Zur Erfindung des Comics in Deutschland
Frühe Perspektiven der Comicforschung
Jörn Ahrens (Gießen/Potchefstroom)1
1. Einleitung: Der Comic als Gegenstand wissenschaftlichen Interesses
»Nichtsdestotrotz werden uns die Comics erhalten bleiben« (Fuchs 1977, 9). Dieser Satz wirkt, als sei er angesichts einer anhaltend rasanten Digitalisierung der Medienkultur geprägt worden, die immer wieder die Frage aufgeworfen hat, ob das Medium Comic vor diesem Hintergrund nicht hoffnungslos veraltet und damit obsolet und zum Verschwinden verurteilt sei. Jedoch wurde dieser Satz verfasst, weit bevor der Computer zum Leitmedium der Massenkultur aufstieg. Wolfgang J. Fuchs hat ihn bereits 1977 niedergeschrieben, angesichts seinerzeit sinkender Auflagenzahlen, was jedoch weder bei ihm, noch im öffentlichen Diskurs Zweifel an der Renitenz und Langlebigkeit des Mediums aufkommen ließ.
Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Medium Comic, mithin die Comicforschung in Deutschland, ist deutlich älter als die zahlreichen, so gesehen medienhistorisch in aller Regel unterinformierten, jüngeren Bestrebungen in Forschung, Publikationen, akademischer Lehre und Institutionalisierung (etwa in Form von Forschungskonsortien, Fachzeitschriften oder Fachgesellschaften). Das wirkt zunächst trivial, könnte aber bedeutsam sein für eine Epochenzeichnung, die sich durch eine epistemologische Differenz hinsichtlich der Anerkennung des Gegenstands durch die Forschenden selbst auszeichnet. Ob sich Wissenschaft ihrem Gegenstand programmatisch normativ oder nicht nähert, und obendrein möglicherweise dezidiert pejorativ, macht einen Unterschied ums Ganze. Damit eröffnet sich auch eine medienhistorisch und binnengesellschaftlich komparative Perspektive nicht nur auf die Comicforschung selbst, sondern insbesondere auf die kulturelle und epistemische Adressierung des Mediums. Zunächst einmal muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass in Deutschland zwischen den 1950er und 1970er Jahren, also in einer hierzulande recht frühen Rezeptionsphase des Mediums, die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Medium Comic erstaunlich breit und lebendig ausfällt. Dieser Aufsatz ist freilich schon aus formalen Gründen nicht im Ansatz in der Lage, die ganze Bandbreite der seit den 1950er Jahren im deutschsprachigen Wissenschaftsraum publizierten Beiträge zur Comicforschung hinreichend zu berücksichtigen. Hierfür bedürfte es größerer medienarchäologischer Anstrengungen zur Aufarbeitung sowie kulturhistorischen und gesellschaftsdiskursiven Einordung dieser früheren, heute von wenigen Ausnahmen abgesehen weitestgehend in Vergessenheit geratenen Beiträge.
Interessant an diesem Material ist, wie stark sich kultureller und wissenschaftlicher Diskurs zum Comic zu einer kollaborativen Praxis verbinden. So tragen sie über einen Zeitraum bis etwa in die 1980er Jahre hinein, gewissermaßen gemeinsam dazu bei, ein nachhaltig wirksames Image des Comics gesellschaftlich und kulturell zu verankern. Aus diesem Gesamtzusammenhang greift der vorliegende Text als Materialgrundlage eine Auswahl markanter Publikationen der 1970er Jahre heraus. Die hier berücksichtigten Beiträge sind also deutlich nach den berühmten »Schmutz und Schund«-Kampagnen der 1950er Jahre (Faulstich; Maase; Jäger; Laser) und den darin immer wieder vorgetragenen gesellschaftlichen, kulturellen, politischen und pädagogischen Maximalverdächtigungen gegenüber dem Medium Comic erschienen. Erst in der Dekade der 1970er Jahre vollzieht sich eine Art Schwenk in den kulturellen Haltungen gegenüber dem Comic. Damit einhergehend, entspannt sich auch sukzessive der Blick der Geistes- und Sozialwissenschaften auf das Medium und macht den Weg frei für eine ernsthaftere Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, der Form, den Rezeptions- und Produktionsbedingungen des Comics als ein in den Mediengesellschaften des 20. Jahrhunderts fest etabliertes, populäres Medium.
Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass der Comic in den 1970er Jahren bereits kulturell und medienpolitisch rehabilitiert wäre. Das Gegenteil ist bis weit in die 1980er Jahre der Fall und als gesellschaftliche Praxis gut dokumentiert – etwa in den Berichten des Fachmagazins Comixene über die Aktivitäten der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Schriften, welche die pädagogischen Maximen der 1960er Jahre zum Comic in eine langfristig angelegte medien-gesellschaftliche Strategie übersetzte und so konsequent fortsetzte. Allerdings findet in den vorliegenden Beitrag die pädagogische Literatur zum Comic aus den 1970er Jahren allerhöchstens marginal Eingang. Dennoch dürfte deren systematische Auswertung größeren Aufschluss über derlei Kontinuitäten bieten. Es wäre zweifellos interessant zu sehen, ob sich darin signifikante Abweichungen von den hier herangezogenen Beiträgen ergeben. Interessant an einer Aufarbeitung der gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und kulturellen ¬Perspektiven auf den Comic in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik ist vor allem der epistemologische Hintergrund der Rezeption von Comics. Gerade über die Perzeption und die Diskussion von Comics wird in gesellschaftlicher Perspektive ein Wissen über das Medium erstellt, das in dieser Form zuvor nicht existierte. Erst vor diesem epistemologischen Hintergrund lässt sich dann eine spezifische Ordnung kulturellen und ¬medialen Wissens einführen, worin sich der Comic als ein gesellschaftlich verankertes Medium situiert und entwickelt. Zwar unterscheiden sich in diesem Zusammenhang die 1970er Jahre von den besonders aktiv gegen Comics vorgehenden 1950er und 1960er Jahren insofern, als die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Medium größer wird. Letztlich bleiben diese Gesten der Anerkennung und der Nobilitierung aber weitgehend akademisch und erreichen nicht die Breite des Diskurses zu Comics, der auch in den 1970er und 1980er Jahren überwiegend negativ imprägniert bleibt. Die Resultate jener epistemischen Produktivität wären sicher auf den Umgang mit Comics in zahlreichen Gesellschaften anwendbar, insbesondere auf die USA als dem Ursprungsland der »Schmutz und Schund«-Kampagnen (Springhall; Savage). Dennoch trifft sie in Deutschland auf spezifische historische Bedingungen, da hier erst mit der Neuformierung der populären Kultur in Deutschland nach 1945 im größeren Stil auch Comics auf den deutschen Markt gelangen (Dolle-Weinkauff; Koch). Erst von diesem verspäteten Import des Comics nach Deutschland an, der einen spezifischen, in den USA vorbereiteten, medienhistorischen und epistemologischen Import an Wissen zu Comics einschließt, kann sich auch ein spezifisch deutscher Zugriff auf das Medium, dessen kulturelle und soziale Einordnung herausbilden. Gespeist aus einer ganzen Reihe an Quellen wurde dem Comic überwiegend mit Misstrauen oder Ablehnung begegnet (Knigge). Zumal dieser zunächst vornehmlich als Verfallsmedium wahrgenommen wurde, also als Symptom für eine offensichtliche Degeneration der US-amerikanisch geprägten Massengesellschaften.
