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Schmelztiegel der Welten
RealitÀt und Fiktion im intermedialen Werk von François Schuiten und Benoßt Peeters

Lukas Mathias Albrecht (Kiel)

Die Idee, fantastische Orte zum Schauplatz bedeutsamer Handlungen zu machen, scheint so alt zu sein wie die Menschheit selbst. Wir alle sind mit ihnen vertraut, kaum jemand kann sich dem entziehen, sei es als MĂ€rchen, verarbeitet als Gutenachtgeschichte, als Film oder in BilderbĂŒchern seit der frĂŒhesten Kindheit.

Auch die Vorstellung, diese Orte bereisen zu können, ist bereits aus antiken Schriftquellen bekannt. BerĂŒhmt ist Platons Idee von Atlantis, einem utopischen Inselreich, das er in seiner Schrift Timaios in der Mitte des 4. Jh.s v. Chr. beschreibt. Es handelt sich hierbei um einen Stadtstaat, der wie der platonische Idealstaat strukturiert ist und in vielerlei Hinsicht der athenischen Stadtidee ĂŒberlegen scheint. Ebenso berĂŒhmt ist das sprichwörtlich gewordene Inselreich Utopia, das Thomas Morus 1516 in seinem Werk De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia schildert. Dieser literarische Topos eines vermeintlich idealen Staates ist keine Seltenheit. Im Spannungsfeld zwischen RealitĂ€t und Fiktion finden neben der reinen Belletristik ebenso moralische und gesellschaftskritische Fragestellungen der ErzĂ€hlgegenwart ihren Raum. Doch ist die Abgrenzung von RealitĂ€t und Fiktion immer eindeutig bestimmbar? Die Soziologin Elena Esposito konstatiert: »Wir leben in einer Zeit, in der die reale RealitĂ€t immer undurchsichtiger wird.« (Esposito 2007, 119) Die Wechselwirkung von RealitĂ€t und Fiktion ist, wie Esposito in ihrem Essay zeigen kann, Ă€ußerst komplex und die binĂ€re GegenĂŒberstellung von RealitĂ€t und Fiktion, die im allgemeinen Sprachgebrauch fĂ€lschlicherweise oft synonym mit wahr und falsch aufgefasst wird, ist nicht zielfĂŒhrend, denn Fiktion stellt nicht den Gegensatz zur RealitĂ€t dar, wie es etwa bei den Begriffen wahr und falsch per definitionem gegeben ist. »Man kann die RealitĂ€t nicht verstehen, wenn man Formen und Bedeutung der Fiktion nicht kennt. Fiktion dagegen ist etwas anderes als reine Phantasie, weil sie eine eigene RealitĂ€t entwirft und die fiktive RealitĂ€t reale Auswirkungen hat.« (Esposito 2007, 120) Die Frage nach der RealitĂ€t ist immer eine Frage nach der Wirkung. Die Fiktion, ihrer Bedeutung nach etwas Gestaltetes, kann dennoch wirkmĂ€chtig und somit real sein. Es zeigt sich: Die Begriffe selbst stellen ein Problem dar, da die Welt nicht eindeutig bestimmbar ist.1

Die Wechselwirkung von Fiktion und RealitĂ€t Ă€ußert sich auch im Werk der belgischen Comiczeichner François Schuiten und BenoĂźt Peeters, den Autoren des berĂŒhmten Comic-Zyklus’ der Geheimnisvollen StĂ€dte (frz: Les CitĂ©s Obscures), der seit 1983 stetig fortgesetzt wird und dem Jan Baetens erst kĂŒrzlich eine neue interessante und vielseitige Publikation gewidmet hat (Baetens 2020).

Dieser Beitrag soll sich mit der Frage beschĂ€ftigen, wie Schuiten und Peeters die GegenĂŒberstellung von RealitĂ€t und Fiktion rezipierbar machen, exemplarisch anhand zweier Medien: zunĂ€chst durch das Medium Architektur, das durch die von Schuiten 1994 designte Metrostation Arts et MĂ©tiers in Paris reprĂ€sentiert wird, und das Medium Comic anhand des 2014 erschienenen Revoir Paris (dt. Nach Paris 2015).

