Am Ende sind wir Fruchtfliegen

Paul Zwei rezensiert von Annemarie Mönch

Das Suchen und Finden von Sex und (sexueller) Identität. Franz Suess‘ Graphic Novel Paul Zwei erzählt in einer kafkaesken Ästhetik über Einsamkeit, sexuelle Obsession und (Geschlechts)identität.

Wien im August 2015. Der Sommer liegt zäh über der Stadt, die Medien berichten über die humanitäre Katastrophe, die sich im österreichischen Parndorf abgespielt hat: 71 Menschen sind auf der Flucht in einem Kühl-LKW erstickt. Ein Fund, der die (Medien-)Welt erschüttert. Vor diesem Hintergrund spielt Franz Suess‘ Graphic Novel Paul Zwei (2019). Suess erzählt die Geschichte von Paul, der die beengten Verhältnisse des großmütterlichen Hauses im Burgenland hinter sich lässt und in die Wiener Innenstadt zieht. Er hofft auf sexuelle Abenteuer fernab des burgenländischen Dorflebens, welches ihm jedoch in die WG-Wohnung am Wiener Ottakring folgt. Wie zuvor mit der Oma, lebt Paul nun dicht an dicht mit Mitbewohner Christoph und dessen Freundin. Die wohlgemeinten, dennoch plattitüdenhaften Ratschläge der Oma (etwa »Sei sparsam, reiß nicht die großen Scheine an.«, S. 6) finden immer wieder Einzug in Pauls Ich-Erzählung. Das von Paul als trist empfundene Dorfleben wird so in die Stadt transportiert, einen Ausweg bildet für ihn die Aussicht auf sexuelle Bekanntschaften, nach denen er fast obsessiv jagt.

Abb. 1: Die wohlgemeinten Ratschläge der Oma bleiben stets präsent.

Kontrastiert wird Pauls sexueller Druck von den fast schon um sich selbst drehenden Handlungsabläufen, die sich teils zäh dahinziehen. So erzählt Paul beispielsweise in den Captions, wie er ein Glas Wasser verschüttet (S. 22), während dies in den Panels ebenso minutiös nachgezeichnet ist. Diese Dopplung von Beschreibung und Darstellung liefe Gefahr, die Leserin zu langweilen, ist aber gleichzeitig der Ausdruck des tristen Lebens, welches Paul führt. Dies wird unterstützt von grau, zum Teil komplett schwarz gehaltenen Bleistiftzeichnungen, welche einen skizzenhaften, unfertigen Eindruck vermitteln. Die Panel-Captions werden meistens von Paul erzählt, die Zeichnungen sind hingegen aus Sicht eines extradiegetischen Betrachters dargestellt. Immer dann, wenn Paul einer potenziellen Sexpartnerin begegnet und dieser hinterherglotzt, wird seine Perspektive eingenommen. Paul wird so zum Voyeur: Frauen starrt er nach, er lauscht an der Tür seines Mitbewohners Christoph, während der Sex mit seiner Freundin hat und beobachtet ein Paar im Schwimmbad. Gleichzeitig reagiert er fast paranoid auf die Blicke anderer (S. 11). Dennoch nimmt die Narrative Pauls Voyeurismus weiter auf. Gelegentlich wird Pauls Ich-Erzählung unterbrochen, um die Geschichten derer, denen er begegnet zu erzählen - dann allerdings ausschließlich über direkte Rede in Sprechblasen. So folgt die Leserin beispielsweise Pauls Tinder-Date (S. 46-58) und bekommt Einblick in ein weiteres tristes Großstadtleben. Das Sehen scheint also zentral in Suess‘ Graphic Novel, was zeichnerisch durch die fast körperlos wirkenden Figuren ausgedrückt wird. Selten sind die Charaktere ganzkörperlich gezeichnet, sondern vielmehr auf die obere Körperhälfte oder ausschließlich auf überdimensionierte Köpfe und hervortretende Augen reduziert.

Abb. 2: Paul starrt, aber reagiert fast paranoid, wenn er die Blicke anderer auf sich spürt.