2. Medienepistemologie des Comics
Dieses Klima entspannt sich nicht zufällig in den 1970er Jahren – vor dem Hintergrund einer sich neu emanzipierenden Filmindustrie, dem Höhenflug der Camp Kultur und der Konjunktur von Pop Art. Dennoch stehen auch die wissenschaftlichen Arbeiten dieser Jahre zum Comic noch weitgehend unter dem Eindruck, dass dieser als Medium und als Kunstform primär trivial zu denken sei. Der zentrale Ansatz für eine, wie immer kursorisch ausfallende, Untersuchung der Arbeiten dieser Zeit liegt folglich vor allem in einer medien-epistemologischen Analyse. Es ginge darum nachzuvollziehen, über welche kulturellen Praktiken ein gesellschaftliches Wissen weniger des Comics, als vielmehr über den Comic erstellt wird. In epistemischer Absicht greift demnach ein Diskurs auf das Medium Comic zu, der es erstens in allgemein gesellschaftliche Kontexte einordnet und der zweitens dafür sorgt, dass ein kulturelles Meta-Narrativ über den Comic hergestellt wird, das für diesen mit einer gültigen Bedeutung versieht. Mittels dieser Instrumente wird das Medium entweder im Feld der repräsentativen oder der devianten Kultur platziert, womit eine Wahrheit des Comics generiert wird, die kulturell diskursiv gesetzt ist und die das Medium selbst, speziell aber dessen Rezeption, hegemonial prägt.
Das in diesem Text verwendete Verständnis einer epistemologischen Soziogenese kultureller Objekte folgt Michel Foucaults Begriff des »Wahrheitsregimes« (Foucault, 122–144). Dieser wird jedoch umgelenkt von einer verpflichtenden Zurichtung der Individuen auf eine Fokussierung der Medien. Für Foucault stellt das Wahrheitsregime eine Praxis der Subjektivierung dar, die im Modus des Bekenntnisses zu einer allgemeinen Wahrheit verläuft (Foucault, 122). »Ein Wahrheitsregime ist somit das, was die Individuen zu Wahrheitsakten zwingt, das, was die Form dieser Akte definiert, bestimmt und die Voraussetzungen für die Ausführung dieser Akte und ihre spezifischen Effekte schafft« (Foucault, 133). Die Übertragung dieser Praxis auf Medienformate zielt weniger deren, nur für Individuen sinnvolle, Subjektivierung an, als ihre Integration in ein einheitliches epistemologisches Format. Dieses lässt sich als »Wahrheitsregime« bezeichnen, indem es eine mediale Evidenz erstellt, ¬welche alle Formate innerhalb einer bestimmten medialen Form, etwa im Comic, erfasst. Die »Macht zur Wahrheit zu nötigen», liegt dann in der Wahrheit des Mediums selbst (Foucault, 136). Wenn Bernhard Siegert zufolge der Begriff der Kulturtechnik eine Engführung von »Kulturgeschichte und Mediengeschichte« bedeutet (Siegert, 99), dann muss diese in spezifischen kulturellen Praktiken aufgesucht werden. Für den Comic wurde früh vor allem dessen Störungspotenzial erkannt, »kulturelle Codes [zu] entsichern, Zeichen [zu] löschen, Bilder und Töne [zu] deterritorialisieren« (Siegert, 100). Die Implementierung eines medialen Wahrheitsregimes stellt demgegenüber eine Form der Domestizierung des Comics dar, durch die sein Entsicherungspotential gegenüber kulturellen Codes gelöscht, zumindest eingehegt wird (Siegert, 99f.). Zugleich wäre Medienepistemologie der reflexive Nachvollzug jenes performativen Prozesses, der eine Kulturtechnik wie den Comic sukzessive und in einer Überkreuzung von medien- und kulturgeschichtlichen Praktiken einem spezifischen Wahrheitsregime integriert. »Medien werden als Kulturtechniken beschreibbar, wenn die Handlungsketten rekonstruiert werden, in die sie eingebunden sind, die sie konfigurieren oder die sie konstitutiv hervorbringen« (ebd., 98); all diese Verfahren bündeln sich ¬wiederum zu einem epistemischen Verfahren. In rekonstruierender Perspektive ginge es somit darum, die Produktion medialer Normalität aufzuzeigen (Winkler 2004, 183–191). Gerade weil sie einem epistemologischen Wahrheitsregime unterworfen werden, zugleich aber über ein kulturtechnisches Potential der Entsicherung und Störung verfügen, müssen Medien auch gesellschaftlich normalisiert werden. Das geschieht im Fall des Comics offenkundig über seine Identifikation und Einordnung als deviantes Medium, das den Erfordernissen einer repräsentativen Kultur keineswegs gerecht werden kann. Die These, die in diesem Aufsatz letztlich weniger vertreten als vielmehr vorbereitet werden soll, lautet, dass der Comic seine heute spezifische mediale Form und Identität ganz wesentlich ausgebildet hat, weil und indem er die meiste Zeit über Objekt gesellschaftlicher und kultureller Marginalisierungspraktiken war: Die Eigenlogiken des Comics folgen einer Logik des verfemten Mediums; seine Ästhetik, narrative Struktur und symbolische Ausrichtung ist nur denkbar als Reaktion auf eine umfassende Prekarisierung des Mediums innerhalb der zeitgenössischen repräsentativen Kultur (Ahrens 2020; Packard).
