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Körper/Blicke und Selbst(be)zeichnungen bei Pagu, Laerte und Powerpaola

Jasmin Wrobel (Berlin)

In den letzten beiden Jahrzehnten und insbesondere in den letzten Jahren hat sich die sequentielle Kunst in Lateinamerika als wichtiger künstlerischer Raum des feministischen Widerstands erwiesen. Obwohl der Comic in seinen unterschiedlichen Ausdrucksformen nach wie vor von männlichen Zeichnern und auch Rezipienten dominiert wird, nutzen Künstlerinnen das Medium zunehmend dazu, hegemoniale und heteronormative Gesellschaftsstrukturen in Frage zu stellen. Durch die Entstehung und Etablierung neuer Publikationsplattformen (feministische Comiczeitschriften, die sozialen Medien oder Blogs) eröffnen sich eigene und unabhängige Räume, in denen verstärkt eine Auseinandersetzung mit sexistischen und/oder rassistischen Diskriminierungen, (sexueller) Selbstbestimmung oder aktuellen politischen Debatten stattfindet.

Der vorliegende Beitrag wird sich im Folgenden drei Künstlerinnen widmen, die als wesentliche Wegbereiterinnen der weiblichen und (queer)feministischen Comickunst speziell in Südamerika erachtet werden können: der brasilianischen Modernistin Patrícia Rehder Galvão (1910–1962), besser bekannt unter ihrem nom de plume ›Pagu‹, die 1931 als eine der ersten Frauen Comicstrips zeichnete, sowie der ebenfalls aus Brasilien stammenden Laerte Coutinho (*1951), einer der bekanntesten Karikaturistinnen und Comiczeichnerinnen des Landes. Während ihrer Transition in den 2000er Jahren – Laerte wurde als biologischer Mann geboren – ließ sie sich von einer Alter Ego-Figur begleiten und setzt sich seitdem öffentlich für Transgenderrechte ein. Zuletzt wird mit der kolumbianischecuadorianischen Comiczeichnerin Paola Gaviria (*1977), ›Powerpaola‹, eine Künstlerin besprochen, deren Graphic Memoir Virus Tropical (2011) eine breite internationale Rezeption erfuhr und die eine der ganz wesentlichen Netzwerkerinnen der lateinamerikanischen und internationalen Comicszene ist: Gemeinsam mit dem niederländischen Comickünstler Joris Bas Backer (u. a. Küsse für Jet, 2020) gründete sie 2008 das internationale feministische Comic-Kollektiv Chicks on Comics, dem auch viele lateinamerikanische (vor allem argentinische) Künstlerinnen angehören.

Pagu, Laerte und Powerpaola stehen für unterschiedliche Generationen und, hiermit zusammenhängend, für verschiedenartige Zeichenstile und Darstellungsmodi. Ihnen ist allerdings gemeinsam, dass sie sich mit ihrer Comickunst aktiv gegen gesellschaftliche Zuschreibungen und Erwartungshaltungen richten und zum Teil explizit am politischen Diskurs in ihren Ländern teilnehmen. Dies geschieht nicht zuletzt über Dialoge bzw. Dispute mit hegemonialen Bildtraditionen. Meinen Analysen stelle ich daher einleitend einen kurzen Exkurs zu einer Darstellung voran, die den ›kolonialen Blick‹ repräsentiert wie wohl kaum eine andere, und die gleichzeitig als stellvertretend für hegemoniale Bildtraditionen und -politiken steht, gegen die sich das Werk vieler (nicht nur lateinamerikanischer) Comickünstlerinnen richtet.

Der koloniale Blick: Jan van der Straets America

Den ›Amerikas‹ wurde ihr Name durch den deutschen Kartografen Martin Waldseemüller zugewiesen, der die ›neu entdeckten‹ Landmassen im Westen auf seiner Weltkarte von 1507 nach Amerigo Vespucci benannte. Vespucci hatte in seinem Reisebericht Mundus Novus (1502/1503) als erster darauf hingewiesen, dass es sich bei der ›Neuen Welt‹ vermutlich um einen eigenen Kontinent handele. Eine der wohl bekanntesten bildlichen Darstellungen der Begegnung zwischen der ›Alten Welt‹ und der ›Neuen Welt‹ ist der zwischen um 1591 nach einer Zeichnung des flämischen Malers und Zeichners Jan van der Straet (lat. Johannes Stradanus) angefertigte Kupferstich America.

Abb. 1: Kupferstich von Theodor Galle nach Jan van der Straet: America.

