»Dieses Update bietet neue Funktionen und Verbesserungen«

Familiar Face rezensiert von Heiko Schmelz

Familiar Face ist der psychedelische Ausblick in eine Zukunft, die durch den Glauben an eine permanente Optimierung erschaffen wurde. Im neusten Comic des kanadischen Künstlers Michael DeForge begleiten wir seine Hauptfigur auf der Suche nach emotionaler Verbindung in einer entmenschlichten Gesellschaft.

Thematisch breit gefächert bearbeitet der in Kanada lebende Comic-Künstler Michael DeForge (*1987) in seinen Bildern politische Fragen wie die Kritik an der globalen Privatisierung von Trinkwasser genauso wie die lokale Diskussion um das Recht auf eine kostenlose Nutzung öffentlicher Toiletten in Toronto oder unterstützt via Instagram den Protest eines anonymen Kollektivs von Amazon-Mitarbeitern mit einem Plakataufruf. Ob große oder kleine Themen, sie werden immer mit lakonischem Witz und Meinung aufgegriffen. Auf seiner Website und in den sozialen Netzwerken (vor allem Twitter und Instagram) fällt er künstlerisch durch einen hohen Output und seinen markanten Stil auf. DeForge, vor allem bekannt für sozialkritische und satirische Webcomics, arbeitet überwiegend digital, was sich deutlich am Stil seiner Printcomics erkennen lässt. Seine Bilder sind geprägt von einer organisch geschwungenen, klaren Linienführung. Schraffuren werden wenig eingesetzt, dafür nutzt er kräftige Farben in großen Flächen. International hat sich DeForge außerhalb der Comic-Szene als Designer der Cartoon Network Animationsserie Adventure Time einen Namen gemacht. Seine in beeindruckendem Tempo veröffentlichten Bücher finden aber auch zunehmend außerhalb Nordamerikas großes Interesse – deutsche Übersetzungen liegen allerdings noch nicht vor. Die englische Ausgabe von Familiar Face, bereits sein sechstes Buch beim kanadischen Independent Comic Verlag Drawn and Quarterly, ist uneingeschränkt zu empfehlen. D&Q ist um einen hohen Produktionswert seiner Comics bemüht, was dem quadratischen kleinen Hardcover-Buch anzumerken ist. Von dem eher kleinen Format sollte man sich dabei nicht täuschen lassen, die 175 Seiten geben die kräftigen Farben hervorragend wieder und bieten einiges an Lesezeit.

Abb. 1: DeForges markanter Stil

In Familiar Face entwirft DeForge nun erneut eine sozialkritische Geschichte. Das vorherrschende Paradigma seiner darin entwickelten Zukunftsvision ist das der permanenten Optimierung. Dabei beschränken sich diese »Updates« nicht nur auf technische Geräte, sondern auch auf Infrastruktur, die eigene Wohnung und sogar den Körper. Eine Möglichkeit sich der Optimierung zu widersetzen gibt es nicht. Über Nacht kann unsere Wohnung in einen anderen Stadtteil versetzt werden oder unser Körper verfügt plötzlich über nie gekannte Gliedmaßen. Allerdings weiß niemand mehr genau, wie dieses inzwischen automatisierte System der vermeintlichen permanenten Verbesserungen eigentlich funktioniert. Durch diese sich ständig verändernde Welt führt uns DeForge mit einer polymorphen Hauptfigur, die sich ebenfalls dauerhaften Updates ausgesetzt sieht. Falls ihr Körper einmal ein eindeutiges Geschlecht besessen hat, kann sie sich nicht mehr daran erinnern, denn die Updates haben ihren Körper so verändert, dass sie sich selbst auf alten Fotos nicht mehr erkennt. Die Hauptfigur arbeitet in einer Beschwerdestelle, die DeForge als einen anonymen Ort permanenter Überwachung skizziert. Andere Angestellte kennt die Protagonistin nicht, vielleicht gibt es auch keine. Auf dem Weg zu Arbeit sieht sie unzählige Bewerber_innen, die bereits in den Gängen lauern, um ihren Job zu ergattern, falls sie ihre Arbeit niederlegen würde, was, wie auch ihre eigentliche Tätigkeit, mehr als belastend ist. In der Beschwerdestelle laufen sämtliche Beschwerden gegen das System ein. Es ist jedoch nicht die Aufgabe unserer namenlosen Hauptfigur, diese Beschwerden zu bearbeiten. Sie muss die Nachrichten lediglich lesen, ohne eine Möglichkeit zum Eingreifen oder Handeln zu besitzen. Dabei ist durch eine Zensur unkenntlich gemacht, von wann und wem die teilweise wohl jahrzehntealten Beschwerden stammen.

