Unterwegs mit den Toten

Xibalba rezensiert von Felix Haenlein

Simon Roussin schickt seinen Helden André an einen mythischen Ort im südamerikanischen Urwald, an dem die Lebenden ihren Toten wiederbegegnen können, womit auf Xibalbá, die Unterwelt in der Mythologie der Maya, angespielt ist. Der Comic spielt hierbei mit der Ungewissheit von Wirklichkeit und Fiktion durch die in mehrfacher Hinsicht variierte Spannung von Verschwinden und (Wieder-)Auftauchen. Was als Abenteuergeschichte daherkommt, ist in erster Linie eine ansprechende Demonstration der darstellerischen Möglichkeiten des Comics, mit dieser Spannung umzugehen.

Bereits die erste Seite von Xibalba gibt uns ein Rätsel auf: In insgesamt sechs Panels präsentiert sich der Ablauf eines simplen Zaubertricks, währenddessen ein Ball im Zusammenspiel der Hände zum Verschwinden gebracht wird. Im letzten Schritt werden die leeren Hände präsentiert – der Trick ist gelungen, der Ball weg. Naturgemäß staunen wir nicht. Der Zaubertrick kann im Comic nicht auf die Leser_innen wirken. Dass ein Ball nur nicht mehr gezeichnet werden muss, um verschwunden zu sein, liegt auf der Hand und macht darauf aufmerksam, dass es dem Comic um etwas anderes gehen muss als um den Effekt der Täuschung, der mit so einem Trick verbunden ist. Es geht um die Lust am Verfahren eines solchen (und an anderen) Tricks, dessen Ziel für diese Seite (Abb. 1) schon im dritten Panel erreicht ist (der Ball ist nicht mehr zu sehen) und das aber trotzdem bis zum Schluss ausbuchstabiert wird.

Abb. 1: Ein Zaubertrick (S. 5)

Dieses Prinzip zieht sich durch Xibalba und auch deswegen kann das Zeigen des Verschwindetricks als eine Art Motto gelesen werden, das dem eigentlichen Comic vorangestellt ist und das sich auch zeichnerisch mit seinen klaren Konturen im Stil einer piktographischen Anleitung vom Rest absetzt: ein Motto, das die Lust des Comics am Verschwindenlassen ankündigt, die damit zusammenhängt, dass doch wieder Täuschung möglich ist, wenn nämlich die Leser_innen noch auf das Verschwinden von einem Gegenstand warten, der schon längst nicht mehr da ist. Und so handelt Xibalba unter anderem auch vom Verschwinden seines Protagonisten André.

André ist ein Pilot, der während des Ersten Weltkriegs einen Flugzeugabsturz überlebte, davon aber durch Narben am Körper und im Gesicht gezeichnet blieb. Vor allem die Narben im Gesicht lassen André im Verlauf der Handlung immer wieder anders aussehen, nicht zuletzt deshalb, weil er zeitweise Masken trägt oder mit Verbänden verhüllt ist. Der Held dieser Erzählung tritt damit in eine Reihe mit den vielen Maskierten der Comicgeschichte, auch wenn sich André nicht aus freien Stücken maskiert, sondern von seinem Schicksal (das durch den Comic bestimmt ist) immer wieder dazu gezwungen wird, sich mit neuen Erscheinungsbildern abzufinden. (Abb. 2)

Abb. 2: Andrés Masken (S. 92, links, mitte u. 109, rechts)

Als leidenschaftlicher Pilot fliegt er auch nach seiner Genesung wieder und zwar für die berühmte Aéropostale, deren Ziel es war, das venezolanische Maracay mit Gebieten im Süden zu verbinden, wo im französischen Interesse unter anderem Öl abgebaut wurde. Mit der Pleite der Aéropostale beginnt die Handlung. André macht sich Sorgen darum, wie seinem draufgängerischen Freund und Kollegen Eddie die Insolvenz beigebracht werden könnte. Doch bevor dieser davon erfahren kann, stirbt er ganz überraschend. André beschließt daraufhin, Eddies Leiche in dessen Heimat Arizona beerdigen zu lassen. Bei dieser letzten gemeinsamen Flugreise begleiten ihn Eddies Freundin und drei weitere Personen, die erst vor kurzem mit Flugzeugen der Aéropostale in Venezuela angekommen waren und sich auf der Durchreise befinden: die Ethnologin Trudy und die seltsamen Gebrüder Gus. Auch dieses Flugzeug stürzt ab. Einer der Brüder ist sofort tot, André erneut schwer verletzt – sein Gesicht noch entstellter als zuvor – aber der Rest wohlauf.