 

Das Bild leitet die Serie Nova Reperta ein, die neunzehn nachantike Entdeckungen oder Erfindungen zeigt, die dem Künstler als besonders prägend für die eigene Epoche erschienen. America soll an dieser Stelle nicht detailliert besprochen werden,1 vielmehr möchte ich auf einige Aspekte der geschlechtlichen Zuschreibungen und Dichotomien verweisen, die in der allegorischen Darstellung aufgeworfen werden und die als Ausgangspunkt für die in der vorliegenden Untersuchung angestellten Überlegungen dienen mögen. Der mit Astrolabium und Kreuzbanner ausgestattete Amerigo Vespucci steht, vollständig bekleidet, das Schwert in der Scheide eng am Körper tragend, einer – bis auf einen Federkopfschmuck und einen Lendenschurz, die sie als Indigene lesbar machen – nackten und wehrlosen Frauengestalt gegenüber, die sich in ihrer Hängematte aufrichtet, mit staunendem, leicht geöffnetem Mund zu Vespucci aufsieht und ihm – folgsam, einladend? – die Hand entgegenstreckt. Die Nacktheit der Frau, die hier als Allegorie für den gesamten ›neu entdeckten‹ Kontinent steht, rekurriert zum einen auf ihre ›Unberührtheit‹ bzw. ›Unbeschriebenheit‹, zum anderen – aber hiermit im Zusammenhang stehend – entspricht sie als Projektion dem voyeuristischen Blick des erobernden Mannes, der ihr durch seine Positionierung und die Insignien, mit denen er ausgestattet ist, sowie nicht zuletzt durch seinen Namen (also seine Identität) übergeordnet ist. Die Legende lautet: »Americen Americus retexit, & Semel vocavit inde semper excitam« (»Amerigo entdeckte Amerika; Er rief sie einmal und von da an war sie für immer erwacht«).

Die ›Kolonialisierung‹, (gewaltsame) ›Inbesitznahme‹ und ›Benennung/Bezeichnung‹ des weiblichen Körper-Kontinents – Michel de Certeau spricht in diesem Zusammenhang von einer »écriture conquérante [que] va utiliser le Nouveau Monde comme une page blanche (sauvage) où écrire le vouloir occidental« (de Certeau, 3)2 – verbunden mit dem weißen, männlichen Blick ist ein Moment, das durch die Geschichte hinweg bis in aktuelle Debatten seinen Widerhall findet. Meine Untersuchung widmet sich im Folgenden der Frage, auf welche Art und Weise lateinamerikanische Comiczeichnerinnen3 sich in ihren Werken von einem hegemonialen, zumeist männlich-heteronormativen Blick lösen bzw. diesem begegnen und patriarchale, binäre Strukturen durch die selbstgezeichnete Körperlichkeit aufbrechen.4 Die Körper, so unterschiedlich in ihren Darstellungen bei Pagu, Laerte und Powerpaola, wollen nicht ›zur Verfügung‹ stehen oder ›beschrieben‹ bzw. ›be-zeichnet‹ werden, sie sind nicht ›passiv‹, sondern wehrhaft und widerständig und setzen dem hegemonialen Blick politischen Aktivismus, (visuelle) Provokationen, aber auch die eigene Verletzlichkeit entgegen. Nicht zuletzt findet durch die Wahl eines Künstlerinnennamens bzw. der Namen der Protagonist_innen eine Form der ›Selbst(be)zeichnung‹ statt.

