An der Grenze
Intermediale Inszenierungen der Berliner Mauer
Susanna Schoch (Winterthur)
Am Besuchstag auf dem Berliner Sophienfriedhof will Ernst Mundt ĂŒber die Mauer in den Westen. Wie der Fluchtversuch fĂŒr die Figur aus Geteilte Stadt endet, kĂŒndigen bereits die ersten zwei Panels an, die das Hindernis, den Stacheldraht, sequenziell heranzoomen. Der tödliche Schuss vollzieht sich im Onomatopoetikum »PENG!« (BH, 36), das die ĂŒbrige Wortlosigkeit der Szene durchbricht und die Augen des Ostdeutschen ĂŒberdeckt, also buchstĂ€blich dessen Licht auslöscht. Sein Sturz erfolgt ĂŒber eine Reihe vertikaler Frames, die fortlaufend schmaler werden. Die Umgebung bleibt derweil unverĂ€ndert. Die Wiederholung desselben Hintergrunds dient laut Martin SchĂŒwer dazu, Details zu fokussieren, Texte hervorzuheben oder »einen Stillstand in der Handlung [âŠ] zu veranschaulichen und diese dadurch zu rhythmisieren« (SchĂŒwer, 164). TatsĂ€chlich wirkt die Sequenz wie in Zeitlupe. Grund hierfĂŒr sind zum einen die statische Kulisse, die der Mauer im Gegensatz zum fallenden Körper eine kontrastierende Standfestigkeit verleiht, zum anderen die fĂŒnf aufgewendeten Panels: WĂ€hrend ihre SchmĂ€lerung das endende Figurenleben spiegelt,1 gewinnt der Grenzbau aufgrund der Repetition an OmniprĂ€senz â zumal dieser einen GroĂteil der Frames beansprucht und verbirgt, was auf der Ostseite zu liegen kommt. Doch zeichnet sich in der Panelaufteilung nicht auch eine Mauer ab, die gespalten ist?
TatsĂ€chlich nutzt der Comic seine IntermedialitĂ€t,2 um die Berliner Mauer zu verhandeln, so die These dieses Beitrags. Text und Bild stĂŒtzen oder untergraben sich oder lösen sich gegenseitig auf, wobei das Arrangement der Panels wie auch der Gutter eine entscheidende Rolle einnehmen. Die vielfĂ€ltigen Darstellungsmöglichkeiten eröffnen ein Spiel mit Ambivalenz und Zeitlichkeit, das den vermeintlich linearen ErzĂ€hlfluss unterwandert. Darin reflektieren sie nicht nur das Bezeichnete â den innerdeutschen Grenzbau â, sondern auch sich selbst: Die Mauer bildet ein gleichsam physisches wie narratologisches Konstrukt, das Relationen zwischen den Comicelementen auslotet.
Diesen medienspezifischen3 Strategien sucht die Analyse anhand zweier Werke nachzuspĂŒren: des historisch-fiktiven Comics Treibsand von Alexander Lahl, Max Mönch und Kitty Kahane (2014) und der biografischen Kurzcomicsammlung Berlin â Geteilte Stadt von Susanne Buddenberg und Thomas Henseler (2012). An beide richtet sich die Frage: Wie fĂŒhrt der Comic die Berliner Mauer vor, und inwiefern kann er etwas leisten, was Narration in reiner Textform nicht vermag?
»Auf Treibsand gebaut«
Comics sind imstande, Grenzen zu verwischen »und Text als Bild oder Bild als Text darzustellen«, erklĂ€rt Stephanie Hoppeler (31). Deutlich wird dies an einem Schriftbild aus Treibsand (Abb. 2). Indem sich die Beschaffenheit der Schrift4 in den Vordergrund drĂ€ngt, unterwandert sie ihre Funktion als Sinnvermittlerin und damit zuweilen den zu vermittelnden Sinn; aus diesem Grund erhebt sie sich selbst zu einem Bedeuteten (Assmann, 241). Dass die DDR im Beispiel als bröckelndes Gestein erscheint, setzt den Zusammenbruch des Mauerstaats, den die benachbarten Panels textuell ankĂŒndigen, bildlich um. Von den Zeitungsartikeln, die Protagonist und Ich-ErzĂ€hler Tom Sandman am Telefon diktiert, geben die Sprechblasen nur Fragmente preis. Das Kapitel startet bereits mit einem Teilsatz, der unvollstĂ€ndig bleibt: »âŠbeginnt der Staat sich aufzulösen« (KLM, 110), steht da bloĂ â denn mit der DDR zerfĂ€llt die Syntax. Zeichen der zunehmenden LĂŒckenhaftigkeit der innerdeutschen Grenze sind die Auslassungspunkte: »⊠Die politische Struktur ist starr und deshalb zerbrechlich. ⊠ein Staat aus sowjetischem Porzellan⊠[âŠ] // âŠauf Treibsand gebaut, Treibsand, der in Bewegung geraten istâŠÂ« (KLM, 110 f.) Die Allegorie sucht eine InstabilitĂ€t zu benennen, die dem TrĂŒmmerstaat als Konsequenz des Zweiten Weltkriegs Rechnung trĂ€gt: Das sowjetische Porzellan versinnbildlicht eine originĂ€re materielle FragilitĂ€t der politischen Struktur, aus der die DDR entstand. Der Treibsand wiederum impliziert eine unsichere Basis, die den staatlichen Niedergang als unvermeidbar deklariert: »Die DDR ist am Ende«, kommt der Protagonist zum Schluss. »Genau wie dieser Artikel.« (KLM, 111). Findet sich deshalb der Treibsand teilweise im Namen Tom Sandmans wieder? Ist der Ich-ErzĂ€hler als mythologischer Sandmann zu lesen, der die Republik in seinem journalistischen Tun und damit auch narrativ schlafen legt? Solche Interpretationen entkrĂ€ftet der Comic sogleich, indem er Toms Wortwahl anficht: »Porzellanstaat? Treibsand?«, Ă€fft seine Begleiterin nach. »Meinst du, das ist intellektuelles GeschwĂ€tz?« (KLM, 111) Da jedoch der Comic selbst Treibsand heiĂt und damit die Begrifflichkeit der Hauptfigur aufnimmt, entfaltet die Kritik medienreflexives Potenzial: Das spröde DDR-Schriftbild indiziert nicht nur den politischen Bruch, sondern auch jenen zwischen Text und Bild. In beiden FĂ€llen â der Berliner Mauer wie dem Comic â kommt es zur Dekonstruktion einer im Wesentlichen internen Grenze, die von Differenz und Zusammengehörigkeit zugleich geprĂ€gt ist.
