Zwischen Comic und Architektur. Jan Baetens' neueste Pflichtlektüre zu den Obscure Cities

Rebuilding Storyworlds rezensiert von Lukas Albrecht

Seit dem Auftauchen der Obscure Cities im Jahre 1983 setzen François Schuiten und Benoît Peeters besonders das Thema der Architektur in den visuellen und narrativen Fokus. Jan Baetens' neue Monographie zu diesem faszinierenden Comic-Zyklus bietet eine spannende Auseinandersetzung und vielseitige neue Fragestellungen.

Es erscheint heutzutage unwahrscheinlich, sich mit Comics zu beschäftigen und noch nie etwas von den Obscure Cities, Les Cités obscures, den Geheimnisvollen Städten, gehört oder gelesen zu haben. Seit der Erstveröffentlichung von Samaris 1983 setzt diese Serie Maßstäbe. Kaum jemand kann sich dem Eindruck der fantastischen Städtewelten, den komplexen und teils obskuren Narrativen dieses Gesamtkunstwerkes entziehen. The Obscure Cities bieten Ästhetik, Tiefgang, Anregung und Begeisterung. Letzteres vermag die Monographie von Jan Baetens ebenfalls zu vermitteln. Rebuilding Storyworlds lässt keinen Zweifel zu an eben jener Begeisterung des Autors am Thema der Obscure Cities und dem Werk von Schuiten und Peeters. Baetens wartet mit einem Buch auf, das als eindeutiges Statement zu verstehen ist, den so seltsamen Comics mit ihren eigenartigen Geschichten endlich den literatur- und kunstwissenschaftlichen Platz einzuräumen, der ihnen gebührt.

Die Monographie ist in zehn Kapitel unterteilt, die jeweils spezifischen Fragestellungen nachgehen. Im ersten Kapitel (A New Series, a New Type of Author) nähert sich Baetens den Obscure Cities auf eine historisch-nachzeichnende Weise an und rückt die Personen Schuiten und Peeters in den Fokus. Diese Hinführung stellt eine sinnvolle Kontextualisierung für die folgenden Kapitel dar. Kapitel zwei (A World of Its Own) arbeitet die fundamentale Rolle der Architektur in der Comic-Serie heraus; die Architektur selbst sei gar als die Protagonistin der gesamten Serie zu verstehen. Kapitel drei (More than a Possible World) rückt einen der wohl prominentesten Aspekte der Obscure Cities in den Mittelpunkt der Betrachtung: Das Verhältnis von Fiktion und Realität und die Problematik, hierbei eine klare Kategorisierung auszumachen. Eine solche Festlegung ist, so legt Baetens nahe, auch nicht  zielführend. Der Grund dafür sei bereits in der Konzeption der Serie verankert; sie sei nicht als kohärenter Gegenentwurf, als kohärente possible world konstruiert, vielmehr seien die Obscure Cities als cluster of worlds zu verstehen (Baetens 2020, 43).

Kapitel vier (Between Chapter and Series) behandelt die komplexen Erzählstrukturen und verknüpft Fragen zu narrativen Konzepten und Serialität mit Betrachtungen über die Materialität des Mediums Comic an sich.

Der Frage nach dem Genre geht Kapitel fünf (A New Fantastic) nach: »In popular media culture, genre is not simply an option, it is a necessity.« (Baetens 2020, 74). Das ist für den Untersuchungsgegenstand der Obscure Cities durchaus problematisch. Immerhin gibt es gute Gründe für äußerst verschiedene Genre-Kategorien: The Road to Armilia folgt der Reiseliteratur, The Leaning Girl dem Konzept des Bildungs- oder Entwicklungsromans sowie dem literarischen Thema der Zeitreise. Als Dystopie kann Fever in Urbicand verstanden werden, The Tower als historischer Roman, Le Dossier B kann als mockumentary aufgefasst werden. Die Liste lässt sich fortführen.  