Pagu: der militante Körper

Die brasilianische Schriftstellerin, Aktivistin und Journalistin Patrícia Rehder Galvão (›Pagu‹) kann in mehrfacher Hinsicht als Pionierin und auch als Tabubrecherin gelten (vgl. Wrobel 2020, 20-24). Zum einen war die überzeugte Kommunistin Pagu die erste Frau, die in Brasilien aus politischen Gründen verhaftet wurde (vgl. Risério, 37). Zum anderen ist in ihr, neben den Karikaturistinnen Nair de Teffé (1886–1981) und Hilde Weber (1913–1994), eine der Begründerinnen der weiblichen brasilianischen Comickunst zu sehen. Gemeinsam mit dem Modernisten Oswald de Andrade, mit dem sie von 1930 bis 1935 verheiratet war, gab sie die politische Zeitung O Homem do Povo [Der Mann des Volkes] heraus, von der zwischen dem 27. März und dem 13. April 1931 acht Ausgaben erschienen. In Pagus dort veröffentlichter Kolumne A Mulher do Povo [Die Frau des Volkes] stellte sie die Gewohnheiten und Werte der bürgerlichen Frauen in São Paulo satirisch dar. Im Rahmen der Kolumne veröffentlichte die Autorin auch Karikaturen und einen Comicstrip, in dieser Form eine der ersten Manifestationen bildlichen, sequentiellen Erzählens mit weiblicher Autorschaft in Lateinamerika. Stilistisch charakterisieren sich Pagus Zeichnungen durch modernistische Einfachheit und eine expressionistische Darstellungsweise. Der Strip trägt die Namen seiner drei Protagonist_innen: malakabeça fanika kabelluda. Kabelluda, die bei ihrem Onkel Malakabeça und ihrer Tante Fanika aufwächst, kann hierbei als eine Alter Ego-Figur Pagus gelesen werden: Sie ähnelt ihr nicht nur physisch andeutungsweise, vor allem durch das gelockte Haar, was sich in ihrem Namen ›kabelluda‹ niederschlägt,5 sondern teilt überdies ihre politischen Überzeugungen. Das Engagement für die Kommunistische Partei Brasiliens (PCB) wird daher auch im Comicstrip zum Thema. Pagu verweist durch die Unternehmungen von Kabelluda – diese organisiert in Abb. 2 ein Treffen von Kommunist_innen auf der Praça da Lamparina in São Paulo – auf die Notwendigkeit einer aktiveren politischen Beteiligung von Frauen und zudem auf die Bereitschaft zur (körperlichen) Selbstaufopferung. Dass Pagu selbst diesem Anspruch nachkam, belegt die Tatsache, dass die Autorin etwa vier Monate nach der Fertigstellung dieses Strips aufgrund ihrer Aktivitäten verhaftet wurde: Während einer Demonstration in der Hafenstadt Santos war der afrobrasilianische Hafenarbeiter Herculano de Souza von der Polizei tödlich verwundet worden. Er verblutete in Pagus Armen, woraufhin diese in Gewahrsam genommen wurde (vgl. Mertin, 540) – die erste von insgesamt 23 Festnahmen. Nach einem gescheiterten kommunistischen Aufstand 1935 verbrachte sie, mit einer Unterbrechung zwischen 1937 und 1938, fast fünf Jahre in Gefangenschaft, eine Zeit, die ihr gesundheitlich schwer zusetzte, auch weil sie als Staatsfeindin gefoltert wurde. Ihr eigenes politisches Engagement hatte also eine dezidiert körperliche und existenzielle Dimension (vgl. u. a. Mertin, 544), was in dem Comicstrip in gewisser Hinsicht antizipiert wird.

Abb. 2: Pagu: malakabeça fanika e kabelluda: politischer Aktivismus und Selbstaufopferung.

Im ersten Panel steht Kabelluda in selbstbewusster, aufgerichteter Pose, die Arme ausgebreitet, auf einem Podest auf der Praça da Lamparina (eigentlich Praça do Patriarca) im historischen Zentrum von São Paulo und verteilt Flugblätter. Eine Menschengruppe ist hinter ihr versammelt und hört zu, während sich ihre Tante Fanika im Bildvordergrund gebückt von ihr abwendet und sich nicht an der Kundgebung beteiligt. Im zweiten Panel ist zu sehen, wie Kabelluda gewaltsam abgeführt wird, eine bewaffnete Sicherheitskraft trägt sie unter dem Arm, während ihr die letzten Flugblätter aus der Hand fallen. Im Hintergrund wartet ein Gefangenentransport, im Bildvordergrund sieht ihre Tante dem Geschehen entsetzt zu, schreitet aber nicht ein.