Die StĂ€rke des Mediums Comic liegt nach Martin SchĂŒwer in den »Wechselwirkungen zwischen Bild und Sprache, die auf je eigene Art ErzĂ€hlstrukturen transportieren und einander dabei in ihrer Wirkung verstĂ€rken oder unterlaufen können.« (SchĂŒwer, 336) Indem sie stetig aufeinander verweisen, demonstrieren sie ihre jeweiligen (Un-)Vermögen: »Medien-Kombinationen«, schreibt Monika Schmitz-Emans, »lassen die einzelnen Bestandteile des Arrangements per se in ein SpannungsverhĂ€ltnis treten, das u. a. die Frage aufwirft, was fĂŒr die beiden betroffenen Medien als solche jeweils als konstitutiv und verglichen mit dem anderen Medium eigenartig gelten soll.« (Schmitz-Emans, 58) Entscheidend fĂŒr das Zusammenspiel ist die Anordnung im Panel. Wie der Frame arrangiert ist, was er zeigt und was nicht, beeinflusst die ErzĂ€hlung maĂgeblich (SchĂŒwer, 123â196). Beispielhaft ist das Seitenpanel in Abb. 3.
Als der amerikanische Journalist Tom Sandman »fĂŒr eine groĂe New Yorker Tageszeitung« (KLM, 9) nach Westberlin reist, begegnet er Ingrid, die ursprĂŒnglich aus der DDR stammt. Von ihrem ersten Fluchtversuch erzĂ€hlt sie ihm auf einer Aussichtsplattform an der Mauer, die, wie der Ich-ErzĂ€hler erklĂ€rt, die »Stadt errichtet [hatte]. / Jeder sollte sehen können, wie unmenschlich das Regime im Osten war.« (KLM, 72) Obwohl der Text die Transparentmachung der Grenzvorkehrung proklamiert, enthĂŒllt der Frame nur die Westseite. Die Ostseite offenbart sich erst ĂŒber zwei weitere Panels mit Fokus auf Treppe und Mauer; Letztere scheint sich dabei vom ersten zum zweiten Panel im graublauen Hintergrund gegen den Himmel hin aufzulösen. Mit der Besteigung der Plattform lichtet sich zwar fĂŒr die Figuren die Sicht, doch den Rezipierenden bleibt sie verwehrt. Dieses vorerst unzugĂ€ngliche Mehrwissen sorgt fĂŒr Spannungsaufbau. Dass der Grenzstreifen schlieĂlich in einem textlosen Panel aufgedeckt wird, bekrĂ€ftigt das Moment des Innehaltens, da Bilder ohne Text zeitlich undefinierter sind (McCloud, 110). Die ErmĂ€chtigung wiederum, die mit der Freilegung des Blicks in die DDR einhergeht, schlĂ€gt sich im Wechsel zur Obersicht nieder. Trotzdem hĂ€lt ein Eindruck von UnzugĂ€nglichkeit an, insofern der schmale Frame den Blickradius beschrĂ€nkt. Um diesen zu erweitern, muss ein »berĂŒhmter Besucher« (KLM, 72) auftreten: Der amerikanische PrĂ€sident John F. Kennedy, der 1963 wĂ€hrend seines Berlin-Besuchs auch an der Mauer Station machte, steht hier als historischer Zeuge des Bauwerks und seiner Konsequenzen ein. Sein Panel markiert sowohl die Ăffnung des Frames als auch den Zugang zu Ingrids Vergangenheit. Von der Plattform aus blickt der Politiker auf einen Grenzsoldaten jenseits der Mauer hinab, als wĂŒrde er eine »seltene Spezies beobachten« (KLM, 72). Diese Ăbermachtstellung kontrastiert eine MilitĂ€rfigur unter der Plattform, die allein fĂŒr die Rezipierenden und selbst fĂŒr diese nur bis zur Schulter sichtbar ist. Inszeniert sie ein ebenso omniprĂ€sentes wie ungreifbares Ăberwachsungsorgan, vor dem man selbst im Westen nicht gefeit ist? Oder bedeuten ihre versteckte Position und der fragmentierte Körper, dass nun etwas VerdrĂ€ngtes ans Licht kommt?