Von den Bewohner_innen des Dschungels, in den das Flugzeug abgestürzt ist, wird die Reisegruppe zwar zunächst gerettet aber dann alleingelassen. Schnell taucht jedoch James auf, der seit Jahren in diesem Dschungel lebt und die Gruppe zu Helen führt, die er begleitet. Dort stellt sich heraus, dass André und Helen eine gemeinsame Vergangenheit haben. André will sich jedoch nicht zu erkennen geben, was ihm durch die sein Gesicht maskierenden Narben auch gelingt. Nach einiger Zeit machen die Bersucher_innen beängstigende Entdeckungen im Wald, was James dazu zwingt, den Grund für den Aufenthalt im Dschungel zu offenbaren: allein in diesem Teil des Waldes begegnet man einem toten Menschen, den man geliebt hat.

Mit dieser Offenbarung wird die Handlung noch aufgeladener: André begegnet im Wald seinem ehemals besten Freund Ferdinand, der unsterblich in Helen verliebt war und der während einer Rettungsaktion von Helens Mann (einem verschollenen Nordpolforscher) ums Leben kam, während der Gesuchte selbst aber zurückkehrte. Es zeigt sich außerdem, dass der verbleibende Gus-Bruder Helen im Auftrag von ihrer Familie zur Strecke bringen soll, damit das üppige Erbe verteilt werden kann (was wegen ihres unklaren Status als Verschollene bislang nicht möglich war).

All diese Handlungsstränge – und das ist dem Comic wirklich anzukreiden – werden schlicht aufgegeben, um André dabei zu verfolgen, wie er seinen noch immer in der Kiste liegenden Freund Eddie durch den Dschungel bis in die USA bringen will. Dabei erhält er Hilfe vom toten Ferdinand, der ihn aber nur einen Teil begleiten kann und schließlich am Rande des besonderen Waldabschnitts verschwindet. Der noch immer geschwächte André schafft es nicht alleine, bleibt ohnmächtig liegen und wacht am Ort seines Unfalls erst wieder auf, als Eddie begraben ist, er selbst im Grab nebenan liegt, und Trudy, die sich inzwischen einigen Einheimischen angeschlossen hat, sein Begräbnis beaufsichtigt.

Aber Xibalba ist nicht wegen dieser Handlung zu lesen, die zwar sicherlich komplex und auch durchaus spannend ist, die aber bei aller Sympathie für Erzählungen mit stärkerem Fokus auf ihre Verfasstheit und Selbstreflexivität sorgfältiger zusammengefügt sein könnte.

Mit seinen 24x31cm ist das Buch auffallend groß und kann diesen Platz auch sinnvoll nutzen. Doppelseitige Darstellungen einer Gewitternacht (in zwölf Panels) oder des Dschungels (die dann auch ganz ohne Panels auskommt) sind nicht nur wunderbar anzusehen, sondern auch klug eingesetzt. So geht der panellosen Darstellung des Waldes der Absturz der Reisenden voran, die so im Dickicht und für den Rest der Welt erst einmal verschwunden sind. Erst die nächste Doppelseite weist dann wieder Panels auf – in ihnen zeigen sich kleine Tiere, dann auch menschliche Silhouetten: es sind die Bewohner_innen des Ortes, an dem das Flugzeug abgestürzt ist. Ihre Ortskundigkeit bringt wieder Struktur ins scheinbar unbezwingbare Pflanzenmeer, das ohne kundige Wahrnehmungsinstanzen die Organisation im Raster unmöglich zu machen scheint. Mit ihnen finden sich dann auch die Leser_innen ebenso wieder auf der Seite zurecht wie die Verunglückten in ihrer Umgebung.