Im dritten Panel schließlich liegt diese dem Erschießungskommando flehend zu Füßen, doch es ist bereits zu spät, ihre Nichte Kabelluda wird hingerichtet – allerdings nur, um im vierten Panel, und bezeichnenderweise nach genau drei Tagen, wiederaufzuerstehen. Im Hintergrund sind drei Kreuze auf einem Hügel zu sehen, die auf die Kreuzigung Christi und der beiden Schächer auf dem Golgatha-Felsen verweisen und Kabelludas Tod und Auferstehung zusammen mit der Bildlegende (»Am dritten Tage ist sie von den Toten auferstanden!«) als – politisches, nicht religiöses – Märtyrertum kennzeichnen: Die Figur wird – andeutungsweise in Orantenhaltung – in der Luft schwebend dargestellt (auch die Himmelfahrt wird hier zitiert), über ihrem Haupt wird eine Gloriole angedeutet, während zwischen ihren ebenfalls vom Körper abgespreizten Beinen ein Bolschewikenstern prangt. Die Zuschauenden sehen mit offenen Mündern und ausgebreiteten Armen zu ihr auf, unter ihnen Tante und Onkel (der hier wie auch in den anderen Strips klein und schmal im Gegensatz zur dominant-fülligen Tante dargestellt ist und nichts zum Handlungsgeschehen beiträgt), während Kabelluda verlauten lässt: »Agora vocês me pagam«, hier im Sinne von »Das werdet ihr mir büßen« – eine Verkehrung der christlichen Vergebungsgeste. An wen sich ihre Drohung richtet, ob an die (passiv) Zuschauenden oder gegen das Regime des 1930 durch einen Putsch an die Macht gekommenen Getúlio Vargas, obliegt der Interpretation der Rezipient_innen. Werden hier christlich-religiöse Bild- und Texttraditionen instrumentalisiert und karikiert, um eine politische Botschaft abzusenden, so setzt sich Pagu darüber hinaus auf kritisch-kühne Weise mit der von ihr offensichtlich als scheinheilig empfundenen Moral der katholischen Kirche auseinander, so z.B. in einer Karikatur mit dem Titel improprio para menores (sic; »für minderjährige ungeeignet«). Diese zeigt Kabelluda – kindlich-fraulich in Schuluniform – und einen Priester, der sie belehrt: »Minha filha, o Papa disse que só o padre pode ministar educação sexual às creanças« (sic; in O Homem do Povo, Nr. 2, S. 1): »Meine Tochter, der Papst hat gesagt, dass nur der Priester den Kindern Sexualunterricht erteilen darf« – und diese Aussage ist bei Pagu dezidiert zweideutig angelegt, genau wie die Bildlegende, in der es heißt: »O Vaticano prohibiu aos paes e professores a explicação de assumptos íntimos que só compete ao sacerdote«, »Der Vatikan hat Eltern und Lehrern verboten, intime Angelegenheiten zu erklären, die in der alleinigen Verantwortung des Priesters liegen« (ebd.). Hierbei muss hervorgehoben werden, dass sie diese und einige andere der in O Homem do Povo veröffentlichten Karikaturen mit einem anderen nom de plume / nom de guerre unterzeichnet: ›Peste‹ (›Pest‹), mit dem sie ihre aufwieglerischen Absichten unterstreicht. Ist sie heute vor allem unter ihrem zwischen 1928 und 1940 verwendeten Künstlerinnennamen ›Pagu‹ bekannt, ein Spitzname, den sie von dem Dichter Raul Bopp erhalten hatte, so wechselte Patrícia Galvão die Pseudonyme in den unterschiedlichen künstlerischen Ausdrucksformen während ihrer Karriere immer wieder, zum Teil auch aus politischen Gründen.6

Die sexuelle und körperliche Selbstbestimmung wird in einem weiteren Comicstrip (Abb. 3) thematisiert und problematisiert, der eng mit eigenen traumatischen Lebensereignissen verknüpft ist.

Abb. 3: Pagu: malakabeça fanika kabelluda: Kabelludinha.

Die abenteuerlustige Kabelluda reißt von zuhause aus und macht sich allein nach Portugal auf, wo sie die Aufmerksamkeit der portugiesischen Männer auf sich zieht. Bei ihrer Rückkehr nach São Paulo einige Monate später ist sie schwanger mit »Kabelludinha«, der »kleinen Kabelluda«. Während der Onkel sich über die Nachricht freut, reagiert die Tante Fanika, die in Pagus Comicstrip für ein moralistisch-angepasstes Frauenbild steht, rigoros, ja gnadenlos: Im vierten Panel ist zu sehen, wie sie Kabelludinha, die hier nicht als Embryo, sondern als Miniaturversion ihrer Mutter dargestellt ist, mit einer langen Nadel durchsticht. Der Strip verweist auf eine zu Beginn des 20. Jahrhunderts übliche Praxis der (heimlichen) Zwangsabtreibung, die jungen, unverheirateten Frauen von ihren Familien auferlegt wurde, wenn sie schwanger wurden (vgl. Nogueira, 5). Die Lebensgefahr, die diese Praxis auch für die Schwangere bedeutete, mag hier eben dadurch angedeutet sein, dass Kabelludinha namentlich wie zeichnerisch als »kleine Kabelluda« präsentiert wird (wobei diese Art der Visualisierung auch dem modernistischen Stil geschuldet sein kann). Der Comicstrip bekommt einen noch bittereren Beigeschmack, wenn man bedenkt, dass Pagu selbst eine solche Abtreibung erdulden musste, als sie als 14-Jährige schwanger wurde (vgl. Galvão, 56–57). Die explizite Darstellung in dem Comicstrip kann als kühner Tabubruch interpretiert werden, gleichzeitig lenkt Pagu hier den Blick auf die eigene Verletzlichkeit und ein selbsterlebtes Trauma. Um diese autobiografische Komponente wissen allerdings nur heutige Rezipient_innen, die die Memoiren der Autorin kennen: Der lange Brief, den Pagu nach ihrer fast fünfjährigen Haftstrafe an ihren zweiten Ehemann Geraldo Ferraz schrieb und in dem sie dieses Erlebnis teilt, wurde erst 2005 von ihrem gemeinsamen Sohn Geraldo Galvão Ferraz herausgegeben. Den zeitgenössischen Leser_innen von O Homem do Povo 1931 dürfte dieser Umstand nicht bekannt gewesen sein.