Die Folgepanels jedenfalls erhellen Ingrids Geschichte â die eines Grenzers und seiner republikflĂŒchtigen Schwester. Wenngleich ihre Sprechblase und ein vorĂŒberfahrender Soldat den Wunsch nach einem Wiedersehen kommunizieren, trifft dieses weder bildlich noch textuell ein. Die antagonistische GegenĂŒberstellung ist in der Anordnung zweier gleich groĂer Panels (P5/7) umgesetzt: Das obere zeigt eine erzĂ€hlende, erinnernde Ingrid, das untere ihren Bruder bei der Arbeit. Das gespaltene VerhĂ€ltnis zwischen den Geschwistern wird nicht nur in den PortrĂ€ts reflektiert, die via Framelinie und Gutter getrennt sind, oder darin, dass sich die Figuren den RĂŒcken zukehren, sondern auch in der ErzĂ€hlerstimme: Ingrid kommt nur per Sprechblase zu Wort, wo sie selbst im Bild ist. Tritt ihr Bruder in den Frame, ĂŒbernimmt Ich-ErzĂ€hler Tom Sandman. Im Gegensatz zur direkten Rede, die laut Jochen Vogt »szenisch unmittelbar, vergegenwĂ€rtigend und zeitdeckend« (Vogt, 156) wirkt, bĂŒĂt die indirekte Rede aufgrund des Berichtsmodus an »IntensitĂ€t« (Vogt, 152), Echtheit und Sicherheit ein. Daher fĂŒhrt sie zu einer »Distanzierung sowohl des ErzĂ€hlers wie der Leser von der Person und ihrer Rede« (Vogt, 152). In Comics herrscht auch in diesem Fall das âșSzenischeâč vor. Allerdings kommt der Sprechblase eine auĂergewöhnliche Position zu, insofern sie sich zwischen Bild-, Text- und ErzĂ€hlebenen bewegt: Nach Monika Schmitz-Emans ist sie »nicht Bestandteil der intradiegetischen Welt â und sie gehört doch zu deren Darstellung« (Schmitz-Emans, 60). Obwohl sie, anders als etwa das Bild, formal ausserhalb der Handlungswelt liegt, ist sie als Figurenrede dennoch integriert (SchĂŒwer, 329â336). Bereits die Blasenform lĂ€sst auf ihre Funktion als Sprachrohr oder »Sprechatem [âŠ]« (Clausberg, 18) schlieĂen, weswegen ihr »die unmögliche Materialisierung einer flĂŒchtigen Stimme« (Balzer, 153) gelingt. Der Textkasten hingegen bleibt extradiegetisch und dient hier als Kontrast, der Ingrids zeitweilige Schweigsamkeit bekundet. Dass darin gleichsam eine Sprachlosigkeit mitschwingt, die den tragischen Erfahrungen nicht beizukommen weiĂ, schlĂ€gt sich zweifach nieder: Zum einen lĂ€sst die textuelle PrĂ€senz des Ich-ErzĂ€hlers darauf schlieĂen, dass die bildliche Realisierung des Bruders (P7) nicht Ingrids, sondern Toms Vorstellung entspricht. Zum anderen muss der Ăbergang zwischen den Geschwistern (P5/P7) ĂŒber ein ungerahmtes Mittlerpanel (P6) stattfinden, das in seiner UnbeschrĂ€nktheit die BrĂŒcke schlĂ€gt. Die Auflösung des Panelrahmens verdichtet, worauf sich der Frame als »ausschnitthaften Blick in einen als grundsĂ€tzlich unbegrenzt gedachten Bildraum« (SchĂŒwer, 123) immer bezieht: Ohne Framelinie kommt dem Panel rĂ€umliche und zeitliche Unendlichkeit zu, insofern dieses von einer bemessenen Fassung enthoben ist (Eisner 2008a, 23â37/McCloud, 110 f.). Dass die Mauer hier bis zur Buchkante und damit potenziell ĂŒber den materiellen Rand der ErzĂ€hlung hinausÂŹreicht, ist Ausdruck ihrer WirkmĂ€chtigkeit. Als emotional aufgeladenes Sinnkonstrukt ist ihr restriktiver, Familien trennender Effekt nicht auf eine physische Gegenwart beschrĂ€nkt, sondern â wie auf dieser Seite â allgegenwĂ€rtig.
Neben der Auflösung des Panelrahmens und der Variation der FramegröĂe sorgen auch Layout und Sequenz fĂŒr Dynamik. In Abb. 4 etwa bringt gerade die Gleichförmigkeit des Panelquartettes eine ZerrĂŒttung der Figurenentwicklung hervor: Die Form der Anordnung, die erst beim Betrachten der gesamten Seite sichtbar wird, verleiht den Panels neue Bedeutung (SchĂŒwer, 161) und lĂ€sst diese als Gitter oder Fragmentierung aufscheinen, die zunehmend ein GefĂŒhl von UnzugĂ€nglichkeit und Entwurzelung entfalten. Bereits das erste Panel manifestiert die textuell verweigerte RĂŒckkehr in die DDR, indem Ingrid durch Mauer und Felsvorsprung im doppelten Abseits steht. Das Close-Up5 des zweiten Panels positioniert sie im Vordergrund und Tom hinter ihr im Schatten; dieser Schatten betont einerseits den Fokus auf die Ostdeutsche und ihre subjektive Erfahrung, andererseits die Isolation, von der sie berichtet. Die Sprechblasen sind es, die Ingrid letztlich sogar bildlich auĂen vor lassen. Als ihre Stellvertreterinnen fördern sie trotz des diachronen Monologs eine Gleichzeitigkeit zutage: Die ersten beiden Panels wirken fort, wenngleich der Körper nicht mehr im Bild ist. So gelingt es der Sequenz, den Fokus zu verschieben, ohne die Figur aus dem Frame zu verbannen. Ins Zentrum rĂŒcken die Grenze (P3) und der Stacheldraht (P4). Doch eben darin spiegelt sich Ingrids Verdammnis: Wo noch die Obersicht AnnĂ€herung schafft, indem sie die Mauer perspektivisch zum umzĂ€unten Weg im GrĂŒnen reduziert, erinnert der Zoom-In an ihre physische wie psychische UnĂŒberwindbarkeit: »Selbst wenn ich einreisen dĂŒrfte«, gesteht die RepublikflĂŒchtige, »ich wĂŒrde es wahrscheinlich nicht tun. Ich habe viel zu groĂe Angst, dass alles nochmal passiert, dass sie mich aus irgendwelchen GrĂŒnden verhaften.« (KLM, 86)
Der sequenzielle Zoom auf die Mauer erzeugt eine eigentĂŒmliche Mischung aus Nach- und Gleichzeitigkeit. Obwohl auch »monoszenische« und »pluriszenische« (beide Dolle-Weinkauff, 82) Einzelbilder chronologische Handlung bei eigentlicher SynchronizitĂ€t generieren können,6 macht sich Felix Giesa fĂŒr eine BefĂ€higung der Comics stark: Die Sequenz eröffnet ein Spektrum verschiedener Zeitformen, die sich in Bild- und Textelementen, in Anzahl, GröĂe und Anordnung der Panels sowie in der Lesebewegung niederschlagen.7 Andreas Knigge bringt es auf den Punkt: Die »Panels [âŠ] verdichten einen zeitlichen Ablauf zu einem grafischen Konstrukt, das Ungleichzeitiges gleichzeitig darbietet.« (Knigge, 22) Der Ablauf entsteht erst durch die Sequenz und den Gutter (SchĂŒwer, 218/McCloud, 108). Indem der Raum zwischen den Frames zum Vorschein bringt, was auĂerhalb liegt, manifestiert und verflĂŒchtigt er zugleich ihre Grenze (Knigge, 23). Beispiel dessen ist der Zoom-In, der allein aufgrund des Gutters und der rezeptiven ZusammenfĂŒhrung der Panelsequenz als solcher kenntlich wird.