Das Medium Architektur – Die Metrostation Arts et MĂ©tiers

Die Pariser Metrostation Arts et Métiers wurde 1904 eröffnet, doch der Bahnsteig der Linie 11 wurde 1994 zum Anlass des zweihundertjÀhrigen Bestehens der Conservatoire National des Arts et Métiers von François Schuiten grundlegend umgestaltet (Abb. 1).

Abb. 1: Steampunk im Großformat: Die Metro-Station Arts et Metiers in Paris.

Bereits der erste Eindruck der Station ermöglicht fantastische Assoziationen. Die kupferne Wandverkleidung mit ihren prominenten Nieten erinnert an die Ästhetik des Steampunks, einer Subkultur, die in den 1980ern entstand und eine Revitalisierung viktorianischer Technikideen im Retrolook entwirft. WĂ€hrend Autoren des spĂ€ten 19. Jh. wie Jules Verne oder Kurt Laßwitz alternative RealitĂ€ts- und Technikkonzepte imaginieren, ĂŒbersetzt der Steampunk dezidiert moderne Technik in ein viktorianisch Ă€sthetisches Zeichensystem und lĂ€sst so einen fiktiven Gegenentwurf zur realen Vergangenheit entstehen. Wie der Begriff bereits impliziert, spielen die Dampfkraft sowie imaginativ erweiterte Varianten der ElektrizitĂ€t als Reflex einer antiquierten Technologie eine entscheidende Rolle. Weiterhin ist die Kupfer-/Messing-Optik mit Patina prĂ€sent, und auch das Zahnrad ist als abstraktes Symbol der Maschinerie prĂ€gend.

Schuitens Station entspricht dieser Steampunk-Ästhetik. Die kupfer- und messingfarbene, lichtreflektierende Wandverkleidung mit ihren Bullaugen erinnert an ein U-Boot aus den Romanen Jule Vernes. MĂ€chtige, partiell durch Neonröhren hinterleuchtete ZahnrĂ€der verweisen auf potentielle mechanische Bewegung, und es entsteht der Eindruck eines Fließbands. Doch die ZahnrĂ€der stehen still. Wie kann dann ein Zug einfahren? Die ZahnrĂ€der mĂŒssen sich drehen. Sie mĂŒssen eine arkane Maschinerie antreiben, die irgendwo in der Decke und unter den Gleisen verborgen ist, damit das Fließband laufen, die Station funktionieren kann. Denn selbstverstĂ€ndlich ist nur ein Teil des Zahnradgetriebes zu sehen, selbstverstĂ€ndlich befindet sich der Rest des Getriebes in der Decke, selbstverstĂ€ndlich ist der Maschinenraum unsichtbar. Vielleicht hilft der Blick durch eines der Bullaugen bei der Lösung der Frage nach der stillstehenden Maschine? Doch statt des erwarteten hilfreichen Ausblickes schaut die Passagier_in auf vergangene Technikgeschichte (Abb. 2).

Abb. 2: Kein Aus-, sondern RĂŒckblick: Eine ArmillarsphĂ€re und andere Erfindungen verweisen auf Technikgeschichte.

Schuitens kĂŒnstlerische Gestaltung spielt auf subtile Weise mit den Sehgewohnheiten des modernen technik-gewohnten Menschen. Gezielt setzt er Zeichen, die auf ein Mehr verweisen, das technisch bedingt, dem Weltwissen des modernen Menschen zugĂ€nglich und daher notwendig scheint: Wo ein Zahnrad ist, muss auch Bewegung sein, wo ein Bullauge ist, muss ein Ausblick sein. Maschinerie ist fĂŒr die moderne Betrachter_in zur NormalitĂ€t geworden, so dass Irritationen entstehen, wenn Maschinen-Symbolik nicht funktional, sondern nur Ă€sthetisch eingebunden ist. Schuiten ersetzt die funktionalistische Komponente der DomĂ€ne Technik durch rein dekorative Aspekte, die jedoch visuell in der technischen DomĂ€ne verbleiben und somit die Illusion hervorrufen, die dekorative Technik sei dennoch funktional eingebunden. Seltsam erscheint die Rezeption: Das Zahnrad ist Zahnrad, weil es wie ein Zahnrad aussieht. Und weil es ein Zahnrad ist, mĂŒsste es sich doch eigentlich bewegen. Stillstand bedeutet in diesem Rezeptionskomplex eine Störung der Funktion, da die Sehgewohnheit technisches Inventar ĂŒblicherweise mit Funktion gleichsetzt. Doch der Anblick der ZahnrĂ€der bewirkt mehr: Die Funktion einer Metrostation besteht in der Bereitstellung eines Transportmittels, doch der Zeitraum zwischen dem Transit ist dem Stillstand, dem Warten, ĂŒberlassen. Die zukĂŒnftige Passagier_in sitzt, steht, bewegt sich nicht, sie ist die Spiegelung der ruhenden ZahnrĂ€der, die aus der Decke der Station ragen: Mensch und Maschine warten auf den Moment, in dem ihre potentielle Energie in kinetische Energie umgewandelt werden kann, den Moment, in dem Stillstand von Bewegung abgelöst wird, den Moment, in dem die Metro einfĂ€hrt.