Die Beiträge einer früheren deutschen Comicforschung bieten ein ausgezeichnetes Material, um dieses epistemologische Interesse am Medium systematisch zu verfolgen. Der entscheidende Unterschied zwischen den oftmals im Zusammenhang diskutierten Medien Comic und Film ist aus dieser Perspektive weniger die Frage der Form, als vielmehr diejenige der kulturellen Anerkennung. Die gerade auch ästhetisch spannende Frage lautet: Wie entwickelt sich ein Medium, das fortlaufend unter Beobachtung steht, dem systematisch -Restriktionen bezüglich der narrativen und ikonographischen Gestaltung auferlegt werden? Welche medien-epistemologischen Konsequenzen resultieren daraus, dass der Comic nicht bloß bis heute darum buhlen muss, auf der symbolischen und auf der Sinnebene als ernsthaft anerkannt zu werden, sondern dass vor allem in dieser Richtung erfolgreich eine Habituali¬sierung auch seiner Rezipient_innen und sogar derjenigen geschaffen wurde, die sich mit dem Medium fachlich auseinandersetzen? Denn da, wie Hartmut Winkler hervorhebt, die »Bindung ans Symbolische« für Medien unerlässlich ist (Winkler 2008, 212), definiert ihre epistemische Integration ihren Standort in Gesellschaft und Kultur, und damit einesteils die ihnen eigenen Akteursqualitäten sowie andernteils jene kulturellen Zuschreibungen, die sie als Medien einer Nötigung zur Wahrheit über sich selbst unterwirft (Foucault, 136). In Wissenschaft und Kultur sind die verklausulierten Entschuldigungen dafür, dass man sich mit Comics beschäftige, bis heute ungezählt; ungebremst sind die Vorworte, die ein Buch über Comics zunächst damit rechtfertigen müssen, das Medium sei heute nicht mehr als trivial abqualifiziert. Wenn das so wäre, weshalb wird es dann seit Jahrzehnten in jede Einleitung hineingeschrieben? Schließlich waren Fuchs und Reinhold Reitberger schon in den hier thematisierten 1970er Jahren guten Mutes, dass dieses Ritual überlebt sei und befanden: »Endlich ist man auch hierzulande soweit, daß nicht mehr jede Behandlung der Comics zu Anfang einer Legitimation der Subjektmaterie bedarf« (Fuchs/Reitberger o.J., 8). Dass sich diese Konvention noch immer regen Gebrauchs erfreut, verweist insbesondere auf eine Symptomatik: Episteme verwirklichen sich als Normalisierungspraktiken über Routinen und verdichten sich als solche zu Diskursen kultureller Herrschaft. Darin wirkt ausgesprochen nachhaltig der Zwang zur Rechtfertigung einer Auseinandersetzung mit den Rändern des kulturellen Feldes.
Schließlich können Formen des kulturellen Ressentiments, die sich am Comic seit den 1950er Jahren festgemacht hatten, nicht nur selbst eine zureichende Motivation abgeben, sich aus unterschiedlichsten Perspektiven mit diesem Medium zu befassen; das Ressentiment als Motivation kann auch interessante Einsichten generieren. So wird zwischen den 1950er bis 1970er Jahren auffällig viel wissenschaftlich zu Comics publiziert. Ein Großteil dieser Beiträge, so scheint es (und bliebe zu überprüfen), gelangt bemerkenswert häufig zu ähnlich lautenden Schlüssen über den Comic als Medium, seinen kulturellen Standort und seine Wirkung auf die Rezipient_innen. Dies ist der Fall, obwohl die in Frage stehenden Beiträge von gänzlich unterschiedlichen, kulturkonservativ bis materialistisch geprägten Positionen ausgehen. Dass sie trotzdem in ihrer Beurteilung des Mediums Comic erstaunlich weit übereinstimmen, mag daran liegen, dass viele dieser Arbeiten zunächst durch die störende Rolle der als neu empfundenen Comics im Lektüreangebot für Kinder und Jugendliche motiviert sind (Baumgärtner; Hesse-Quack), sich dann in eine gerade entstehende Forschung zur Trivialkultur einordnen (Zimmermann; Riha) und schließlich an ideologiekritische Ansätze anknüpfen (Doetinchem/Hartung; Drechsel/Funhoff/Hoffmann; Gans). Vor diesem Hintergrund entstehen in der 1970er-Dekade nicht nur erste Versuche einer historischen Einordnung und systematischen Aufarbeitung des Mediums (Fuchs/Reitberger o.J., 1978; Fuchs 1977; Metken), sondern auch erste, interessante, noch heute inspirierende, zugleich jedoch weitgehend vergessene Analysen zu den Formbedingungen des Mediums und zu dessen kultureller Verortung.
Für die niemals systematisch ausgebaute, arbiträr verlaufende, wissenschaftliche Rezeption des Mediums Comic sind diese Arbeiten bis weit in die 1990er Jahre hinein von größter Bedeutung. Literaturwissenschaft, (Medien-)Soziologie, Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft greifen zur Einordnung des Mediums auf diese frühen und in ihrer Perspektivenbildung auf das Medium häufig ebenso wegweisenden wie grobschlächtigen, seit den 1950er Jahren entstandenen, Arbeiten zurück. Insbesondere stellt sich als Effekt dieser Wissenschaftspraxis und -tradierung ein Image des Comics als triviale Literaturform her, welches es lange erschwert hat, das Medium anders als pejorativ zu adressieren. Zugleich eröffnet gerade der oftmals distanzierte bis ablehnende Umgang damit ebenso überraschende wie interessante Einsichten in die formale Struktur des Mediums – so etwa in Themen wie Bildarchitektur, Narration und Dramaturgie, Figurenführung etc. Das hier herangezogene Material aus den 1970er Jahren nähert sich dem Comic jedoch bemerkenswert wohlwollend. Zumindest im akademischen Diskurs scheint es um diese Zeit vermehrt Anläufe zu einer Neubestimmung des Comics zu geben. Wie weit diese auch die einflussreichen didaktischen Aufbereitungen des Mediums und den öffentlichen Diskurs generell beeinflussen, bliebe zu überprüfen. Woher diese Neubewertung rührt, ist nicht ganz klar. Im Hintergrund dürfte aber eine allgemein steigende Akzeptanz von Produkten der Populärkultur stehen, die sich unter anderem auf eine zunehmende Verflechtung von Kunst und Populärkultur (Camp, Pop-Art), auf eine Nobilitierung einzelner Populärformate (New Hollywood, Neuer Deutscher Film) sowie auf die sukzessive Durchsetzung von Comic-Formaten jenseits des ¬Stereotyps vom Kindermedium (Underground, Avantgarde) zurückführen lässt. Insgesamt lassen sich drei größere Themen identifizieren, denen der zweite Teil dieses Aufsatzes nachspüren wird. Dies ist erstens die Diskussion des Kulturwerts von Comics, insbesondere die Frage, ob diese zur Kunst zählen; zweitens die Auseinandersetzung mit der Formensprache, da hier Begriffe und Konzepte ganz weitgehend neu geschöpft, erfunden, werden müssen; drittens die Diskussion um den Wirklichkeitsbezug und Realitätsgehalt des Mediums.