Trotz ihrer SchlĂŒsselfunktion bleibt die Leerstelle oft unbemerkt. Nicht aber in Abb. 5, wo der unscheinbare Gutter »Anwesenheit ohne Gegenwart« (Mersch, 11) erlangt. Seine Abwesenheit verweist auf das Fehlen eines ĂŒberbrĂŒckenden Elements und fokussiert darum die Unbezwingbarkeit. Die Auslassung des Gutters fĂŒhrt in den Worten Hans Ulrich Gumbrechts zum »Nach-vorne-Bringen, In-den-Blick-Bringen« (Gumbrecht, 15) der Framelinie als narrative, weil teilende Komponente. WĂ€hrend die â abgesehen von den Trennlinien â kontinuierliche Kulisse eine Zusammengehörigkeit der Szenen suggeriert, setzen der Dialog und die mehrfach abgebildeten Figuren ein Fortschreiten der Handlung voraus. Ăhnlich wie in pluriszenischen Bildern oder Simultandarstellungen entsteht ein Nebeneinander verschiedener Augenblicke, die vor ihrem ĂŒbergreifenden Hintergrund synchron existenzfĂ€hig werden; sie lassen den Zwist, der sich in den Sprechblasen zwischen Tom und Ingrid entspinnt, nachhallen. Indes durchbrechen die Linien sowohl die ErzĂ€hlmomente als auch die Mauer, die darum als ebenso trennendes wie in sich gespaltenes Konstrukt inszeniert ist.
Mauerfall
Linien verkörpern eine Schnittstelle, die nicht nur Trennung, sondern auch Ăbertritte markieren kann. Das veranschaulicht ein Panel aus dem Sammelband Berlin â Geteilte Stadt (Abb. 6). Familie Holzapfel will mit der Seilbahn ĂŒber die Mauer fliehen, wie die Ăberschrift der KurzerzĂ€hlung ankĂŒndigt. Der Fluchtplan ist auf kariertem Papier skizziert. Obwohl Grund fĂŒr den Entwurf das zuweilen ĂŒbermannende Hindernis ist, das die Mauer bildet, nimmt diese gerade mal ein halbes Karo ein; im MaĂstab scheint sie winzig und leicht zu bewĂ€ltigen â ein Gartenzaun zwischen NachbarhĂ€usern, ĂŒber den man ohne minuziöse Vorbereitungen klettern könnte. Dass diese dennoch erforderlich sind, stĂ€rkt den Grenzbau als Barriere. Gleichsam lĂ€sst ihn seine Verkleinerung ĂŒberwindbar aussehen. Dementsprechend werden Linien und Grenzen mehrfach begangen: mit dem Stahlseil, das Mauer wie Karos ĂŒberquert, mit der flĂŒchtenden Figur, die bereits ĂŒber dem Grenzbau schwebt, sowie mit den handgeschriebenen Texten, die sich ĂŒber die Linierung des Papiers hinwegsetzen und in ihrer Differenz zur ĂŒbrigen Druckschrift eine AnnĂ€herung an den Bildteil bedeuten (SchĂŒwer, 340â352). Wenn der Comic seine Schriftart hier auf den skizzenhaften Zeichenstil abstimmt, wo er gewöhnlich eine klare Linie pflegt, dient dies der rĂ€umlichen und zeitlichen Dynamisierung. Sowohl Martin SchĂŒwer als auch Scott McCloud argumentieren, dass Abstraktion die Mediensynthese und den LektĂŒrefluss steigert: Ein realitĂ€tsfernes Bild erlangt sprachlichen Charakter und gleicht sich dadurch dem Text an. Je wirklichkeitsnĂ€her (und farbiger) die Darstellung hingegen, desto stĂ€rker fallen Divergenzen ins Gewicht (McCloud, 37â67, SchĂŒwer 2008, 340â352). SchĂŒwer ist beispielsweise ĂŒberzeugt: »Schrift und Sprechblasen wirken im [âŠ] fotorealistischen Panel schon optisch als Fremdkörper.« (SchĂŒwer, 348) Allerdings beweist der nĂ€chste Kurzcomic (Abb. 7), welch Potenzial gerade im Kontrast von Fotografie und Zeichnung schlummert. FĂŒr Familie Holzapfel jedoch ist die Angleichung von Schrift und Darstellung sinnstiftend, denn mit der medialen Grenze zwischen Text und Bild wird auch die Berliner Mauer durchlĂ€ssig: Ihre Skizze reduziert die ĂŒberwĂ€ltigende Blockade zur bezwingbaren HĂŒrde. »Der Weg in die Freiheit« (BH, 52) bleibt den Protagonist_innen nicht lĂ€nger verwehrt.