Aus dem Jugendstil mit Hector Guimards Metro-Design2 trat eine Ästhetisierung der FunktionalitĂ€t hervor, die gleichsam das bestimmende Element wurde. Die kĂŒnstlerische Gestaltung sollte nicht lĂ€nger die FunktionalitĂ€t hinter einer visuell ansprechenden sprichwörtlichen Fassade verstecken, sondern die Anpassung der visuellen Gestaltung an die FunktionalitĂ€t zum kĂŒnstlerischen Programm erheben. Ganz im Gegensatz dazu Ă€sthetisiert Schuiten nicht die FunktionalitĂ€t durch florales Dekor oder Ornamentik, nicht also durch die Einbindung der Funktion in die Ă€sthetische Lebenswelt der Öffentlichkeit, sondern durch das Grundprinzip der Funktion von Technik an sich – allerdings ohne in die Funktion selbst eingebunden zu sein. Schuiten geht damit einen Schritt weiter als der Jugendstil: Die Technik selbst ist von ihrer eigentlichen Funktion gelöst und wird zum bestimmenden Ă€sthetischen Element.

Harmonisch wirkt Schuitens Konzept gerade deshalb, weil die Optik der Station durch den Zugverkehr und den Assoziationspfad Zahnrad – Maschinenraum – Bewegung – Zugverkehr in der DomĂ€ne der Technik verbleibt. Schuitens Konzeption der Station wird damit zu einer technologischen Zurschaustellung, die nicht zuletzt auch aufgrund der Anbindung der Station zum Technikmuseum funktioniert.

Zu der Feststellung, dass das kĂŒnstlerische Konzept aufgeht und funktioniert (Inhalt und Form bilden eine Einheit), kommt nun die Ebene der visuellen WirkmĂ€chtigkeit auf die Betrachter_in, denn Schuitens Station ist kein Kunstwerk, das nur dem kĂŒnstlerischen Selbstzweck dient: Wer schon einmal mit der Metro in die Station Arts et MĂ©tiers eingefahren ist, weiß, wie unmittelbar und stark die Wirkung ist, die die Station auf die Betrachter_in ausĂŒbt. Sie kann sich dem Eindruck nicht entziehen, als hĂ€tte sie die RealitĂ€t des Pariser Alltags verlassen und sei plötzlich buchstĂ€blich aus der Zeit gefallen und in eine Fiktion eingetaucht. Die Metapher des â€șEintauchensâ€č (Immersion) wird umso mehr verstĂ€rkt, da die Form und Optik der Station der eines U-Bootes wie der Nautilus aus Jules Vernes Geschichten Ă€hnelt. Die Station wird zur Erfahrung einer Schnittstelle zwischen RealitĂ€t und Fiktion.

Das Medium Comic – Revoir Paris

Der 2014 von Schuiten und Peeters publizierte Comic Revoir Paris, dessen Fortsetzung 2016 erschien, berichtet von der jungen Frau Karinh, die sich als Freiwillige fĂŒr eine Expedition nach Terra3 meldet. Die Handlung ist im Jahre 2155 verortet. Durch Karinhs Gedanken erfĂ€hrt die Leser_in sukzessive, welche Situation in der Zukunft vorliegt: Im Jahre 2051 brachen nach heimlichen Vorbereitungen 6000 auserwĂ€hlte Pioniere zu den Sternen auf und bildeten die Arche, ein Refugium vor den dystopischen ZustĂ€nden, die auf Terra herrschten. Der sogenannte â€șGroße Aufbruchâ€č schien jedoch große Opfer zu fordern, und Karinh scheint alles andere als glĂŒcklich zu sein – einer der GrĂŒnde, weswegen sie an der Expedition nach Terra teilnehmen wollte. Ein weiterer Anlass fĂŒr ihre Neugier liegt in ihrer Familie, denn ihre Mutter lernte Karinhs Vater bei einer Expedition in Paris kennen und wurde wĂ€hrend des siebenmonatigen Aufenthalts mit Karinh schwanger, starb jedoch bei der Geburt.