Die unterschiedlichen Einträge sind von DeForge deutlich grafisch von der Geschichte abgesetzt. Sie werden schwarzweiß in einem dreieckigen Rahmen präsentiert. Hierdurch eröffnet sich den Leser_innen ein Panorama der Welt, welche vor der systematischen Optimierung existierte. So fremd uns zunächst die aus organisch verformten Röhren und Gebilden bestehende labyrinthsche Gegenwart in Familiar Face erscheint, durch die Rückblenden und das Voranschreiten der Geschichte wird man mit Vertrautem aus der eigenen Realität konfrontiert. Die Leser_innen beschleicht das Gefühl, auf eine nicht allzu ferne Zukunft zu blicken. So sind uns beispielsweise überempathische Hilfsprogramme wie Siri und Alexa bereits in Grundzügen bekannt und auch ein bezahlter Service zum Mieten von Freund_innen, wie er in DeForges Comic gezeigt wird, ist schon keine Zukunftsvision mehr. Jessica, die Partnerin unserer Hauptfigur, ist der treibende McGuffin in dieser Dystopie. Wir wissen nur wenig über sie, aber sie arbeitet an der Optimierung der Stadt. Eines Tages verschwindet Jessica und kurz darauf beginnen die Updates der Stadtkarte merkwürdige Fehler aufzuweisen. Im Fußboden einer Bank erscheinen plötzlich Löcher und verschlingen die Kund_innen. Züge des Verkehrsnetzes werden durch Wohnblocks geleitet und ganze Stadtteile in andere verschoben. Jessica hat sich – vermutlich – einer Guerillagruppe angeschlossen, die das System unterwandert. Unsere Hauptfigur bahnt sich den Weg durch das sich gefährlich verändernde urbane Terrain, um Jessica zu finden und zu verstehen, warum sie gegangen ist. Dahinter steckt die Sehnsucht nach emotionaler Verbindung und Stabilität in einer sich beinahe bis zur Unkenntlichkeit entfremdenden Gesellschaft.

DeForges Figur erzählt zumeist nüchtern im inneren Monolog. Die in Caption Boxes angelegten Texte dienen hierbei vor allem der Einordnung der Handlung, die so anhand der manchmal Doodle-artigen Bildebene kaum nachvollziehbar wäre. Zu oft updated sich der Körper der Hauptfigur, das Erscheinungsbild der Stadt und das Interieur ihrer Wohnung. Es bedarf demnach dieser textlichen Hilfestellung, um die einzelnen Elemente zuordnen zu können. Dennoch ist ein hohes Maß an freier Assoziation gefordert, um in DeForges psychedelischen Formen und lebhaften Farben vertraute Gegenstände zu entdecken. Metrostationen ähneln Blutbahnen, Menschen werden zu Hunden und gekaufte Freunde schlüpfen aus fliegenden Eiern. Die Freude am Entdecken und die Bereitschaft, sich in Formen und Farben zu verlieren, sollten die Leser_innen mitbringen. In dieser fantasievollen Illustration steckt die große Stärke von Familiar Face.

Wer allerdings eine extravagante Handlung erwartet, wird vermutlich eher enttäuscht, da die Motive der handelnden Personen und die Auswirkungen auf das System und dessen Bürger_innen vage bleiben. Die Revolution greift letztendlich um sich und führt zu einem anarchischen Zustand. Ob dieser nun eine Verbesserung gegenüber dem System darstellt, lässt DeForge jedoch offen. Familiar Face stellt eine Version der schon jetzt von Optimierung besessenen Gesellschaft dar, die der Autor einen Schritt weiter ins Absurde verschiebt. Die Beobachtungen des kanadischen Künstlers sind in ihrer Präzision ein durchaus aktueller Kommentar gesellschaftlicher Verhältnisse und häufig geprägt von subtil subversivem Humor. Seine Dystopie knüpft dabei in der Beschreibung verschleierter Machtstrukturen an andere Erzählungen wie Kafkas Urteil, Huxleys Brave New World oder auch Filme wie Spike Jonzes HER an.

Familiar Face ist im Frühjahr 2020 bei Drawn and Quarterly erschienen. Eine deutsche Übersetzung ist aktuell nicht geplant. Mit Heaven No Hell ist bereits das nächste Buch von Michael DeForge für Frühjahr 2021 bei D&Q angekündigt.

 

Familiar Face
Michael DeForge
Toronto: Drawn and Quarterly, 2020
175 S., 21,95 USD
ISBN 978-1-77046-387-5