Derweil findet Detlef Matthes seinen eigenen Zugang zur titelgebenden anderen Seite Berlins. Noch als Kind hat er keine Vorstellung von der BRD. »PapaâŠÂ«, fragt er bei einem Stadtrundgang, »âŠwas ist das weiĂe Ding da hinten?« »Das ist die Mauer«, antwortet sein Vater. »Die Mauer?«, muss der Sohn nachhaken. »Ja, und hinter der Mauer liegt West-Berlin.« Doch auch damit vermag der Junge nichts anzufangen, denn: »Der âșandere Teilâč von Berlin«, erklĂ€rt der Ich-ErzĂ€hler, »ist unbekanntes Land fĂŒr mich, das in unseren StadtplĂ€nen als unbebautes Terrain verzeichnet ist.« (alle BH, 60 f.) Im Gegensatz zu seiner kindlichen Unwissenheit, kann er sich als Jugendlicher »nun ein eigenes Bild machen« (BH, 63), und zwar mittels Kamera. Die Fotokopie, die das erste Panel reprĂ€sentiert, hebt sich zwar von den Zeichnungen ab, bleibt jedoch als Teil des Comics kenntlich; dies, wegen des Frames und der deutlich gezeichneten Keile â in einem vorangehenden Panel auch wegen des Onomatopoetikums »Klick!« (BH, 63). Das Fotozitat offenbart den Blick durch ein Objektiv, der vierfach wirkt: Erstens setzt er die Wahrnehmungsposition des Protagonisten und der Rezipierenden gleich, was den Handlungsraum des Comics zur Leserschaft hin öffnet. Zweitens bezeugt er Detlefs Emanzipation, indem er den Prozess des Sich-ein-Bild-Machens festhĂ€lt. Drittens schafft er dadurch MedienreflexivitĂ€t, denn da der Frame als Kameralinse und das Panel als Momentaufnahme inszeniert sind, ĂŒbertragen sie die Eigenschaften der Fotografie vorĂŒbergehend auf den Comic, wĂ€hrend sie seine Verschiedenheit hervorheben und mehr noch mit ihr spielen. Viertens fĂŒhrt der Blick durch ein Objektiv zusammen mit dem Fotorealismus zur Produktion von Wirklichkeit. Selbst in solch zitierter Form, schreibt Monika Schmitz-Emans, entwickelt Fotografie einen Bezug zur RealitĂ€t, indem sie diese nicht mehr nur abbildet, sondern mittels Fokussierung verstĂ€rkt. Gleichsam dient Fotografie der Heraufbeschwörung von Historischem, insofern sie Vergangenes sowohl einfĂ€ngt als auch vergegenwĂ€rtigt und daher als dokumentarisches Zeitzeugnis fungiert. AuĂerdem bietet sie eine »Reflexion ĂŒber die Darstellung und Darstellbarkeit« (Schmitz-Emans, 59 f.); ein verschwommenes Bild zum Beispiel kann ebenso von problematischen AufnahmeverhĂ€ltnissen wie von schöpferischer Intention herrĂŒhren. DarĂŒber hinaus geben zitierte Fotografien
»im Comic vor allem Anlass zu dekonstruktivistischen und vielfach [âŠ] selbstreferenziellen Spielen. [âŠ] Nicht nur âșRealitĂ€tenâč werden konstruiert, sondern auch die âșMedienâč, welche sie konstruieren. [âŠ] Die verschiedenen Bild-âșMedienâč â hier Photo und Comiczeichnung â erzeugen sich wechselseitig, wo sie sich gegeneinander abgrenzen, aber als Pendant dazu gibt es auch Entdifferenzierungsprozesse, bei denen (ausgehend von zwei âșkonventionell als different betrachteten Medienâč) flieĂende ĂbergĂ€nge zwischen dem einen und dem anderen geschaffen werden. âșPhotos im Comicâč konfrontieren den Leser nicht zuletzt mit der Frage, wann er Medien als etwas Distinktes erkennt â und woran.« (Schmitz-Emans, 71 f.)
Das Fotozitat steigert die IntermedialitĂ€t: Was im Grunde verschieden ist, wird vermischt, zuweilen solange, bis eine Unterscheidung unmöglich ist. Doch gerade in der Vermischung entblöĂen sich die Medien gegenseitig. Im Zuge der eingelĂ€uteten Selbst-/Reflexion gelingt die AnnĂ€herung an das Unnahbare: »Mit der Zeit« findet Detlef Wege, zu sehen, wo es vermeintlich »NICHTS ZU SEHEN [GIBT]« (BH, 63), und das Gesehene zudem zu bewahren. Inzwischen vermag er die Kamera sogar aus dem Panel heraus auf die Rezipierenden zu richten. Zwar stellt das Folgepanel richtig, dass nicht die Rezipierenden, sondern die Mauer aufgenommen wurden, doch die vorĂŒbergehende Unklarheit bekrĂ€ftigt die ErmĂ€chtigung des Protagonisten: Sowie er die Grenze zwischen der Comicwelt und der Welt der Rezipierenden ĂŒberwindet, bewĂ€ltigt er die Berliner Mauer, indem er sie sich trotz Verbots (BH, 67) fotografisch aneignet.
Im Zeichen des GrenzĂŒbertritts steht auch die rechte Seite: Das TreppengelĂ€nder im Mittelpanel ist auf die beiden anliegenden Panels ausgerichtet und stĂ€rkt damit deren ĂbergĂ€nge, die der Protagonist nun begehen kann. Als er im letzten Panel anlangt, eröffnet sich ihm der Blick durch ein Fenster, das neben Reflexion und Transparenz auch eine Dopplung bedeutet. Einerseits sorgt das Fenster fĂŒr die EntrĂŒckung der Mauer, andererseits schĂ€rft es die Sicht der Hauptfigur auf den Grenzbau. Zwei SpiegelflĂ€chen â die Kameralinse und das Fensterglas â demonstrieren, was oben kommentiert ist: »Damit FlĂŒchtlinge besser zu sehen sind, ist die Mauer weiĂ gestrichen. FĂŒr die maroden Hausfassaden im Osten ist dann keine Farbe mehr ĂŒbrig.« (BH, 65) Dass die DDR ihre Ressourcen zur Erkennung RepublikflĂŒchtiger statt zu Restaurationszwecken nutzt, entlarvt den âșantifaschistischen Schutzwallâč als segregierendes Monument. Zeichnet sich im abgeblĂ€tterten Fassadenverputz jedoch nicht die Dekonstruktion der Mauer ab, die der letzte Kurzcomic vollzieht?