Mit dem sechsten Kapitel (In and Out the Medium) betritt Baetens das Feld der Untersuchung von (Trans-)Medialität. Vor dem Hintergrund der Diskussion um transmedia storytelling durch Henry Jenkins entwirft Baetens eine Liste an Punkten, die seiner Ansicht nach in Bezug auf die Obscure Cities divergieren. Insbesondere die Komplexität des Textes hebt der Autor wieder und wieder hervor. Dennoch lesen sich Baetens Ausführungen immer erfrischend und weiterführend. Das siebte Kapitel (Doing Politics in Comics) beweist und bestätigt erneut, wie tief die Quelle ist, aus der Baetens schöpft. Gewiss liegt das in der flexiblen und, es kann nicht oft genug betont werden, tiefgründigen und ebenenübergreifenden Vielschichtigkeit der Comic-Serie von Schuiten und Peeters. Die politischen Analysen in diesem Kapitel bringen diesen Umstand klar zum Ausdruck. Angewendet werden Batens‘ teilweise stark gestaffelten Ãœberlegungen und Gedanken im  achten Kapitel (Close-Reading The Leaning Girl), in dem er sich diesem speziellen Band zuwendet. Das Kapitel bietet der Leser_in einen guten Ausgangspunkt und motiviert, sich mit den Gedanken, Ansätzen und Inspirationen von Baetens im Gepäck der Serie intensiv zu nähern.

Den Abschluss bilden die letzten beiden Kapitel. Während Kapitel neun (A Conversation with Benoît Peeters) in Form eines Interviews Einblicke in die Persönlichkeiten Peeters‘ und seines Freundes und Kollegen François Schuiten eröffnet, berührt Kapitel zehn (Birth of an Album) den künstlerischen Prozess der Autoren. Inhaltlich gesehen können die letzten beiden Kapitel als Appendix verstanden werden, der Baetens‘ Buch etwas Exklusives verleiht: einen Blick hinter die Kulisse.

Um den Gedankengängen des Autors adäquat folgen zu können, ist es nicht zwingend erforderlich, die gesamte Serie der Obscure Cities gelesen zu haben. Es ist jedoch hilfreich, da so die angeführten Besprechungen plastischer und nachvollziehbarer werden und die Monographie gleichsam zu einem kritischen und fruchtbaren Kommentar zur Reihe wird. Baetens‘ Ansätze, und das ist ein Vorteil, verbleiben im Bereich des Allgemeinverständlichen und Übertragbaren. Baetens‘ Buch regt zum Denken an. Gerade dieser Aspekt ist zu betonen, da sich über die spezifisch comicwissenschaftliche Untersuchung samt forschungsgeschichtlicher Einordnungen Gedanken ergeben, die das Feld der Comic-Forschung eigentlich schon verlassen. Genannt sei hier als Beispiel unter vielen die Frage nach der Rolle der Architektur als Machtinstrument: Dient die Architektur dem Menschen oder ist es der Mensch, der der Architektur dient? Ihr unterworfen wird? Ein Aspekt, der zweifellos ein immanenter Punkt in den Obscure Cities ist, aber darüber hinaus bedenkenswert ist.

Gleichwohl wird sich jede Leser_in von Baetens' Lust am Thema mitreißen lassen, sodass eine anschließende Lektüre der Comics, falls noch nicht erfolgt, beinahe obligatorisch wird. Baetens' innovative Ideen, Interpretationen und Überlegungen, die stets auch den aktuellen Forschungsstand mitdiskutieren, lesen sich in einem übergeordneten Rahmen der Begeisterung. Man spürt förmlich die Freude des Autors am Werk von Schuiten und Peeters, sie spricht aus den Zeilen und überträgt sich auf die Lesenden. Wiederholt habe ich die Lektüre unterbrochen, um selbst noch einmal nachzuschauen und zu überprüfen, wie sich die Werke lesen, wenn man Baetens' Gedanken folgt.

Rebuilding Storyworlds bietet einen optimalen Ausgangspunkt, sich einmal mehr dieser ikonischen Reihe zu nähern. Zu empfehlen ist ein Doppelstudium: Baetens' Buch sollte parallel zu den Comics gelesen werden, denn erst in dieser Verbindung entfaltet die Monographie ihre volle Wirkkraft.

 

Rebuilding Storyworlds
The Obscure Cities by Schuiten and Peeters
Jan Baetens
New Brunswick: Rutgers University Press, 2020
198 S., 29,00 Euro
ISBN 978-1-978808-47-8