Am Ende des Buches begibt sich André, der nach seiner Rettung aus dem Grab zunächst nach Amerika reist und später Archäologe wird (so deuten es zumindest einige der letzten Panels an – und schließlich ist er durch seine Rettung aus der Grube selbst zum ausgegrabenen Objekt geworden), noch einmal an den magischen Ort. Möglicherweise will er dort seinen Freund Ferdinand ein letztes Mal sehen. Von einer erneuten Begegnung mit den Toten erfahren wir aber nichts mehr. Die letzten sechs Seiten führen nur noch Andrés Verschwinden vor. Er verschwindet in der Konturlosigkeit des Dschungels, die keine Unterscheidung von Figur und Grund mehr zulässt und am Ende nur noch ungegenständliche Kleckse zeigt. Allerdings sieht ein Klecks wie ein Iglu aus. (Abb. 3) Und damit wäre ganz zum Schluss noch einmal ein Kontext aufgerufen, von dem französische wie deutsche Kritiken meinten, er sei nicht unbedingt notwendig für die Lektüre von Xibalba aber dennoch erschlösse sich in Kenntnis der Vorgeschichte einiges besser. Die erzählte Simon Roussin nämlich im 2016 veröffentlichten Prisonnier des glaces, das von Ferdinands Suche nach Helens Mann und seinem Tod am Nordpol handelt. Prisonnier des glaces enthält den und ist ein Text, von dem auch in Xibalba die Rede ist: Ferdinand erzählt André nämlich, dass er in seinen letzten Stunden Tagebuch schrieb und den Text an André adressierte, um letzte Worte an ihn zu richten. Dieses Tagebuch kam aber nie bei ihm an, so wie auch bei den deutschsprachigen Leser_innen nicht, weil Prisonnier des glaces (das ebendieses Tagebuch zu sein vorgibt) nicht übersetzt wurde und der Schweizer Verlag Edition Moderne auch gar nicht erst erwähnt, dass Xibalba eigentlich nur ein Teil einer geplanten Trilogie ist. Gerade mit dem Blick für die Darstellung der Pflanzen in Xibalba und der Parallele der Verschollenengeschichten, die in den jeweiligen Gegenden strukturell ähnlich funktionieren – nämlich über das Auslöschen der Konturen vor einem sich der Linien bemächtigenden Grund, der seine eigene Geltung beansprucht – scheint die Kenntnis von Prisonnier des glaces nicht unerheblich, um die eigentliche Qualität von Roussins Arbeit erkennen zu können.

Abb. 3: (Möglicherweise) ein Iglu (S. 205)

Lesenswert ist Xibalba zweifelsohne vor allem, weil dieser Comic seine Leser_innen herausfordert: das Spiel mit dem Verschwinden, das Spiel mit der Maske, die Andrés Gesicht bedeckt, das immer wieder zur Wunde wird, um anschließend erneut verdeckt zu werden und ihn später selbst zum Gegenstand einer Ausgrabung werden lässt; oder auch das Spiel mit den großflächigen Darstellungen von Pflanzen und Artefakten, die in ihrer immer wieder auftretenden Konturlosigkeit den Dschungel zurückbinden an den alle Konturen auslöschenden Schnee, der Andrés Freund tötete, um nur einige Aspekte zu nennen.

All das lässt über die aberwitzige Story hinwegsehen, die, so scheint es bisweilen, eine Art Trick ist, um sich an der Lust an der Verfasstheit zu ergehen. Einige der begonnenen Erzählstränge seiner Protagonist_innen zu Ende zu erzählen, hätte der absolut gelungenen Machart dieses Comics aber auch nicht die Show gestohlen.

 

Xibalba
Simon Roussin
Zürich: Edition Moderne, 2019
206 S., 39,00 Euro
ISBN 978-3-03731-195-0