3. Diskurse zum Comic in den 1970er Jahren
Zweifellos stellt der zuerst 1970 erschienene, von Hans Dieter Zimmermann verantwortete Sammelband Vom Geist der Superhelden Comic Strips. Zur Theorie der Bildgeschichte eine Zäsur für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Comics in Deutschland dar, der Beiträge zu einer Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste zusammenfasst. Als französische Gastbeiträger beklagen darin Pierre Couperie und Claude Moliterni dass es, im Unterschied zum letztlich jüngeren Medium Film, für den Comic keine »materielle Forschungsgrundlage« gebe (Couperie/Moliterni, 31), also keine Akademien, keine Archive, keine Lehre, keine Geschichte und auch keine Förderung. Dieser Befund wird im selben Band sekundiert von Otto Hesse-Quacks Befund, in Deutschland werde über den Comic zwar »viel polemisiert und spekuliert, aber nicht geforscht« (Hesse-Quack 1973, 89). Nur wenig später moniert Hans Giffhorn das »Fehlen einer empirisch fundierten Theorie der Comics«, das umgekehrt offenbar »besonders leidenschaftliche Stellungnahmen« befeuere (Giffhorn, 71). Insgesamt werde das Medium »nach tradierten, ungeprüft übernommenen Maßstäben bewertet und als solches zum Negativum erklärt« (ebd., 75). Hier zeigt sich, wie ausgeprägt der Blick nicht nur auf die institutionelle, sondern auch auf die epistemische Situation des Mediums Comic schon vor fast 50 Jahren gewesen ist. Für Hesse-Quack wie auch für Giffhorn determiniert die kulturdiskursive Rahmung des Comics nicht nur dessen Rezeptionsgeschichte, sondern das kulturell etablierte Image des Comics trägt dazu bei, dessen soziale Realität erst hervorzubringen.
An solche Befunde anschließend kritisiert Horst Künnemann, dass Comics kaum als »eigenständiges Medium« eingeschätzt würden, wie dies ihm zufolge, wohl angesichts eines kulturellen und medialen Umfeldes, worin sich der Comic wohl etabliert hat und auch Medien¬wirkung entfaltet, eigentlich angemessen sei (Künnemann, 23). Wie um ein Uneinverständnis mit der in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft bis Ende der 1960er Jahre wohl etablierten, kulturell negativen Grundhaltung gegenüber dem Medium Comic deutlich zu machen, kommen in den 1970er Jahren vermehrt gänzlich andere Positionen auf. So springt der für seine Studie über Asterix (Stoll 1974) bekannte André Stoll der Position Künnemanns bei und stellt fest, »aufgrund seiner reichhaltigen, widersprüchlichen Struktur [sei] das populäre Comic-Buch nicht für die oberflächliche Lektüre bestimmt«, da es erhebliche »subtile Reize« berge (Stoll 1977, 39). Dieser Verweis auf die Komplexität des Mediums muss im Jahr 1977 noch ebenso provozierend wirken, wie er zweifellos notwendig ist, um das um Trivialität und Konsumierbarkeit kreisende Medienimage des Comics aufzubrechen. Aus kunsthistorischer Perspektive bemüht sich noch früher Werner Hofmann, die »¬Ausgrenzung der Comics aus der Kunstsphäre« aufzubrechen (Hofmann, 64) und für einen zeitgenössisch angemessenen Kunstbegriff zu werben. Die Praxis einer Exkludierung des Comics aus dem Kunstsegment reglementiere nicht nur die Comics als marginalisiertes Medium, sondern insbesondere rückwirkend die Kunst selbst, indem diese »auf einen bestimmten, elitär beschnittenen Resonanzraum« festgelegt und damit bevormundet werde (ebd.). Faktisch seien »Popularität und divertierende Verständlichkeit« (ebd., 66) aber keineswegs Gradmesser für den Rang eines Kunstwerks, sondern würden zu solchen Kriterien nur vermittels eines spezifischen Regimes ästhetisch diskursiver Herrschaft. Vielmehr, stellt Hofmann nüchtern und unter Bezug auf Franz Wickhoff und Aby Warburg fest, seien Comics schlicht Kunst, »daran kann weder ästhetisches noch antiästhetisches Wunschdenken etwas ändern« (ebd., 67). So stünden gerade Comics für eine Öffnung, mithin für eine Demokratisierung, des Kunstbegriffs, indem mit ihnen eine Kunstform in die Mitte der Gesellschaft gelangt, »die sich nicht nur an den Kenner wendet« (ebd., 69) und so dazu beiträgt, das überkommene Kunstverständnis des 19. Jahrhunderts aufzubrechen.