Als Bordchefin ist sie fĂŒr das Gelingen des Transits nach Terra verantwortlich, reist allerdings eigenmĂ€chtig mehrfach mental nach Paris. Diese Mentalreisen sollen spĂ€ter genauer betrachtet werden. Das eigentliche Ziel der Mission wird nicht explizit erlĂ€utert, und als die Expeditionsteilnehmer_innen auf Terra landen, trennt sich Karinh von der Gruppe und macht sich auf den Weg nach Paris, das nur noch als touristische Illusion innerhalb einer gigantischen Kuppelkonstruktion, der Paris-Notre-Dame, existiert. Es stellt sich nun die Frage, wie Schuiten und Peeters RealitĂ€t und Fiktion in der Handlung kĂŒnstlerisch voneinander abgrenzen.

Abb. 3: Karinhs Vorstellung von Paris.

Die erste Begegnung mit realen BezĂŒgen hat die Leser_in zu Beginn des ersten Bandes mit Karinhs Tagebuch (NP, 3). Karinh schreibt, dass die Expedition nahe Paris landen wird. Oberhalb der Textbox ist Karinh in einem halbseitigen Panel dargestellt (Abb. 3).

AuffĂ€llig ist die Farbgebung, durch die die Szene in zwei Raumdimensionen gegliedert zu werden scheint, ohne dass sich die Gestaltung als Farbperspektive interpretieren ließe, weil die farbigen Elemente zwar ausschließlich im Bildvordergrund, die Elemente in Graustufen aber sowohl im Hinter- als auch im Vordergrund platziert sind, so dass GrĂ¶ĂŸe und Ort der retro-futuristischen Flugobjekte irritieren. FĂŒr die Leser_in steht vor allem bei der Betrachtung der Flugobjekte fest: Wenn diese Szene Karinhs Vorstellung von Paris darstellen soll, so ist dies nicht das Paris, das aus der Lighted World4 bekannt ist.

Abb. 4: Karinhs erste Mentalreise nach Paris.

Die TagebucheintrĂ€ge enden mit dem Eintrag »Morgen brechen wir auf. Ich bin halb verrĂŒckt vor Aufregung. Paris, ich komme!« (NP, 4) Nun folgt eine Sequenz von Panels, die den Vorgang einer Mentalreise von einem unbekannten Ort hin zur Erde veranschaulichen. Plötzlich ist Karinh zu sehen, die leicht bekleidet im Stahlgerippe des Eiffelturmes agiert. Das Inkarnat der schwebenden Karinh ist in graublau gehalten, wĂ€hrend die Passagiere des Fahrstuhles eine natĂŒrliche FĂ€rbung zeigen. Im Kontrast hierzu zeigt ein eingeschobenes Panel Karinh mit geschlossenen Augen und natĂŒrlicher Hautfarbe (Abb. 4).

Die Reise scheint das Resultat einer nicht nÀher bestimmbaren Droge zu sein, deren Dosis Karinh immer weiter erhöht (NP, 8; 14; 18; 38). Dieser obskur anmutende Prozess scheint es Karinh zu ermöglichen, im Folgenden unter anderem in Walter Benjamins Werk Paris. Capitale du XIXe SiÚcle einzutauchen, das sie bei der Vorbereitung auf die nÀchste Mentalreise in den HÀnden hÀlt (NP, 14).

Abb. 5: Deutliche Farbunterschiede verweisen auf RealitĂ€tsbrĂŒche.

Abb. 6: Karinh umgibt sich mit Albert Robidas Werken, die sie fĂŒr real hĂ€lt.