Nach dem Tinder-Date beginnt Pauls Transformation: Sein Penis bildet sich zurück, nachdem er erfolglos versucht, Sex mit besagtem Date zu haben. Mit den Worten »Ich sehe aus wie … wie eine Frau« (S. 92) beschreibt Paul dem Mitbewohner seinen »nach innen gewölbt[en]« (S. 90) Penis. Das Geschlechtsorgan wird zum geschlechts-und damit identitätsstiftenden Merkmal erhoben, die Wölbung nach innen noch dadurch betont, dass die Graphic Novel, in der sonst detailverliebt alles gezeichnet und damit gezeigt wird, auf die Darstellung von Genitalien verzichtet. Dass das identitätsstiftende Genital ausgespart und so zur Leerstelle wird, komplettiert Pauls Verlorenheit in einer Welt, die Identität am Erscheinungsbild des ›biologischen‹ Geschlechts festmacht: Er sieht nicht aus wie eine Frau, er sieht aus wie ein Mensch ohne Penis (oder – geschlechtsneutraler ausgedrückt – Genital). Dennoch macht ihn das Fehlen des Penis in seiner patriarchal und heteronormativ geprägten Wahrnehmung zur Frau, zum Objekt, das mit dem Mitbewohner Christoph letztlich Sex hat. Dass Paul nach dem Akt stirbt, zeigt, dass Pauls Welt eine Welt ist, der ihre Geschlechterkonstitution zum Verhängnis wird, eine, in der nur noch der Tod den Ausweg bietet. Tod scheint dabei nicht der Begriff zu sein, der Pauls Zustand beschreibt – nach dem Sex betrinkt er sich, stolpert gegen den Küchentisch, liegt verletzt am Boden und sieht sich einer Fruchtfliege gegenüber von deren Schönheit er überwältigt wird (S. 126). Die Darstellung der Fruchtfliege löst die vorige Panelstruktur auf; indem sie – mit Fokus auf die Facettenaugen, die die Leserin (und damit Paul) anschauen – in einer großformatigen Zeichnung (S. 126) gezeigt ist. Nach dieser Begegnung löst Paul sich auf, dargestellt von immer heller werdenden, seitenfüllenden Zeichnungen seines Gesichts (S. 127-130), bis er vollständig verschwunden ist – als sei er völlig in die Leerstelle, die sein geschrumpftes Genital zurückgelassen hat, hineingesogen worden. Die Captions bleiben aus, das Weiterleben der übrigen Charaktere wird in Sprechblasen angerissen, als Pauls Oma in die WG kommt, um seine Sachen zu holen. Ganz am Ende ist Paul geisterhaft über Christophs Bett schwebend zu sehen – als hätte der Sex ihn aufgelöst und entkörperlicht, gleichzeitig aber in die Nähe seines Mitbewohners/Liebhabers gerückt.

Fernsehen und Radio bilden innerhalb der Story scheinbar den Hintergrund, da sie in den Panels hinter der eigentlichen Handlung rauschen. Keine_r der Protagonist_innen geht auf die Medien ein, aber dennoch zieht sich die Berichterstattung über die zu Tode gekommenen Geflüchteten durch die Graphic Novel. Auf diese Weise bleibt die humanitäre Katastrophe stets präsent, macht Pauls verzweifelte Jagd nach Sex zum ›Luxusproblem‹. Suess zeigt vermittels der ›Nebensächlichkeit‹ der Berichterstattung, ebenso wie durch Szenen aus Game of Thrones, besonders prägnant Daenerys Targaryens Vergewaltigung durch Khal Drogo (S. 136), eine Welt, die Sex und Gewalt normalisiert, fast schon erwartet. Es ist keine Welt, in der es eine Besserung, oder besser, keinen Ausweg gibt. Keine der Figuren, mit Ausnahme von Pauls Oma vielleicht, die mit einer Hochzeit einen Neuanfang wagen will, findet heraus aus dem eigenen tristen Dasein.

 

Paul Zwei
Franz Suess
Wien: Luftschacht, 2019
140 S., 18,00 Euro
ISBN 978-3-903081-36-9