Es ist bemerkenswert, wenngleich letztlich nicht überraschend, dass sich gerade materialistische Ansätze diesen Tendenzen zu einer neuen Sicht auf den Comic weitestgehend verweigern. Ganz als richte er sich direkt gegen die Position Stolls, bestimmt Jörg Funhoff: »Comics sind Massenware. […] Die Aura des schöpferischen Künstlers ist für sie längst hin« (Funhoff, 70). Einem ähnlichen Zugriff auf den Comic hängen auch Dagmar von Doetinchem und Klaus Hartung an, wenn sie meinen, als »neuartiges Medium der Massenkultur« stehe der Comic »im Widerspruch […] zu aller bisherigen Kultur« und trage Bedürfnissen Rechnung, »für die Kulturphänomene traditioneller Art völlig bedeutungslos sind« (¬Doetinchem/Hartung, 76). Kultur sei für die Comics lediglich eine »Abraumhalde, aus der sie alles ›Verwertbare‹ herausziehen« (ebd., 76). Ganz offenbar wirkt zu dieser Zeit der immer noch der ästhetische Ansatz des Materialismus nach, der speziell durch die Debatten um den Formalismus geprägt ist (Lukács), sowie durch daran anschließende Diskussionen aus den 1920er und 1930er Jahren zu einer marxistischen Ästhetik (Wittfogel) und den Einflusses des Kulturindustrie-Kapitels aus der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno). Diese Konstellation wirkt überaus hemmend auf die Einordnung populärkultureller Objekte und Praktiken, wodurch es materialistischen Positionen nachgerade unmöglich wird, die Gestaltungskraft solcher Ausdrucksweisen und Medienformate wahrzunehmen, die vom etablierten kulturellen Kanon abweichen. Hingegen sehen ganz explizit ein solches Potential Hella Dunger und ihre Ko-Autor_innen, wenn sie auf einen konstitutiven Grundwiderspruch im Medium Comic aufmerksam machen, dessen »in den Produktivkräften«, also innerhalb der Möglichkeiten der formalen Gestaltung, beschlossenes »revolutionäres Potential« durch die Grenzziehungen der »kapitalistischen Produktionsverhältnisse« geradezu gefesselt sei (Dunger u. a., 244). Darin seien Comics anderen Massenmedien, Dunger u. a. nennen den Italo-Western, verwandt. Von der »Künstlerkunst« klar unterschieden, betrachtet Zimmermann Comics schließlich als konsequente Entwicklung einer von der ersteren »abgespaltenen populären Kunst« (Zimmermann 1974, 255). Allerdings sei sogar der Comic bereits unterteilt in ein populäres und ein elitäres Segment, die kaum Berührungspunkte aufweisen würden. Einerseits befeuere seine Lektüre die »distanzierte Freude der Intellektuellen über die populäre Kunst der Comics«, andererseits die »distanzlose Freude der nichtintellektuellen Leser« (ebd., 249).
Die wohl weitläufigste Auseinandersetzung innerhalb einer im weitesten Sinne kulturwissenschaftlich ausgerichteten Comicforschung gilt während der 1970er Jahre den formalen Aspekten des Mediums. Das ist kein Zufall, da das begriffliche, kategoriale und methodische Instrumentarium für eine dem Medium angemessene Untersuchung in den 1970er ¬Jahren entweder nicht existent oder unzureichend ist. Diese Situation hat sich bis heute nicht grundlegend geändert. Auch medienhistorisch ist Wissen zum Comic nur ausgesprochen fragmentarisch vorhanden. Die Beiträge der Zeit versuchen sich denn auch an zunächst ganz basalen Fragen, die überhaupt erst die Grundlagen für eine wissenschaftliche gesicherte Auseinandersetzung mit dem Medium Comic erarbeiten, während das Bild und Text synthetisierende Medium bis dahin vor allem als eine deviante Form der Literatur adressiert wurde. So wird gefragt nach der Definition des Comics und nach den diesen auszeichnenden formalen Aspekten. Die Bedeutung der Textebene wird ebenso diskutiert, wie das Verhältnis von Bildlichkeit und Narration oder die spezifisch graphische Organisation einer Erzählung. Hier entsteht eine Vielzahl häufig origineller Ansätze und Ideen, die zum Teil noch heute wirksam sind. Vor ihrem zeitgenössischen Hintergrund akzentuieren diese Ansätze teilweise aber auch in ganz anderer Weise, als dies gegenwärtig der Fall wäre und gewinnen damit ein aus heutiger Perspektive ausgesprochen eigenständiges Profil. Damit erlangen sie insbesondere vor ihrem besonderen epistemischen Hintergrund Relevanz. An dieser Stelle sollen daraus nur einige wenige beispielhaft herausgegriffen werden. So benennt Rainer Schwarz mit »Erzählcharakter, Bildreihung, Sprechblasen« drei Kernelemente des Comics (Schwarz, 11). Bereits die Knappheit dieser Kategorienbildung verweist darauf, dass sich der Comic als Medium nicht angemessen verstehen lässt, wenn diese definierenden Elemente isoliert oder ignoriert werden. Es handele sich beim Comic nur deshalb nicht um »eine unzusammenhängende Reihe von Bildern«, sondern vielmehr um »eines der authentischsten Abbilder der Träume, Hoffnungen, des Glanzes und des Elends unseres Jahrhunderts« (ebd., 10). Wichtig sei, worauf Karl Riha aufmerksam macht, dass sich in jedem Panel »zwei Lesevorgänge« überlagerten und ergänzten, die von Text und Bild (Riha 1974, 159): »Im Comic strip dagegen geht dieser Abstand, den in der Bildergeschichte der Text zum Bild hat, verloren. Weil der Text ins Bild hineinrutscht, kann er sich nur noch unter den Bedingungen, die das Bild setzt, behaupten« (ebd.). Diese Literarizität des Bildes, die semiotisch bedeutsame Ebene des Ikonographischen, ist nach wie vor relevant und stark diskutiert; in den 1970er Jahren jedoch betritt Riha mit dieser theoretischen Verschaltung weitestgehend Neuland. Gewissermaßen im Einverständnis mit Positionen von Dunger u. a., spricht außerdem Hofmann davon, dem Comic verbleibe zwar »ein ausgedehntes inhaltliches Terrain, aber nur geringe formale Bewegungsfreiheit« (Hofmann, 79). Die Gründe dafür sieht Hofmann in einer medienimmanenten Selbstgenügsamkeit, die sich das anfängliche Experimentieren mit formalen Möglichkeiten untersage und in eine »Tendenz zur Bewahrung und Stereotypisierung des formalen status quo« münde (ebd.). Speziell in formaler Hinsicht sei das Medium auf einen eher problematischen Konservatismus verpflichtet, der Hofmann zufolge auf die ökonomische Form als serieller Markenartikel zurückgehe, sich hier doppelt kommodifiziere und sich die Freiheiten einer künstlerischen Praxis untersage. Diese Perspektive auf den Comic buchstabiert Riha konzeptionell aus, der in den frühen Comics ein enormes Potential des Ausdrucks einer auf die Groteskliteratur zurückgehenden »verrückten Welt« und des Absurden sieht (Riha 1970, 9) und diesbezüglich von einem durch die spezifische Mediensituation bedingten »Anti-Realismus des Zeichenstiftes« spricht (ebd., 10). Hingegen verkehre sich diese Qualität erst mit der Erfindung des Comic Book und dem Trend zum scheinbar realistischen Comic in einen langweiligen »Pseudorealismus« und in herrschaftsstabilisierende »Befriedigungs-Kunst« (ebd., 16).