Bei dieser Reise zeigen Schuiten und Peeters ein erstaunliches Detail: In der Galerie Vivienne stiehlt Karinh ein Buch, wird jedoch von einem Mann mit einer Stange geschlagen und stĂŒrzt zu Boden (Abb. 5) WĂ€hrend das erste Panel der Sequenz noch eine farbige Umgebung zeigt, erscheint auf dem zweiten eine blitzartige Störung um Karinh herum und die Umgebung wird schwarz-weiß, erscheint plötzlich eingefroren. Dieser Eindruck wird dadurch verstĂ€rkt, dass auf dem ersten Panel die Aufregung der umgebenden Personen durch in Sprechblasen befindliche Ausrufezeichen veranschaulicht werden, und auch Karinhs Sturz wird durch einen langgezogenen Soundword-Schriftzug untermalt. Im zweiten Panel verblassen die Personen, ihre Sprechblasen verschwinden, sie werden passiv – nur Karinhs Schrei bleibt in roter Farbe bestehen. Die Szenerie löst sich auf, doch Karinh hat das Buch festhalten können. Es handelt sich um das Werk Un Autre Monde des französischen Karikaturisten Grandville5, ebenfalls ein klares Zitat der Lighted World, das sich – zu Karinhs Ärger – rasch in Luft auflöst. Karinh scheint tatsĂ€chlich in der Lage zu sein, unabhĂ€ngig von Raum und Zeit zwischen Dimensionen oder RealitĂ€ten zu reisen. Doch um welche RealitĂ€t handelt es sich, die sie besucht? Benjamin und Grandville verweisen auf das 19. bzw. 20. Jh., doch wieder schaffen es Schuiten und Peeters, die Betrachter_in zu verunsichern, denn Karinhs nĂ€chste Reise geht ein weiteres Mal nach Paris, diesmal allerdings in ein gĂ€nzlich unerwartetes.

Erneut umgibt sie sich mit BĂŒchern und Abbildungen. Das dritte Panel zeigt ein spezielles Werk von Albert Robida, das in der folgenden Handlung explizit zitiert wird: La Vie Électrique von 18906, eine Science-Fiction-Novelle, die Robidas Vorstellungen vom Pariser Leben im Jahre 1955 zeigt. Auch die Poster in Karinhs Kabine entstammen einem Werk Robidas: Le VingtiĂšme SiĂšcle von 18837 (Abb. 6). Die Mentalreise, die Karinh nun nach Paris unternimmt, ist eine Reise in die Welt von 1955, wie sie von Robida ersonnen wurde (NP 23ff). Diverse unmittelbare Bildzitate entstammen dabei Robidas Novelle (Abb. 7). Schuiten und Peeters zitieren ein fiktionales Werk der Lighted World und lassen es durch Karinhs Augen als RealitĂ€t erscheinen, denn die Protagonistin scheint nicht in der Lage zu sein, Fiktion von RealitĂ€t zu unterscheiden. KĂŒnstlerisch hingegen wird auf den Bruch von Fiktion und RealitĂ€t verwiesen: Karinhs Reise in Robidas fiktives Paris ist farbtechnisch gesehen das Gegenteil (Abb. 8) der Reisen in Benjamins authentisch-historischer Arkadenbeschreibung.

Abb. 7: Le Vingtième Siècle und andere Werke von Robida werden mehrfach zitiert.

Abb. 8: Die Personen in Robidas Paris wirken wie Phantome, nur Karinh und das Licht erscheinen in natĂŒrlichen Farben.

Ähnlich verhĂ€lt es sich bei einer Reise Karinhs nach Paris, mit dem Ziel, ihre Mutter zu treffen. Sie taucht buchstĂ€blich in einen Architekturentwurf von Auguste Perret ein (Abb. 9). Dieser Entwurf fĂŒr die Pariser Innenstadt, den Perret 1928 einreichte8, erweckt nicht den Eindruck eines Paris des 22. Jh.s, doch der vorangehende Dialog zwischen Karinh und Mikhail impliziert, dass es sich bei der von Karinh betretenen Zeitzone um das Jahr 2116 handelt, doch auch die Kleidung, die Fumiko und Karinhs Vater, der auf einem Schwarz-Weiß-Foto abgebildet ist, tragen, könnte aus den 1920ern stammen. Vieles deutet darauf hin, dass Karinh eher in den utopischen Stadtentwurf von Perret gefallen ist; ĂŒberraschend passend reagiert Karinh dann auch auf Mikhails Kritik mit den Worten: »Na und? Du weisst doch, dass ich Utopien liebe!« (NP, 37)

BezĂŒglich der Erscheinung des Inkarnats in Karinhs letzter Reise lĂ€sst sich feststellen, dass beide Personen – Karinh und ihre Mutter Fumiko – in natĂŒrlicher Hautfarbe auftreten, wĂ€hrend ihre Umgebung eine Tendenz zu Sepia aufweist.

