Mal eben kurz die Welt retten

Unfollow rezensiert von Barbara M. Eggert

Earthboi, ein Influencer, der die Menschheit mittels Social Media Content, Apps und CO2-neutralem Lebensmitteldesign wieder mit der Natur in Einklang zu bringen versucht, ist die zentrale Figur in Lukas Jüligers neuer Graphic Novel. Schürt der Anfang des Comics die Erwartung auf eine Â»Fridays for future«-Utopie im Kielwasser des Phänomens Greta Thunberg, so wendet sich das Blatt im letzten Drittel und die Leser_innen finden sich mit einem dystopischen Â»no future«-Szenario konfrontiert.

Auf 160 nicht-nummerierten Seiten erzählt Lukas Jüliger als Autor und Zeichner in Personalunion die Geschichte von Earthboi, einem mysteriösen Messias 2.0, dessen Erinnerungen, wenn man der erzählenden Instanz Glauben schenken darf, »bis ins Kambrium zurückreichen« (S. [5]). Mit Earthbois Fleischwerdung korrespondieren die Inkarnattöne, die Jüliger über einen Großteil seiner Bleistiftzeichnungen legt. Blauschattierungen hingegen kennzeichnen Szenen, die sich nachts, im Regen, unter Wasser oder im fahlen Schein elektronischer Geräte abspielen. Der begleitende Text füllt die Zwischenräume und dringt nicht in den Bildraum der Panels ein. In Bezug auf Point of View und die gewählten Bildausschnitte zitiert die bilddominierte Narration die Ästhetik von Social Media wie Instagram und Youtube. Jüligers Zeichnungen imitieren den mediatisierten Blick durch die Kameralinse und bedienen sich gängiger Formate wie Totale, Halbtotale sowie sämtlicher Spielarten von selfie-typischen Selbstansichten.

Ganz im grafischen Medium sind hingegen die Vignetten verhaftet, die den sechs Kapiteln und dem Epilog vorangestellt sind: Die erste zeigt ein Smartphone, neben dem zarte Keime aus der Erde sprießen, die fünf anderen Vignetten visualisieren weitere Wachstumsstadien der Vegetation. Im sechsten Kapitel mit dem Titel Vision ist das Smartphone schließlich völlig überwuchert. Diese ovoiden Bleistiftgrafiken komprimieren, worum es in Unfollow geht: Um Technik und Natur, um Wachstum und Zerstörung. Und letztlich ist es die Natur, die sich ihren Weg bahnt – und die Zivilisation(stechniken) ausschaltet. Anders als in Franz Hohlers Kurzgeschichte Die Rückeroberung (1982), in der sich die Natur im Alleingang die Stadt Zürich zurückholt, haben Flora und Fauna in Jüligers grafischer Erzählung ein menschliches Kollektiv als Unterstützung. Es ist die Erzählstimme dieses Kollektivs, die die visuelle Narration begleitet. Als Einstieg lässt sie uns an der Menschwerdung eines Jungen teilhaben, der sich selbst den Namen Earthboi geben wird. Die später zum ›Ökomessias‹ stilisierte Figur manifestiert sich laut Begleittext über verschiedene evolutionäre Stadien als siebenjähriger Junge und wächst zunächst bei einer Pflegefamilie auf. Über neun Seiten lassen die Texte zwischen den Bildern zunächst eine extradiegetische, heterodiegetische Erzählinstanz vermuten. Erst dann wird klar, dass hier ein intradiegetisches, homodiegetisches Kollektiv das Narrativ kontrolliert: Hinter dem erzählenden Wir steht eine Gruppe verhaltensauffälliger Heimkinder, auf die das inzwischen zwölfjährige Naturkind trifft, nachdem seine Pflegeeltern ihn aufgegeben haben: Seine Sammlung verwesender Tiere, deren Geruch seine Erinnerung an prähistorische Zeiten heraufbeschwört, hatte zu einer Entfremdung geführt.

Abb. 1: Unfollow, S. [38].