Laerte: der queere/nichtbinäre Körper

Die ebenfalls brasilianische Karikaturistin Laerte Coutinho ist eine der prominentesten Comickünstlerinnen des Landes. Bekannt ist Laerte vor allem für ihre Beiträge zum brasilianischen Underground-Comic, insbesondere für die Comicstrip-Reihen Piratas do Tietê (ab 1983) und Los 3 Amigos – Sexo, Drogas y Guacamoles (ab 1987); bei letzterer handelte es sich um ein  Kollaborationsprojekt mit den Karikaturisten Arnaldo Angeli, Glauco Villas Boas sowie später auch Adão Iturrusgarai. Im Jahr 2004 begann Laerte, die als biologischer Mann geboren wurde, Cross-Dressing zu praktizieren, eine Lebensweise, die sie nach dem Unfalltod ihres Sohnes Diogo zunächst unterbrach und erst 2009 wieder aufnahm. Hierbei stellte sie jedoch schnell fest:

Não sou crossdresser. Quando comecei meu movimento pessoal, juntei-me a um grupo de pessoas que adotavam essa identidade, mas minha experiência me levou a entendê-la como uma forma específica de transgeneridade, assim como a travestilidade, a transsexualidade e as inúmeras formas de expressão e comportamento não-binário. Sou uma pessoa transgénero. (sic; in Sant’Anna 2015)7

Laerte ließ sich auf diesem Weg von einer ihrer Figuren begleiten, ›Hugo‹ bzw. ›Muriel‹.8 In Übereinstimmung mit Laertes eigenem Selbstfindungsprozess und Selbsterleben beginnt Hugo Baracchini sich in den zunächst noch gleichnamigen Comicstrips von Zeit zu Zeit ›als Frau‹ zu kleiden und für diese Gelegenheiten den Namen Muriel anzunehmen, bis er merkt, dass ›Muriel‹ keine temporär wählbare ›Rolle‹ ist, die mit Kleidung und Make-up an- und abgelegt werden kann: Hugo ist Muriel. Dementsprechend wird der Strip seit 2009 nicht mehr unter dem Titel Hugo Baracchini veröffentlicht, sondern unter Muriel total, »komplett/ganz Muriel«. Darin thematisiert Laerte, die selbst ihren Geburtsvornamen weiterführt, verschiedene Formen der Diskriminierung, der sich ihr Alter Ego Muriel ausgesetzt sieht. In dem Strip »Aceitação«, »Akzeptanz« (Abb. 4) sehen wir Muriel in den ersten beiden Panels hochzufrieden: Sie wird auf der Straße freundlich von ihren Nachbar_innen gegrüßt, die sie mit ihrem ›neuen‹ Namen Muriel ansprechen.

Abb. 4: Laerte: Muriel total, »Aceitação«.

