die referenzielle Dimension von Fayolles Werken genauer in den Blick nĂ€hme, wĂŒrde man feststellen, dass diese in den Kontext gewisser schon Ă€lterer Werke fĂŒhrt (entstanden in den 50er-Jahren), deren Ästhetik beispielsweise auch einen Glen Baxter beeinflusst hat.

DarĂŒber hinaus entwickeln sich die Figuren, wie in Les Amours suspendues, in nicht-Kulissen, in leeren oder abstrakten RĂ€umen, die reduziert werden auf einen Fußboden, eine Ziegelsteinmauer, eine perspektivisch beobachtete Zimmerecke, eine Landschaft aus Kartonmasse. Wie Elemente von Kulissen, die fĂŒr eine BĂŒhne geschaffen sind, auf der die Entwicklungen der Figuren prĂ€zise choreografiert zu sein scheinen. Es schleicht sich beim Lesen dieses Werks der Gedanke ein, dass man eine grafische AuffĂŒhrung erlebt, die sich die Erscheinung einer dramatischen AuffĂŒhrung gibt. Auf der einen Seite ist da der Pas de deux, der die Figuren aneinanderbindet, die Requisiten, mit denen sie spielen, die drei Frauen, die einen Chor bilden (202f.), der Kameraschwenk auf die Sitze, die sich gerade mit Publikum fĂŒllen, bevor sich der Vorhang fĂŒr den Epilog hebt (223–226); auf der anderen Seite aber gibt es Prozesse, denen sich die (pseudo-)körperlichen HĂŒllen der Schauspieler_innen unterziehen mĂŒssen: Fragmentierung, ZerstĂŒckelung, Verdoppelung, Zusammenfalten wie ein Akkordeon, Bleichen und dann Rekolorierung etc. Das erinnert an die VerĂ€nderungen des Körpers in Little Nemo in Slumberland und hört gleichzeitig nie auf, jede Möglichkeit einer referenziellen Illusion zerstörend und ganz im Gegenteil die FaktizitĂ€t des Schauspiels bestĂ€tigend, immer wieder aufs Neue zu bekrĂ€ftigen: â€șall das ist Zeichnung, nichts als Zeichnungâ€č. Fayolle vermischt die Kodierungen des lebendigen Schauspiels mit denen der gezeichneten ErzĂ€hlung und erschafft so eine einzigartige Synthese.

Auf Seite 125 in Amours suspendues ruft sich der Mann Empathie ins GedĂ€chtnis, ein GefĂŒhl, das er dank seiner Frau begonnen habe zu fĂŒhlen, sagt er, denn diese habe ihm »beigebracht an andere zu denken«18.

In der ganzen ErzĂ€hlung sind es die Figuren, die unserer emotionalen Beteiligung eine feste Form verleihen. Man hĂ€tte frĂŒher von einer â€șIdentifizierungâ€č der Leser_innen (oder Zuschauer_innen) mit den Figuren gesprochen. Lavocat behauptet zu Recht, dass das Konzept der Empathie dasjenige der Identifikation weitgehend verdrĂ€ngt hat (348). Sie erinnert daran, dass »Empathie bedeutet die GefĂŒhle der anderen zu spĂŒren«19 und dass »Sympathie Wohlwollen gegenĂŒber jemandem bezeichnet«20.

Weil die Leser_innen nicht alle identisch sind, glaube ich nicht, dass es möglich ist, fĂŒr alle gleichermaßen festzulegen, inwiefern die â€șQuasi-Figurenâ€č, die uns begegnet sind, in uns GefĂŒhle wie Empathie, Sympathie oder eben Identifikation hervorzurufen vermögen. Es scheint dennoch so zu sein, dass das ganze bestehende grafische universum erfolgreich darin ist, uns mit seiner jeweils eigenen Logik in den Bann zu ziehen, und dass unser Begehren nach ErzĂ€hlung, eine anthropologische Dimension der menschlichen Spezies, mĂ€chtig genug ist, um uns mit rudimentĂ€ren oder unechten Wesen warmwerden zu lassen und auf sie die ganze Tiefe unseres Weltbildes zu projizieren.

Denn der Comic ist eine Kunstform, voll von Konventionen und beruhend auf einer Kodierung, die immer etwas anders ist als das Reale. Sie hat ohne Zweifel die ontologische FĂ€higkeit, uns einen BĂ€ren aufzubinden – und uns in einer Silhouette, einem Ei oder einem Punkt eine Person sehen zu lassen.

Übersetzung: Julia Ingold, Rosa Wohlers

 

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Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: Maaike Hartjes: Mon Journal. Paris: La CafetiĂšre, 1999, o. S.
  • Abb. 2: Perrine Rouillon: La Petite Personne et la Mort. Paris: Seuil, 2003, o. S.
  • Abb. 3: François Ayroles: Feinte TrinitĂ©. In: ouBaPo: oupus 2. Paris: L’Association, 2003, 24.
  • Abb. 4: Alex Baladi: Petit Trait: Paris: L’Association, 2008, o. S.
  • Abb. 5: Marion Fayolle: Les Amours suspendues. Paris: Magnani, 2017, 207.