In der abschlieĂenden ErzĂ€hlung feiert Protagonist Jan Hildebrandt seinen 18. Geburtstag. Es ist der 9. November 1989 â der Tag, an dem die Mauer fĂ€llt. Bemerkenswert ist das Moment, in dem die Hauptfigur, wie zahlreiche Ostberliner_innen vor ihm, zusammen mit Freund_innen den Grenzbau erklimmt. Das Panel im Panel legt den zeitlichen Fokus auf diese fĂŒr die ErzĂ€hlung ausschlaggebende Szene (Eisner 2008a, 50). Obwohl die Freund_innen im ĂŒbergeordneten Frame noch weit vom Grenzbau entfernt sind, ist ihre Mauerbesteigung bereits integriert und damit gesichert. Indem das Panel im Panel sowohl die Sequenz als auch den Gutter ĂŒbergeht, bedeutet es selbst eine ErmĂ€chtigung. Zudem verlaufen Brandenburger Tor, Mauer wie Figuren nicht nur bis zur Framelinie und damit ĂŒber diese hinaus, sondern auch parallel zum Gutter, weshalb sie dessen ĂŒbergreifende, ĂŒberbrĂŒckende Eigenschaft annehmen. Dementsprechend sorgt die Frontale fĂŒr die perspektivische AnnĂ€herung der Mauer ans Brandenburger Tor, wodurch die GrenzgĂ€nger direkt daneben zu stehen kommen. Einen Ă€hnlichen Effekt hat das eingebettete Panel: Dass sich die Mauerbesteigung ĂŒber den gedoppelten Panelrahmen und den Seitenwechsel vollstreckt, unterstreicht zwar das Hindernis und den Kraftakt, der zur Ăberwindung nötig ist. Gleichzeitig hebt es die BewĂ€ltigung hervor, weil der entsprechende Frame auf der nĂ€chsten Seite zuoberst steht und der Ausblick von West nach Ost (und wieder zurĂŒck) schweift. Dadurch wird die Mauer auf beiden Seiten geöffnet. Die Folgepanels wechseln auch zwischen Unter- und Obersicht, was die gewonnene Ăberlegenheit der GrenzgĂ€nger umsetzt. Ăber drei Panels hinweg breiten sie sich aus, bis sie nur noch eine in Umrissen greifbare Masse bilden. Zwar kann diese das Tor körperlich nicht lĂ€nger durchschreiten, wie der Ich-ErzĂ€hler erklĂ€rt, doch ihr Schatten vermag die Westseite weiterhin zu erreichen. Dies betont die StĂ€rke eines Kollektivs, das im Begriff ist, das Brandenburger Tor wiederzueröffnen und die â von den Grenzsoldaten abgesehen â menschenleere Sperrzone einzunehmen. Ein Kollektiv, das einen Zersetzungsprozess ins Rollen bringt. So gelingt es Jan schlieĂlich, ein StĂŒck Mauer als »Souvenir« (BH, 89) herauszuschlagen und sich dieses als plötzlich fassbares ErinnerungsstĂŒck anzueignen.
Die Wichtigkeit dieses dekonstruierenden Akts unterstreicht dessen Wiederholung am Ende, wo er sich von Frame wie Mauer loslöst (Abb. 9). Darin verdichtet sich, was beide ComicbĂŒcher ohnehin leisten: Indem sie den Grenzbau immer wieder in verschiedenen Panels inszenieren, bringen sie dessen Ambivalenz hervor. Gewiss ist seine stetige Repetition insofern gegeben, als er ein handlungsstrukturierendes Element darstellt, das darum kontinuierlich auftritt. Dennoch kommt der Wiederholung narrative Bedeutung zu, da sie die Mauer als serielles Produkt vorfĂŒhrt, das stets identisch und doch anders erscheint. Dabei ist sie nach Elisabeth Klar »nicht nur diachron zu unterschiedlichen Zeitpunkten, sondern auch synchron an unterschiedlichen Orten anwesend« (Klar, 171). Deutlich wird dies im Sammelband, da die diversen Kurzcomics eine temporale, geografische wie narrative Differenz voraussetzen. Doch auch innerhalb der einzelnen ErzĂ€hlungen prĂ€sentiert sich die Mauer vielfĂ€ltig: Wo die Sequenz der Mauerbesteigung vor allem perspektivische Unterschiede auftut (Abb. 8), leitet Detlef mit seiner Kamera von verschiedenen Orten und Zeitpunkten in ein neues Medium, die Fotografie, ĂŒber (Abb. 7). Auch Treibsand gibt die Mauer zu diversen Augenblicken wieder; auffĂ€llig ist insbesondere das Seitenpanel zur Aussichtsplattform, das zwischen Ingrids narrativer Gegenwart, der RĂŒckblende zu ihrem Bruder und Kennedys historischer Sicht changiert (Abb. 3). Solche Frames produzieren ein stetiges Referenzieren zwischen ErzĂ€hlmomenten, das deren Unterwanderung ermöglicht und dem Comic einen hermeneutischen Charakter verleiht.