Im zweiten Panel seufzt sie erleichtert: »Nada como finalmente ser aceita...«, »Es geht nichts darüber, endlich akzeptiert zu werden...«. Dieses Gefühl der Erleichterung ist allerdings nicht von Dauer, die ›Akzeptanz‹ trügerisch bzw. geheuchelt: Aus dem bildlichen Off schleudert eine unsichtbar bleibende Person Muriel eine Tomate ins Gesicht, so dass sie das Gleichgewicht verliert und zu Boden stürzt. Entgegengeworfen wird ihr außerdem die homo- und transphobe Beleidigung »Bichona!«,9 die sich durch Schriftgröße und -farbe (tomatenrot) von den anderen Sprechblasen absetzt. Dass die Beleidigung bzw. explizite Aggression hier aus dem Off heraus geschieht, ist wichtig: Muriel schmerzt diese nämlich weniger als die darauf folgende Reaktion der Nachbar_innen im letzten Panel, die sie vorher so freundlich gegrüßt hatten. Niemand eilt der auf dem Boden liegenden (und ungläubig schauenden) Muriel zur Hilfe, vielmehr üben sich dieselben Personen des ersten Panels nun im victim blaming und verwenden darüber hinaus nun doch wieder den abgelegten Männernamen. Der scheinbar wohlwollende Blick im ersten Panel wird zum verurteilenden Blick im vierten Panel: »Aber echt, Hugo? – Du hast auch provoziert, Hugo. – Zieht man sich denn so an, Hugo?«. Die cartoonhafte visuelle Sprache der Künstlerin kontrastiert hier besonders scharf mit der dargestellten Szene, die alles andere als komisch ist.

Der Comicstrip Muriel total wird für Laerte zum Verhandlungsraum erlebter Diskriminierungen, aber auch zum (in diesem Fall durchaus humoristischen) Raum der (körperlichen) Selbstentdeckung. Hierbei fordert sie nicht nur heteronormative Denkmuster heterosexueller Cis-Menschen heraus, sondern ebenso bestehende Stereotypen in der LGBTIQ+-Community – (be)wertenden Blicken und Kategorisierungen ist Muriel nämlich auch dort ausgesetzt.

Abb. 5: Laerte: Muriel total, »Encontro«..

In dem Strip »Encontro«, »Begegnung« (Abb. 5) wird Muriel von einer anderen Figur beschuldigt, sie wäre zu einem »modelinho de mulher« geworden, würde also ein klischeehaftes Frauenbild verkörpern. Von der Wette im zweiten Panel, sie würde sich ganz sicher nicht mal mehr in eine Herrentoilette trauen, fühlt sich Muriel nun derart provoziert, dass sie diese sogleich wutgeladen aufsucht. Hier trifft sie auf eine andere Figur (die den Leser_innen bereits aus anderen Episoden bekannt ist), Estênio, der ihrem Blick begegnet, wodurch sich die aufgebrachte Muriel zusätzlich provoziert fühlt und ihn aggressiv anfährt: »Tá olhando o quê, cara?!«, »Was guckst Du, Alter?«. Wütend entblößt sie ihr ›männliches‹ Genital als »crachá« (»Ausweis«, »Plakette«), also als Zugangsberechtigung zum Männerklo. Wie Laerte hat sich auch Muriel keiner geschlechtsangleichenden Operation unterzogen, ein Thema, auf das sowohl in Muriel total als auch in der 2017 erschienenen Netflix-Dokumentation Laerte-se (Regie Lygia Barbosa / Eliane Brum, Brasilien) rekurriert wird. Die Reaktion von Estênio fällt allerdings anders aus als erwartet, denn die Figur stellt in Laertes Comicstrip eine Art Pendant zu Muriel dar. Estênio, deren abgelegter Name Verônica war, ist ein Transmann, der mit sehr ähnlichen Problemen und Vorurteilen zu kämpfen hat wie Muriel. In der hier dargestellten Szene wird Muriel also durch Estênio ein Spiegel vorgehalten: Von Muriel als Cisgender-Mann gelesen, entblößt dieser nun seine Vulva und es kommt zu einem Moment der Wiedererkennung. Als Muriels Freund_innen nach ihr sehen, finden sie Muriel und Estênio ausgelassen und mit entblößten Genitalien tanzend, im Hintergrund ertönt Gilberto Gils »O Rock do Segurança«, ein Lied, in dem ebenfalls das Ablegen von ›Etiketten‹ thematisiert und zelebriert wird. Laerte, die als Comiczeichnerin bereits seit den achtziger Jahren etabliert und bekannt war und deren eigene Transition daher vor der Öffentlichkeit stattfand, eröffnet mit Muriel total (durchaus selbstkritisch) Einblicke in unterschiedliche Diskriminierungsmuster und -perspektiven, die das Denken in binären Strukturen nicht nur in heteronormativen Kontexten prägen. Diesem Denken (und seinen Blicken) setzt sie in ihren Comics, aber auch als öffentlich auftretende Person, ihre eigene Körperlichkeit entgegen, nicht ohne sich dabei verwundbar zu zeigen – vor allem aber mit großer Freude am eigenen Körper und am eigenen Sein.