Abb. 9: Die Maisons Tours von Auguste Perret tauchen als Bildzitat auf.

RealitĂ€t und Fiktion – Farbigkeit als Indikator in Revoir Paris

Den kĂŒnstlerischen Umsetzungen von Karinhs Mentalreisen scheint ein Ă€sthetisches Muster innezuwohnen und die Farbgebung ist keineswegs arbitrĂ€r: Befindet sich Karinh in einer Zeitzone, in der sie fremd ist, die aber der RealitĂ€t der Lighted World zugehörig ist, ist sie schemenhaft grĂ€ulich, die sie umgebenden Personen hingegen in lebendiger Farbe gestaltet. Betritt sie eine Zeitzone, die fĂŒr die Bewohner_in der Lighted World der literarischen Fiktion zugehörig ist, Karinh hingegen aus Mangel an adĂ€quaten Quellen realistisch erscheint, sind nur sie und das Licht farbig, quasi als Illusion einer Wirklichkeit, die sie umgebenden Personen hingegen farblos. Ist Karinhs Ziel dagegen eine Zeitzone, die primĂ€r Zeichen der FiktionalitĂ€t in Form von Zitaten utopischer StadtentwĂŒrfe der Lighted World trĂ€gt, weist ihre Umgebung eine monotone Farbigkeit auf. Befinden sich jedoch in dieser Zeitzone Personen ihrer eigenen unmittelbaren RealitĂ€t, ist die kĂŒnstlerische Gestaltung des Inkarnats dieser Personen, wie auch Karinh selbst, natĂŒrlich.

So bietet die Farbigkeit eine Orientierung fĂŒr die Leser_in. Sie verweist eindeutig – und doch nicht auf den ersten Blick dechiffrierbar – auf eine dezidierte Trennung von RealitĂ€t und Fiktion.

Das Konzept der Spiegelwelt

Revoir Paris gehört nicht direkt in die Reihe der Geheimnisvollen StÀdte9, doch die Methodik ist Àhnlich: Hinweise und Zeichen in Form von tatsÀchlich existierenden Buchtiteln, historischen Personen und Orten verweisen auf die Lighted World, wodurch eine VerschrÀnkung einer fiktiven RealitÀt mit der realen Gegenwart entsteht.

Im Internet hat sich ein interessantes fandom der Geheimnisvollen StĂ€dte gebildet. Unter dem Dach der Alta Plana, einer Website mit dem Untertitel the impossible & infinite encyclopedia of the world created by Schuiten & Peeters, hat sich ein Autorenkollektiv zusammengefunden, das umfassende Informationen und vermeintliche Erfahrungen und Erkenntnisse im Zusammenhang mit den Geheimnisvollen StĂ€dten zusammentrĂ€gt. Einer der Autoren von Alta Plana, ein gewisser Genius Questant10, veröffentlichte 2001 eine Analyse11 der Geheimnisvollen StĂ€dte, in der er versucht, die Nicht-Existenz der StĂ€dte zu beweisen, daran scheitert und schließlich erkennt, dass seine Arbeit und Recherche eine Sehnsucht nach der obskuren Welt entfacht hat, er klagt: »Je suis restĂ© dans la triste rĂ©alitĂ© de notre monde.«12

Questant beschreibt die vermeintliche Beziehung zwischen der obskuren Welt und der Lighted World metaphorisch: »De plus, certaines diffĂ©rences entre les deux mondes pourraient s’expliquer par le fait que le â€șmiroirâ€č ne rend pas fidĂšlement l‘image passive d‘un acteur, mais qu’il s’agit en fait d’un miroir sĂ©parant deux entitĂ©s qui se complĂštent, comme la femme complĂšte l’homme.«13 Die Beziehung der beiden RealitĂ€ten sei demnach die einer sich ergĂ€nzenden Spiegelung, die beinahe alchemistisch anmutet: Quod est superius est sicut quod est inferius et quod est inferius est sicut quod est superius. (oft verkĂŒrzt formuliert: as above so below – wie oben so unten). Dieses hermetische Prinzip lĂ€sst sich gut auf das VerhĂ€ltnis der beiden Welten ĂŒbertragen: Was in der obskuren Welt existiert, existiert auch in der Lighted World und andersherum, Ă€hnlich einer Spiegelwelt.