Diese verweisende, repetitive, fortsetzende Strategie findet sich in Peter Strohschneiders Begriff der SerialitĂ€t. Sie ist bestimmt durch die Aneinanderreihung an sich eigenstĂ€ndiger ErzĂ€hlentitĂ€ten, wobei die prinzipielle Unendlichkeit dieser Reihung die Abgeschlossenheit ihrer einzelnen Glieder bedingt. Denn wĂ€hrend die Serienglieder Kontingenz bezwingen, indem sie vollendete Ordnungssysteme verkörpern, sorgt die Serie selbst fĂŒr Kontingenzproduktion, weil sie Ăhnlichkeiten, Analogien und darin auch Abweichungen aufzeigt (Strohschneider, 163â190). Die Mauer, die Ernst Mundt und Jan Hildebrandt erklimmen (Abb. 1/8) oder die Tom Sandman und John F. Kennedy betrachten (Abb. 3), ist zeitlich, perspektivisch, zum Teil auch geografisch ebenso identisch wie verschieden. Obwohl es sich stets um ein und denselben Grenzbau handelt, zeigt er sich variabel und fragmentarisch. Da er aufgrund seines schieren AusmaĂes nie vollstĂ€ndig abgebildet sein kann, fĂŒgt die Sequenz die einzelnen Darstellungen zusammen. Allerdings vermag selbst das Resultat keine Ganzhaftigkeit zu generieren, da sich bereits die angeblich abgeschlossenen Panels als ausschnitthafte Frames entpuppen. Das Ganze wird zum Teil, zur Repetition, weshalb sich »AnsprĂŒche auf Gewissheit und Verbindlichkeit von Sinn oder auf ReprĂ€sentanz [âŠ] schwer aufrechterhalten« (Strohschneider, 168) lassen. Die repetitiven Abbildungen und Beschreibungen entwickeln eine sonderbare Kontingenz, die den Grenzbau als ebenso allmĂ€chtig wie wankelmĂŒtig darbieten. Letzteres gewinnt am Ende die Ăberhand (Abb. 9): Indem der Comic wiederholt, wie die Figur ein »BETONSTĂCK AUS DER BERLINER MAUER« herausschlĂ€gt, diese Wiederholung aus ihrem ursprĂŒnglichen Kontext befreit und auf einen blanken Hintergrund, auf eine Leerstelle ĂŒbertrĂ€gt, lĂ€sst er aufscheinen, was bisher nur vage greifbar war: Der Gutter, der vielfach parallel zum innerdeutschen Grenzbau gefĂŒhrt wird und diesen in seiner ĂŒberbrĂŒckenden Eigenschaft immer schon erschĂŒttert, kommt hier zusammen mit der Berliner Mauer zu Fall.
In Stein gemeiĂelt?
Folglich lĂ€sst sich die These bestĂ€tigen: Beide Comics nutzen ihre IntermedialitĂ€t, um die Mauer zu verhandeln. Da die verschiedenen Darstellungsmittel dauernd aufeinander referenzieren, entstehen regelrechte Querverweise. Durch die Verflechtung exponieren sie sich gegenseitig: Deutlich wird dies, wenn sich Text und Bild stĂ€rken oder im Gegenteil negieren. Beispiel hierfĂŒr ist die Aussichtsplattform in Treibsand (Abb. 3), die laut ErzĂ€hlerkommentar das »unmenschlich[e âŠ] Regime im Osten« (KLM, 72) sichtbar machen soll, wĂ€hrend der Frame den Blick auf die Ostseite vorerst verwehrt. Und als er diese endlich freilegt, ist es die Analogie »wie GuckstĂ€nde in Naturparks« (KLM, 72), die verdeutlicht, was Kennedys erhabene Beobachterposition visuell impliziert. Ăhnlich verfĂ€hrt die Sprechblase im gleichförmigen Panelquartett (Abb. 4), die fĂŒr Ingrids bildliche Darstellung einsteht, um an ihrer Stelle die verdrahtete Mauer und die »viel zu groĂe Angst« (KLM, 86) vor einer Einreise in die DDR ins Visier zu rĂŒcken. Hingegen ist es in Berlin â Geteilte Stadt am Ende der Schatten der Mauerbesteiger_innen, der sich trotz des »schon wieder abegriegelt[en]« (BH, 89) Brandenburger Tors auf der Westseite niederschlĂ€gt und damit die textuell errichtete Barrikade bildlich durchbricht. Was den Comic im Vergleich zur Narration in reiner Textform aber auszeichnet, ist die Möglichkeit, die Mauer nicht nur semantisch, sondern auch medial umzustĂŒrzen. Die Grenze zwischen Text und Bild verschwimmt etwa in der Fluchtskizze, die Zeichenstil und Schriftart einander annĂ€hert, oder im Schriftbild und an der Sprechblase, die beide immer schon eine intermediale Position einnehmen. Diese spitzt sich zu, wenn sich etwa das Onomatopoetikum »PENG!« (BH, 36), das nun auch Text und Laut zusammenfĂŒhrt, formal in der gezackten Textblase spiegelt. Derweil verunsichert das Fotozitat die Gewissheit darĂŒber, wo â wenn ĂŒberhaupt irgendwo â ein Medium aufhört und ein anderes anfĂ€ngt.
Eine entscheidende Rolle kommt den comicspezifischen Werkzeugen zu: Panel und Frame agieren selbst als Begrenzung und verweisen als solche immer auch auf ihr AuĂerhalb. Dieses Jenseits verkörpern die Sequenz und der Gutter, womit sie die Möglichkeit zur Ăberwindung bieten. So wird die Mauer tatsĂ€chlich zum narratologischen Konstrukt, das VerhĂ€ltnisse zwischen Comicelementen ermittelt. Die ReflexivitĂ€t entlarvt Mauer wie Mediengrenzen als wankelmĂŒtige Gebilde, die gerade nicht in Stein gemeiĂelt sind.
Verdichtet sich dies am innerdeutschen Grenzbau, da dieser eben innerdeutsch, also Teil einer vorĂŒbergehend getrennten Einheit ist? Um herauszufinden, ob die Inszenierung der Berliner Mauer deshalb von anderen Grenzdarstellungen abweicht, wĂ€ren weitere Untersuchungen nötig. Eine Aktualisierung des historischen Gegenstands könnte ein Vergleich mit zwei Werken zur gegenwĂ€rtigen FlĂŒchtlingssituation schaffen, die diese unter dem Gesichtspunkt der GrenzĂŒberquerung betrachten: Der Riss von Guillermo Abril und Carlos Spottorno (2017) oder Humains â La Roya est un fleuve von Edmond Baudoin und Troubs (2018). Das erste fasst mit Melilla, der spanischen Enklave in Marokko, eine menschengemachte UmzĂ€unung ins Auge; das zweite folgt mit dem Fluss La Roya einer natĂŒrlichen Grenze zwischen Italien und Frankreich. Trotz der unterschiedlichen Beschaffenheit dienen sie als Kulisse desselben Dramas: Der GrenzĂŒbergang bedeutet einen Zugang, den die geflĂŒchteten Protagonist_innen, wenn ĂŒberhaupt, nur heimlich oder kollektiv erlangen können. Sie bezeugen, dass Segregation keineswegs Geschichte ist â und dass sie sich nicht immer in sichtbaren Mauern manifestiert.