Powerpaolas Virus Tropical: der antipatriarchale (Coming of Age-)Körper

In ihrer Graphic Memoir Virus Tropical (2011) erzählt die kolumbianisch-ecuadorianische Comiczeichnerin Powerpaola Schlüsselepisoden ihrer Kindheit und Jugend in Quito (Ecuador) und Cali (Kolumbien), ausgehend von dem Tag ihrer Zeugung bis zu ihrer ›Initiierung‹ als Künstlerin. Dabei behandelt sie typische coming of age-Themen wie die Abwesenheit einer Vaterfigur, die Bemühungen ihrer Mutter, die Familie allein finanziell über Wasser zu halten, die Anpassung an neue Umgebungen, die Unsicherheit in ihren ersten Beziehungen und sexuellen Begegnungen sowie schließlich die autonome Entscheidung, Künstlerin zu werden und sich von der eigenen Familie zu emanzipieren (vgl. Wrobel 2020, 25-31). Im Rahmen der hier angestellten Überlegungen möchte ich insbesondere auf zwei Momente bzw. Darstellungen in Virus Tropical eingehen: die Schwangerschaft ihrer Mutter und Paolas Geburt sowie den Beginn ihrer Pubertät.10

Paolas Vater Uriel ist ein ehemaliger katholischer Priester und hätte nach der Regel des Zölibats eigentlich weder heiraten noch Kinder bekommen dürfen. Hilda, ihre Mutter, hat sich nach der Geburt von Paolas älteren Schwestern Claudia und Patty sterilisieren lassen. Mit anderen Worten: Paolas schiere Existenz ist eigentlich völlig unwahrscheinlich und so sucht Hilda am Anfang ihrer Schwangerschaft auch nach anderen möglichen Ursachen für ihren körperlichen Zustand. Die vier – männlichen – Ärzte, die sie konsultiert, nachdem sie den wachsenden Bauch bemerkt hat, liefern verschiedene (mitunter belustigende) Erklärungen für die Schwellung: Da Hilda sterilisiert wurde, schließen sie eine Schwangerschaft kategorisch aus. Tatsächlich ist es diese Szene, aus der auch der Titel Virus Tropical hervorgeht, denn einer der Ärzte diagnostiziert Hilda mit einem »tropischen Virus«. Trotz der offensichtlichen Symptome der Verwandlung ihres eigenen Körpers – die Powerpaola grafisch in aller Deutlichkeit darstellt – akzeptiert Hilda die zum Teil absurden Diagnosen der Ärzte: »Señora de Gaviria, esto debe ser un virus tropical. Es imposible que usted esté embarazada. / – El doctor Bustamante está equivocado, es un virus ecuatorial. / – Es un embarazo psicológico. / – Señora de Gaviria, ¿sabe usted qué tiene? – No, doctor. – ¡Aire!« (Powerpaola, 9).11 Die Tatsache, dass sie der westlich-männlich geprägten ›Wissenschaft‹ – die aufgrund der Eileiterunterbindung ausschließt, dass sie schwanger sein könne – mehr vertraut als ihren eigenen Beobachtungen und körperlichen Symptomen (vgl. Gómez Gutiérrez, 92), wird weiter hervorgehoben, als Hilda nach mehreren Beratungen eine indigene Frau auf der Straße trifft, die ihr Mais verkauft (Abb. 6).

Abb. 6: Powerpaola: Virus Tropical, Hildas Schwangerschaft.

 