Besonders umstritten aber, und von ebensolcher Dringlichkeit für die zeitgenössische Situation, ist die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug von Comics. Diese Debatte erscheint deshalb so zentral, weil sie offensichtlich stark normativ aufgeladen ist. Geht es doch darum, was ein Medium gesellschaftlich leisten soll und auf welche Weise (und ob überhaupt) es zur Verfestigung herrschender Ideologeme beiträgt. Unter der oben skizzierten Perspektive konsequent, sehen die materialistischen Beiträge einen Bezug von Comics auf den Kern von gesellschaftlicher Wirklichkeit entweder gar nicht gegeben oder nur als Ausdruck ideologischer Kommunikation. So heißt es bei Doetinchem und Hartung, gerade die »Kombination von Wort und Bild« in Comics mache es möglich, »dem Leser ein hohes Maß an Unwahrscheinlichkeit und Verzicht sinnlich gebundener Welt zumuten zu können« (Doetinchem/Hartung, 64). Statt einer Sättigung der Rezipient_innen durch das Medium mit Wirklichkeit ziele daher die Praxis der »Reduktion von Wirklichkeit« auf deren »Entwertung« durch das Medium Comic ab (ebd.). Ideologisch reproduziere gerade diese Reduktion und Entwertung zugleich systematisch und »unmittelbar die herrschenden Verhaltensnormen« (ebd., 65). In ähnlicher Stoßrichtung befinden Wiltrud Ulrike Drechsel und ihre Ko-¬Autoren, als Massenartikel erhebe der Comic »keinen Anspruch auf Einzigartigkeit«, sondern sei »außerordentlich plagiatfreudig« (Drechsel/Funhoff/Hoffmann, 10), worin sie im Grunde bereits den ganzen formalen Kern des Mediums erkennen.
Gegen solche Ansätze bezieht Hofmann Position, wenn er feststellt, Comics bildeten »unsere Zeit umfassender und authentischer« ab, »als die sogenannte ›Hochkunst‹« (Hofmann, 66). Gerade weil sich Comics in klarer Differenz zur Hochkultur befänden, kehrt er die pejorative Argumentation um, seien sie auch in der Lage, in besonderer Weise die Repräsentation gesellschaftlicher und kultureller Bedingungen einzulösen. Diese Sichtweise ergänzend, stellt Alfred C. Baumgärtner fest, Comics seien als »Dokument der Gesellschaft zu deuten, die sie hervorgebracht hat« (Baumgärtner 1973, 99). In dieser Perspektive kann auch der »Konsum der Bilderhefte als Informationsprozeß« (ebd.) adressiert und entsprechend als Kulturpraxis identifiziert werden. Alle möglichen »postulierten negativen Auswirkungen der Comics-Lektüre«, wendet sich Baumgärtner gegen die hergebrachte Kritik am Medium, seien nicht belegt (ebd., 98). An anderer Stelle präzisiert er sogar, es könne kein Zweifel daran bestehen, dass das »in Figuren- und Handlungsklischees, in Sprache und Bild, Strich und Raster unverwechselbare Zeichensystem der Comics eine der Signaturen der Epoche geworden« sei und weist die herkömmliche Comic-Kritik als »antiquiert und provinziell« zurück (Baumgärtner 1974, 27). Vielmehr stehe die gesellschaftliche Durchsetzung von Massenkultur auch für einen, oben bereits angezeigten, Demokratisierungsprozess (ebd., 31).
Zuletzt sei auf Ulrich Krafft hingewiesen, der in seinem 1978 erschienenen Comics lesen einen gänzlich eigenständigen, weder vom Film berührten, noch von Will Eisners Konzeption beeinflussten Sequenz-Begriff als »enge, ununterbrochene Verweisketten« vorlegt, der auch heute noch inspirierend wirkt (Krafft, 18). Krafft macht deutlich, dass die übliche Abfolge von Panels im Comic aus in »Verweisketten« organisierten, »verweisende[n] Zeichen« besteht, die auf ein letztlich nur einmal neu gesetztes Zeichen bezogen sind und die er als Sequenzen bezeichnet (Krafft, 18). Das semiotische Prinzip des Verweises stellt für Krafft über die Sequenz hinaus das formale »Zentrum« des Comics dar (Krafft, 28), das insbesondere im einzelnen Panel wirksam wird (Krafft, 19f.). Über die zunächst simple Definition des Comics als »Bildertext« hinaus, ist Krafft damit in der Lage, den Comic als »ein Geflecht von Verweisketten« zu beschreiben (Krafft, 27). Darüber wird sowohl die narrative Kontinuität des Comics gewährleistet, als er über dieses Geflecht auch gegliedert wird. In seinem 1973 erschienenen Aufsatz zum Comic als »semiologisches System« setzt Baumgärtner im Grunde ähnlich an, wenn er davon spricht, der scheinbar epische, fortlaufende Erzählstrom des Comics stelle »in Wahrheit eine Bilderfolge dar« (Baumgärtner 1973, 101). Damit kommt er einem Sequenzbegriff zumindest nahe, ohne diesen selbst zu verwenden. Angelehnt an Roland Barthes führt Baumgärtner aus, Comics würden sich als »semiologisches System graphischer Zeichen« organisieren und entfaltet im Detail den »Zeichencharakter« der formalen Vorgehensweisen im Comic (Baumgärtner 1973, 104f.), der von den Konsument_innen sukzessive »einregistriert« werde (Baumgärtner 1973, 110). Mit diesen ausgesprochen avancierten Ansätzen weisen Krafft und Baumgärtner deutlich über die zeitgenössische Diskussion um den Realitätsgehalt von Comics hinaus (an der sich Baumgärtner andernorts, 1965 und 1974, durchaus beteiligt) und öffnen eine Perspektive darauf, dass es im Comic möglicherweise viel weniger um Fragen einer adäquaten, realitätsgerechten Darstellung geht, als um abstrahierende Verfahren einer symbolischen, zeichenhaften Repräsentation. Ähnlich argumentiert nur noch Riha, wenn er auf der irrealen Qualität des Comics insistiert, auf dessen Tendenz zur Groteske, »zum Absurden, zu Witz und Phantastik« (Riha 1973, 44). Letztlich transzendieren solche Ansätze nicht nur den gängigen Realitäts-Fetisch der Zeit, indem sie auf ein Potenzial des Comics verweisen, welches weit über dessen sehr eng gefassten Fokus hinaus geht. Vielmehr wirken sie auch avancierter, als die meisten aktuellen Ansätze, die den Comic noch immer vor allem als reines Abbildungsmedium oder in einer ausgesprochen literarischen Perspektive adressieren. Solche Entwürfe wären daher unbedingt neu einzuholen.