Abb. 10: Linh-Dan Pham: Die Karinh der Lighted World.

Revoir Paris zeigt eine solche Entsprechung: Karinh, die Pionierin aus dem 22. Jh., ist im visuellen Sinne eine Kopie der französisch-vietnamesischen Schauspielerin Linh-Dan Pham aus der Lighted World (Abb. 10). Die Autoren selbst verweisen darauf und nennen weitere Personen, die Modell fĂŒr Charaktere von Revoir Paris standen (NP, 2). Dieser Hinweis ist doppeldeutig: Einerseits ist es eine Danksagung an das Modell, andererseits ist es eine Referenz auf das seltsame VerhĂ€ltnis von RealitĂ€t und Fiktion, das im ikonotextuellen Werk von Schuiten und Peeters wiederholt hervortritt. Revoir Paris veranschaulicht diese Methode konkret: Karinh, die junge Pionierin unserer zukĂŒnftigen RealitĂ€t, die gleichzeitig dem Abbild nach eine junge Frau unserer gegenwĂ€rtigen RealitĂ€t ist, besucht auf mentale Weise fiktive RealitĂ€ten unserer vergangenen RealitĂ€t, die jedoch von Karinh als reale RealitĂ€t empfunden werden, und landet schließlich in ihrer tatsĂ€chlichen RealitĂ€t in einer zukĂŒnftigen Idee unserer RealitĂ€t. Dennoch ist die Leser_in von Revoir Paris nicht verwirrt, denn die Struktur des Comics bietet eine nachvollziehbar sequentielle Abfolge der Ereignisse, und aus Karinhs Sicht – die auch die Sicht der Leser_in ist – entwickelt sich die Geschichte logisch und nachvollziehbar. Die RealitĂ€tsbrĂŒche sind subtil, die Werke von Robida, Benjamin und Perret mĂŒssen nicht bekannt sein, um die dystopische Rahmenhandlung zu verstehen. Karinhs IdentitĂ€t mit Linh-Dan Pham muss nicht erkannt werden, um Karinhs Wunsch nachempfinden zu können, ihre verstorbene Mutter kennenzulernen.

Arts et MĂ©tiers und Revoir Paris – Transit zwischen RealitĂ€ten

Die Welt der Geheimnisvollen StĂ€dte sei wie ein Spiegel, so behauptet es Questant in seiner fiktiv-wissenschaftlichen Analyse. Orientiert man sich an diesem Begriff und betrachtet Karinhs Reisen erneut, so fĂ€llt auf, dass auch ihre Reise wie ein RealitĂ€tensprung durch eine unsichtbare Wand wirkt (Abb. 9, 11). Im Konzept der Geheimnisvollen StĂ€dte funktionieren Reisen ĂŒber spezielle Orte, die Passagen.14 An solchen Orten sei die Grenze zwischen den RealitĂ€ten instabil, inkonsequent, permeabel. Als eine solche Passage wird auch die Station Arts et MĂ©tiers inszeniert. Diese ist nicht nur eine Metrostation und damit ein Ort des realen physischen Transits, sondern ebenso ein Ort des mentalen Transitgedankens, durch die retro-futuristische Steampunk-Optik ein Katalysator der Imagination: »Der Traum wird Raum.« (Heydenreich, 175).

Abb. 11: Karinh springt durch eine unsichtbare Wand in eine andere RealitÀt.

Das Potential des Mediums Comic besteht nun genau darin, die Unterscheidung zwischen RealitĂ€t und Fiktion in der Zusammenwirkung von Text und Bild zu manifestieren: Durch Farbe erst lassen sich semantische Unterschiede erkennen, die die Protagonistin selbst nicht zu erkennen scheint und ĂŒber die sie sich folglich auch nicht Ă€ußern kann. Schuitens und Peeters’ Methode ist raffiniert subtil und zugleich erstaunlich eindeutig. Was Karinh in Revoir Paris mit ihrer substanzinduzierten Immersion erlebt, ist in gewissem Umfang jeder Passagier_in der Pariser Metro möglich: Aus dem Alltag der RealitĂ€t taucht die Passagier_in in die viktorianische Welt Jule Vernes ein, aus der Metro wird ein U-Boot, aus den 20 Metern unter der Erde werden 20.000 Meilen.