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Abbildungsverzeichnis
- Abb. 1: Buddenberg, Susanne, Henseler, Thomas: Berlin â Geteilte Stadt. Zeitgeschichten. Berlin: avant, 2012, S. 36.
- Abb. 2: Kahane, Dominique André (C), Kahane, Kitty (A), Lahl, Alexander (W), Mönch, Max (W): Treibsand. Eine Graphic Novel aus den letzten Tagen der DDR. Berlin: Metrolit, 2014, S. 110.
- Abb. 3: Kahane, Dominique André (C), Kahane, Kitty (A), Lahl, Alexander (W), Mönch, Max (W): Treibsand. Eine Graphic Novel aus den letzten Tagen der DDR. Berlin: Metrolit, 2014, S. 72.
- Abb. 4: Kahane, Dominique André (C), Kahane, Kitty (A), Lahl, Alexander (W), Mönch, Max (W): Treibsand. Eine Graphic Novel aus den letzten Tagen der DDR. Berlin: Metrolit, 2014, S. 86.
- Abb. 5: Kahane, Dominique André (C), Kahane, Kitty (A), Lahl, Alexander (W), Mönch, Max (W): Treibsand. Eine Graphic Novel aus den letzten Tagen der DDR. Berlin: Metrolit, 2014, S. 88.
- Abb. 6: Buddenberg, Susanne, Henseler, Thomas: Berlin â Geteilte Stadt. Zeitgeschichten. Berlin: avant, 2012, S. 46.
- Abb. 7: Buddenberg, Susanne, Henseler, Thomas: Berlin â Geteilte Stadt. Zeitgeschichten. Berlin: avant, 2012, S. 64 f.
- Abb. 8: Buddenberg, Susanne, Henseler, Thomas: Berlin â Geteilte Stadt. Zeitgeschichten. Berlin: avant, 2012, S. 88 f.
- Abb. 9: Buddenberg, Susanne, Henseler, Thomas: Berlin â Geteilte Stadt. Zeitgeschichten. Berlin: avant, 2012, S. 89/91.
- 1] Zudem ruft die Sequenz eine zeitliche Undefiniertheit hervor, indem neben dem Onomatopoetikum weitere Textelemente ausbleiben (McCloud, 110). So entsteht eine eigentĂŒmliche Stille, die einzig der Todesschuss zerreiĂt und das dramatisch verlangsamte Moment unterstreicht. Das einzige, was sich regt, ist der Protagonist, der jeglichen Halt unter den FĂŒssen verliert. Der Fokus auf seine Beine, die zunehmend hinter der Mauer verschwinden, und die Bewegungslinien betonen den Sturz. Bewegungslinien stehen zwischen Bild- und Textebene, da sie etwas eigentlich Immaterielles grafisch umsetzen. Diese Grafiken können narrativ wirken, wie etwa im zweiten Panel unten. Der WidernatĂŒrlichkeit des Figurentods entsprechend laufen die Bewegungslinien dort der Leserichtung zuwider (SchĂŒwer, 69 f.): Die Figur stĂŒrzt von links nach rechts. Die hinabgleitende MĂŒtze wiederum verstĂ€rkt das Moment durch die Repetition des Sturzes nicht nur bildlich, sondern lĂ€sst es auch textuell nachwirken, wenn es auf der Folgeseite heiĂt: »Doch nur seine MĂŒtze erreicht den Westen.« (BH, 37)
- 2] Von einer IntermedialitĂ€t der Comics zu sprechen, ist im Grunde problematisch, da ein Intermedium laut Irina Rajewsky »in irgendeiner Weise zwischen Medien anzusiedeln« (Rajewsky, 12) ist. Passender mutet der Begriff »Medienkombination« an, den Rajewsky zwar als Teilkategorie des Intermedialen einfĂŒhrt, der aber weniger ein Zwischen den Medien meint als einen autonomen Medienverbund »mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien, die in ihrer MaterialitĂ€t prĂ€sent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur (Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen« (beide Rajewsky, 15). Da Rajewskys Medienkombination dem Intermedialen angehört und in den verwendeten ForschungsbeitrĂ€gen vornehmlich von IntermedialitĂ€t die Rede ist, folgt der vorliegende Artikel der Klarheit halber diesem Konsens.
- 3] In Referenz zum Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft wird der Begriff Medium hier »[z]ur Kennzeichnung des spezifischen Zeichensystems« sowie »[z]ur Benennung des eigenen Gegenstandsbereichs in Abgrenzung von anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen« (beide Hallenberger, 551) verwendet.
- 4] Schrift bezeichnet die bildlichen Aspekte eines Textes, weshalb sie gleichermaĂen zu lesen und zu betrachten ist (Balzer, 154/Eisner 2008a, 8â10/Hoppeler, 29â33/SchĂŒwer, 356â365). Text hingegen sei hier mit Susanne Horstmann als eine »Folge von SĂ€tzen oder sonstigen sprachlichen ĂuĂerungen« (Horstmann, 594) definiert.
- 5] Das Close-Up zeigt laut Will Eisner nur Kopf und Schulterpartie und vermittelt SubjektivitÀt (Eisner 2008a, 42 f.).
- 6] WÀhrend monoszenische Bilder ihre Handlung »aus einer abgeschlossenen Kleinhandlung oder einem Teil einer Handlung« entstehen lassen, weisen pluriszenische Bilder »mehrere, chronologisch aufeinander folgende Handlungen« auf; beide produzieren Handlung aus einem »einheitlichen Bildraum« (alle Dolle-Weinkauff 2014, 82).
- 7] Gerade Letztere zeigt, dass Comics nicht nur linear vorgehen, sondern eine hermeneutische (Eagleton, 17â53) Lesart fordern, die intra- wie intermediale Querverweise innerhalb des Panels wie panelĂŒbergreifend erfassen kann.