4. Fazit
Deutlich wird vor diesem Hintergrund, welche Relevanz die Auseinandersetzung mit den frühen Beiträgen zu einer kulturwissenschaftlichen Einordnung von Comics für eine medien-immanent komparative Perspektive auf die Comicforschung haben könnte. Der mögliche Gewinn dieser Auseinandersetzung läge in der medien-, vor allem aber theoriegeschichtlichen Rekonstruktion dieser heute medienhistorisch und medientheoretisch weitgehend abgesunkenen Debatten und ihrer Übersetzung auf neuere Fragestellungen und Problematiken. Es sollte deutlich geworden sein, dass es sich hier nicht nur zeitgenössisch, sondern ganz grundsätzlich um wesentliche Beiträge handelt, bei denen sich die wissenschaftliche Erschließung des Mediums und dessen kulturelle Rezeptionsgeschichte bis zur Ununterscheidbarkeit überlagern. So entwerfen die frühen Beiträge oftmals nicht nur interessante Zugänge zum Comic – was durchaus auch auf die ablehnenden Positionen zum Medium Comic zutrifft. Sondern sie spiegeln darüber hinaus ausgesprochen pointiert und als Meta-Diskurs den gesellschaftlichen Prozess einer Aneignung des Comics wider und erlauben den Nachvollzug eines Vergesellschaftungs- und Kulturalisierungsprozesses des Comics. Insofern legen die in Frage stehenden Arbeiten Grundlagen für eine kulturelle Situierung und Lokalisierung von Comics in der Bundesrepublik. So erscheint etwa die Forderung Dietger Pfortes die »Behandlung des Massenmediums Comic« benötige ein »Einlassen auf mediale Eigenschaften, für das der traditionelle Literatur- und Kunstunterricht kein Instrumentarium besitzt«, nach wie vor höchst modern und an der Zeit zu sein (Pforte, 9). Die Ungleichzeitigkeit von Medienperformanz und Medienrezeption des Comics ist kennzeichnend für dessen anhaltende Wahrnehmung in Deutschland. Nicht der Comic selbst, auch nicht dessen Leserschaft, verorten das Medium in der kulturellen Topographie seit den 1950er Jahren, sondern dies erledigt zu weiten Teilen eine Expertengemeinschaft akademischer Kulturübersetzer mittels Diskurspraktiken, die über Kompetenzen zur Registrierung, Identifizierung und Klassifizierung verfügen. Diesbezüglich bricht offenbar mit den 1970er Jahren ein bis dahin konventionalisierter Denkstil auf, indem die Kulturübersetzer sich nun bemühen, die bis dahin sehr erfolgreich pejorativ etablierte, symbolische Integration des Comics zu verschieben und neue Techniken und Perspektiven anzubringen, »die kulturelle Codes entsichern, Zeichen löschen, Bilder und Töne deterritorialisieren« (Siegert, 100).
Die im Zuge dieser Verschiebungen in den 1970er Jahren auszumachenden, heute weitgehend vergessenen Ansätze zu einer theoretischen und konzeptionellen Bestimmung des Mediums Comic sind in vielerlei Hinsicht instruktiv. Dieser Wert wird nicht geschmälert, eher unterstrichen, durch das oftmals zugleich unbeholfene Vokabular. Es ist bemerkenswert, dass offenbar über Jahrzehnte hinweg kein begriffliches Vokabular wurde, um den Comic als Medium theoretisch wie konzeptionell zu adressieren. Die Gattungsqualität tritt vielfach hinter das Format des Produkts zurück, es findet sich kein Begriff, der nicht irgendwie Ressentiment kommunizieren würde. So ist die Rede von »Comic-Heften« oder »Comics-Heftchen«, was selbst in ansonsten eher ambitionierten Beiträgen die epistemische Hypothek der »primitiven Literaturform« durchscheinen lässt (Baumgärtner 1965). Zugleich wird offenbar, dass viele Debatten der Gegenwart nicht wirklich neu sind und durch eine medien- und theoriegeschichtliche Rekonstruktion nur gewinnen könnten. So erinnert die oben mit Zimmermann angezeigte Aufspaltung in ein intellektuelles und ein Massensegment der Comicproduktion nicht zufällig an aktuelle Diskussionen zur Differenz von Comics und Graphic Novel. Zwar stehen mit den betont artifiziellen, kunstorientierten Arbeiten von Guy Peellaert oder Alfred von Meysenburg ganz andere Produktionen im Zentrum des Interesses als bei der heute vor allem über ein ambitioniertes Narrativ definierten Graphic Novel. Die Schnittmenge und identische Absicht liegt in der symbolischen Aufwertung des Mediums in das Feld einer repräsentativen Kultur, was in der Regel zugleich bedeutet, in das der sogenannten Hochkultur. Deren Diskursgrenzen sind über weite Strecken noch immer ausgesprochen wirkmächtig und organisieren weithin das kulturelle Kapital der einzelnen Medien. Der Zugriff über ein primär bildgebendes Kunstverständnis oder über eine literarische Form, so unterschiedlich er jeweils sein mag, bedeutet in dieser Hinsicht nur eine andere Akzentuierung der Strategie. Die Einschätzungen bezüglich solcher Praktiken ähneln sich durchaus: »Auch die Gebildeten lesen jetzt die zuvor verächtlich betrachteten Comics, die ihnen ein ungewohntes Vergnügen bieten, eine exotische Abwechslung, nach der sie aus Bildungsüberdruß greifen« (Zimmermann 1974, 249). Solch pointierte Befunde fehlen faktisch angesichts der heute in der Forschung weithin akzeptierten Gattungsteilung des Mediums in Comics und Graphic Novels, die immer den Ballast einer Abkopplung des Intellektuellensegments von der »primitiven Literaturform« mit sich schleppt.