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Bibliographie

Abbildungsverzeichnis

 

  • 1] Esposito 2007, 69.
  • 2] Zu Guimards Metro-Stationen vgl. bspw. Naylor/Brunhammer 1978.
  • 3] Terra wird hier, wie oft in Science-Fiction Literatur ĂŒblich, als lateinisches Synonym fĂŒr den Planeten Erde benutzt.
  • 4] Der Begriff der Lighted World hat sich innerhalb des fandoms der CitĂ©s Obscures als Terminus herausgebildet, um die unelegante Wendung unsere Welt / unsere RealitĂ€t mit einem Terminus technicus zu umgehen. Der Terminus wird hier ebenfalls stellvertretend fĂŒr unsere Welt / unsere RealitĂ€t gebraucht.
  • 5] Das archive.org stellt online eine freie Version der Originalausgabe zur VerfĂŒgung: <https://archive.org/download/unautremondetran00gran/unautremondetran00gran.pdf>. Letzter Zugriff 9.11.2020.
  • 6] Das Projekt Gutenberg bietet/bot das Werk online an: <http://www.gutenberg.org/ebooks/35103>. Als der Verfasser sich erstmals mit dem Werk beschĂ€ftigte (FrĂŒhjahr 2016), war die rechtliche Lage in Deutschland noch eine andere und die Publikation öffentlich zugĂ€nglich. Leider ist das seit dem Urteil im FrĂŒhjahr 2018 nicht mehr der Fall.
  • 7] Auch dieses Werk kann online eingesehen werden: <http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k57466170/f6.double>. Letzter Zugriff: 9.11.2020.
  • 8] Vgl. Perrets Entwurf, abgebildet im dictionary der altaplana: <https://www.altaplana.be/en/dictionary/maisons-tours>. Letzter Zugriff: 10.11.2020.
  • 9] Eine Zusammenstellung der Werke von Schuiten und Peeters, die dezidiert den Chroniken der Geheimnisvollen StĂ€dte zugehörig sind, findet sich auf Alta Plana: <https://www.altaplana.be/dictionary/chronicles>. Letzter Zugriff: 9.11.2020.
  • 10] Bereits der Name verweist auf einen fiktiv-ironischen Charakter.
  • 11] Veröffentlicht auf der website Alta Plana: <https://www.altaplana.be/en/dossiers/analyses-genius-questant>. Letzter Zugriff: 10.11.20. Die folgenden Zitate entstammen diesem Aufsatz, der ohne Seitenzahlen verfasst ist.
  • 12] Es erscheint beinahe obsolet zu erwĂ€hnen, dass der Autor hinter dem Pseudonym Genius Questant sich der FiktionalitĂ€t und Erweiterung des fandoms verpflichtet hat. Doch durch die Aufnahme des Artikels in die unmögliche und unendliche EnzyklopĂ€die Alta Plana gehört er gewissermaßen dem Kanon an. Oder waren es gar Schuiten oder Peeters selbst, die diesen Artikel verfassten?
  • 13] Vgl. Anm. 11.
  • 14] Die genaue Beschaffenheit dieser Passagen wird nicht abschließend erlĂ€utert, wodurch wiederum ein erweiterter Spielraum an Interpretationsmöglichkeiten gewĂ€hrleistet wird. Den Passagen widmet sich das Office des Passages Obscurs, eine Webseite, die der Alta Plana zugeordnet ist. In den letzten Jahren fand jedoch keine Aktualisierung mehr statt. <https://passages.altaplana.be/>. Letzter Zugriff am 20.8.20. Über die Beschaffenheit der Passagen existieren einige Dossiers und Artikel auf der Website, die sich ĂŒberwiegend mit der Frage beschĂ€ftigen, ob die Schilderungen authentisch sind und wie sie zu bewerten sind, vgl. St-Pierre a-d). Auch vermeintliche Besucher_innen kommen dabei in Form von Briefen zu Wort, etwa die reale (?) Besucherin Mary von Rathen.