Im Heim kann der spätere Earthboi das ihn ›erdende‹ Geruchsritual praktizieren und seine ersten Follower generieren, die ihn bei der Rückkehr in die Natur unterstützen. Ausgestattet mit Laptop und Diensthandy der Heimleiterin sowie einem Solarpanel, das er vom Dach eines Supermarktes abmontiert, wird Earthboi zum Internetphänomen. U. a. teilt er seine Survivaltipps mit der digitalen Community und dokumentiert aussterbende Arten, wobei er seine Haut zu deren Bildträger macht. Die Tätowierungen als externalisiertes Gedächtnis transformieren ihn zugleich in eine lebendige Enzyklopädie jüngst ausgerotteter Tiere – und damit setzt er einen Modetrend (Abb. 1). Ein neue Phase in Earthbois Leben beginnt, als er im Internet seinem alter ego begegnet: Die ehemalige Programmiererin Yu ist ebenfalls ein Socialmedia-Star und engagiert sich inzwischen als Künstlerin für nachhaltige Wohnkonzepte. Die beiden verlieben sich ineinander. Von Yu angelernt kreiert Earthboi eine App, »um eine Welt mit zufriedenen, bewussten Menschen zu schaffen« (S. [71]). Das Paar macht sich schon bald an die Erschaffung eines Reservats namens ›Erde‹, wo Mensch und Natur im Gleichgewicht existieren können. In der Aufbauphase kontaktiert Earthboi seine ehemalige Gefolgschaft aus dem Heim, um mit ihrer Hilfe seine Vision von ›Erde‹ umzusetzen. Sie leisten dem Ruf Folge und begreifen sich alsbald als »Pioniere einer neuen Welt« (S. [87]). Wenig später öffnet ›Erde‹ die Pforten für unterschiedlichste Follower, die dort gemeinsam ein nachhaltiges Leben führen. Aber ›Erde‹ soll expandieren. Aus Sicht der Follower entzieht sich Earthboi aufgrund seiner Verbindung zu Yu und der Zuwendung zur gesamten Menschheit immer mehr seiner Rolle als spiritueller Führer ihrer exklusiven Gemeinschaft und Retter der Natur. Die enttäuschten Jünger*innen radikalisieren sich und treiben ihren Messias Earthboi in die physische und mediale Selbstauslöschung, um das zu verwirklichen, was sie als seine Mission gesehen haben: die Rettung der Natur durch die Ausrottung der Menschheit, die sie nun selbst in die Hand nehmen. Hierbei hilft ihnen die Manipulation von Earthbois App, die nun zum Selbstmord animiert, auch scheuen die ehemaligen Follower nicht vor Waffeneinsatz zurück, um die Alleinherrschaft der Natur und das Ende des Anthropozäns einzuläuten. Doch dabei lässt Jüliger es nicht bewenden, denn da ist noch der Epilog, der neue Möglichkeiten andeutet und Hoffnung aufkeimen lässt. Ihm vorangestellt ist eine letzte Vignette, die eine Topfpflanze und eine Kamera auf einem Stativ vereint. Auf den letzten vier Seiten wendet sich Yu, die wieder in ihren Heimatort zurückgekehrt ist, an die Menschheit und thematisiert die Verfälschung von Earthbois Narrativ durch seine radikalisierten Erst-Follower. Das Buch endet mit ihrem Appell für die gemeinsame Schaffung einer neuen Welt.

Jüliger hat mit Unfollow einen detailreichen Bildkosmos geschaffen, der eine starke Sogwirkung entfaltet. Die Entscheidung für ein erzählendes Wir, dessen manipulatorische Aneignung des Narrativs sich erst sukzessive entfaltet, ist ein interessanter Schachzug und ermöglicht die überraschende Wendung von der Schmuseutopie zur Splatterstory. Ist die Frage, wer da spricht, ab Seite 10 geklärt, so lässt sich die Frage, aus wessen Perspektive(n) die Bilder wiedergeben werden, durch wessen Augen wir blicken, nicht so eindeutig beantworten und sorgt für latentes Unbehagen. Über die Notwendigkeit des antiklimaktischen Endes mag man streiten. Aber gerade für ein jüngeres Publikum bietet es einen Anknüpfungspunkt, um zu überlegen, wie die von Yu adressierte neue Welt aussehen könnte. Und was man selbst im Hier und Jetzt für ein nachhaltiges Leben tun kann. Das Veröffentlichungsdatum von Unfollow täuscht darüber hinweg, dass die Graphic Novel nicht nur am Puls der Zeit ist, sondern vielmehr visionär war: Jüliger hatte sie bereits fertiggestellt, bevor die »Fridays for Future«-Bewegung einsetzte, die eben dieses nachhaltige Leben im Fokus hat.

Unfollow
Lukas Jüliger
Berlin: Reprodukt, 2020
160 S., 18 Euro
ISBN 978-3956402173