Das Pendant der Debatte um Comics in den 1970er Jahren zu aktuellen Diskussionen bezüglich einer Distinguiertheit des Mediums ist die dort ausgiebig geführte, oben kurz gestreifte Diskussion um den Wirklichkeitsbezug des Mediums. Noch weitgehend unberührt von literaturtheoretisch avancierten Positionen wird dort das realistische Sujet und die realitätskonforme Darstellung weitgehend zum Maßstab gelungener Form erhoben, während das kulturtechnische Potential des Comics nahezu vollständig entweder in den Hintergrund tritt oder heftig kritisiert wird (Ahrens 2019, S. 84–115). Mit der realistisch abbildenden Form verbindet sich dagegen der Anspruch einer Abbildung von Realität, die zugleich normativ aufgeladen wird mit der Aufgabe einer klar artikulierten Kritik. Bloß kluge Unterhaltung genügt hier also nicht und gälte rasch als Affirmation; die den Comic zunächst grundierende Kunst der Überzeichnung, von Riha (1970) explizit ausgeführt, spielt in der kulturwissenschaftlichen Diskussion der Zeit zum Comic faktisch keine Rolle. Vor vierzig Jahren artikuliert sich an dieser Stelle vor allem eine materialistische Auseinandersetzung mit dem Comic, die das Medium in ideologiekritischer Absicht als ideologisches Instrument der Bewusstseinsproduktion eingesetzt sehen will. Etwa wenn Doetinchem und Hartung den fehlenden Wirklichkeitsbezug von Comics zunächst ausgiebig kritisieren und dann ausgerechnet den chinesischen Comic zu Zeiten der Kulturrevolution als gelungenes Beispiel »der Schulung des Bewußtseins und der Leidenschaft« preisen (Doetinchem/Hartung, 208). In der Gegenwart steht die Feier des Authentischen, wenngleich formal anders gerichtet, kaum zurück, wenn sie insbesondere autobiographische Arbeiten, die an den Problemen des Alltags exemplarisch gesellschaftliche Brüche verhandeln wollen, ebenso akzentuieren, wie die Comic-Reportage als umfängliche Widerspiegelung von Realität. Die Parallelschaltung einer umfänglichen Wertschätzung scheinbar authentischer Abbildungsmimesis ist an dieser Stelle frappierend, auch wenn Riha schon 1970 eine bis heute einzigartige, innovative Theorie des frühen Comicstrips als »Anti-Realismus des Zeichenstiftes« auslegt (Riha 1970, 10).
Schließlich gelangen die Erkundungen des Comics in den 1970er Jahren, und sogar schon deutlich zuvor, in Ermangelung eines kategorialen Arsenals für die Erfassung der Formensprache und erzählerischen Besonderheiten des Mediums, zu oftmals eher improvisiert erzielten Einsichten, die Positionen wie sie später Groensteen, McCloud, Schüwer und andere entwickelt haben, mindestens vorweggenommen haben. Die oben zitierte Definition, die Schwarz für Comics findet, ist jedenfalls noch immer aktuell und brauchbar, was angesichts der nach wie vor umkämpften Definition des Mediums an sich schon bemerkenswert ist. Gleichzeitig wird die Diskussion über den Status von Comics als Literatur und die Bedeutung, die der Bildebene im Medium zukommt, bereits ausgiebig geführt. Wenn der Comic heute primär als literarische Form rezipiert wird, dann werden die Grundlagen dafür mindestens vor 40 Jahren gelegt, während die Ikonographie des Mediums, seine unmittelbar visuelle Präsenz, damals wie heute auffällig unterbelichtet und theoretisch vernachlässigt bleiben. Dass ein insbesondere graphisches Medium wie der Comic auf dieser Ebene kaum erschlossen und vornehmlich narrativ analysiert ist, stellt sowohl eine große Konstante, als auch ein großes Rätsel bezüglich der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Medium dar.
Klare Differenzen setzen historisch sowohl der wissenschaftliche als auch kulturell-politische Zeitgeist. So spielen bis in die 1970er Jahre hinein (und sicher auch noch darüber hinaus) Diversity Themen in der Forschung zum Comic keine Rolle. Gender erfährt noch keinerlei Akzentuierung und das N-Wort wird auch in progressiven Publikationen noch bedenkenlos gebraucht. Hinzu kommt, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Medium rein national ausgerichtet ist. Eine internationale Orientierung spielt weder auf der Ebene der wissenschaftlichen Rezeption wirklich eine Rolle noch hinsichtlich der Tatsache, dass fast alle in Deutschland rezipierten Produktionen Lizenzmaterial und damit international imprägniert sind. Hier ist der nationale Diskurs sich noch vollauf selbst genug. Schließlich, und das ist sicher entscheidend, wenngleich es Gegenstand einer eigenständigen Untersuchung sein sollte, begreift sich die Forschung zum Comic in den 1970er Jahren in keiner Weise als Comicforschung. Sofern sie sich fachlich verorten ließe, fiele sie wohl am ehesten in das Feld einer Trivialkulturforschung, weitestgehend aber handelt es sich schlicht um pädagogische, germanistische, soziologische Beiträge, die sich auch einmal dem Comic zuwenden. Eine eigenständige Comicforschung, so wie es bereits eine Filmwissenschaft gibt, ist noch nicht im Ansatz erkennbar. Diesbezüglich hat sich wohl am meisten verändert ¬zwischen 1970 und 2020.
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- 1] Jörn Ahrens ist Professor für Kultursoziologie and der Justus-Liebig Universität Gießen und Extraordinary Professor of Social Anthropology an der North West University, Südafrika.