Die Frau, ebenfalls Mutter eines Kindes, liest Hildas körperlichen Zustand unvermittelt richtig: »Cacerita, was wird es, ein Junge oder ein Mädchen?« (vgl. Abb. 6) und Hilda antwortet mit einer der von den Ärzten gestellten Diagnosen, während sie den Rezipient_innen direkt ins Gesicht blickt: Luft« (hier im Sinne von »Blähungen«). Die Durchbrechung der vierten Wand und die hierdurch entstehende Einbeziehung der Leser_innen verstärkt den Eindruck der Ratlosigkeit Hildas angesichts der Entfremdung von ihrem eigenen Körper und betont auch den komischen Aspekt der Situation. Gleichzeitig finden Leser_innen ihre eigene (wahrscheinliche) Reaktion in der Gedankenblase (»?«) und im Gesichtsausdruck der indigenen Frau gespiegelt, die irritiert zur rechten Panelseite schaut, während Hilda uns anblickt. Powerpaolas kindlich-naiv anmutender, expressionistischer Zeichenstil unterstreicht Hildas Leichtgläubigkeit bei der Akzeptanz dieser ›Fremddiagnosen‹ kongenial (während er in anderen Szenen der subversiven Untergrabung der Autorität des Vaters dienlich ist). Sie akzeptiert die Tatsache, schwanger zu sein, erst, als sie nach der Begegnung mit der Frau einen weiteren Arzt konsultiert, der »gerade in Ecuador angekommen ist, nach seinem Doktorat in Mexiko« (er hat also im Ausland studiert, womit ihm zusätzliche Autorität zugesprochen wird). Dieser diagnostiziert nun endlich: »Señora, Sie sind im 5. Monat schwanger« (Powerpaola, 11). Felipe Gómez Gutiérrez beobachtet zu Recht die gegensätzliche Konfiguration des (vermeintlich männlichen, westlichen und autorisierten) ›medizinisch-technischen‹ Wissens – das hier an seine Grenzen stößt – und des (angeblich weiblichen, autochthonen und inoffiziellen) ›intuitiven‹ Wissens, während er die Tatsache betont, dass Paolas Mutter das männlich geprägte, ›medizinisch-technische‹ Wissenssystem derart verinnerlicht hat, dass sie ihr eigenes ›Körper-Gefühl‹ und Körpererleben ignoriert. Paolas Geburt gegen jede Wahrscheinlichkeit markiert auch eine Zäsur in den (patriarchalen) Familienstrukturen. Als Uriel von der (als unmöglich erachteten) dritten Schwangerschaft seiner Frau erfährt, wünscht er sich, dass er diesmal endlich Vater eines »hombrecito«, eines »kleines Mannes« (vgl. Powerpaola, 11) wird, ein Wunsch, der sich nicht erfüllt.

Abb. 7: Powerpaola: Virus Tropical, Paolas Geburt.

 

Es ist bezeichnend, dass nicht nur ein weiteres Mädchen geboren wird (s. Abb. 7), sondern Hilda Uriel zum ersten Mal widerspricht, als der Vater den Säugling nach einer Freundin, einer Nonne mit dem sehr frommen Namen María Pía, benennen will. Hilda antwortet ihm mit Entschlossenheit und einem Ausdruck der Irritation: »Nein, dieses Mal werde ich den Namen aussuchen, sie wird Paola heißen« (vgl. Abb. 7). Paolas Geburt wird auf diese Weise zu einem performativen Moment weiblicher Selbstbestimmung, wobei Powerpaola als Autorin den von der Mutter gegebenen Vornamen mit der Wahl ihres alliterativ-plosiven nom de plume noch weiter in Richtung Selbstermächtigung akzentuiert. Bereits in den Panels davor fällt zudem auf, dass die Neugeborene und ihre Mutter während und unmittelbar nach der Geburt onomatopoetisch fast identisch wiedergegebene Schreie (›¡WOAHHH!‹) ausstoßen, die einen solidarischen Bund zwischen Mutter und Tochter andeuten. Von dieser Szene an verliert die Figur des Vaters in Virus Tropical allmählich an Bedeutung und Präsenz. Als er ein paar Jahre später die Familie verlässt, muss Hilda sich und ihre drei Töchter allein finanzieren. Paola wächst von da an in einer Familie auf, die ausschließlich aus Frauen besteht.

Eine weitere Darstellung, in der der weibliche Körper und seine Veränderungen eine zentrale Rolle spielen, ist die splash page des achten Kapitels, in der Paolas einsetzende Pubertät und ihr Umzug von Quito nach Cali thematisiert werden (Abb. 8). Ausgerechnet am Tag ihrer Ankunft in Kolumbien bekommt die Protagonistin zum ersten Mal ihre Periode, ein Umstand, der hier als Leitmotiv der splash page aufgenommen wird, die sich aus einem komplexen intermedialen Dialog von Elementen der Hoch- und Populärkultur zusammensetzt. Die Zeichnung ist inspiriert von einem Holzschnitt aus der ersten französischen Ausgabe der lateinischen Übersetzung der Historien von Herodot aus der Zeit um 1510, der die Entführung der jungen Frauen von Argos durch die Phönizier zeigt (Abb. 9). Das Schiff in der Darstellung trägt eine übergroße Io, nach Herodot Tochter des Königs Inachos und hier mit einem Phönix, einem Symbol der zyklischen Regeneration und der Wiedergeburt, abgebildet, über die Wellen davon. In der visuellen Einleitung für das Kapitel »La adolescencia« in Virus Tropical wird die Protagonistin Paola von den Strömen ihrer eigenen Menstruation getragen, wobei hier einerseits auf das Einsetzen ihrer Pubertät (sie trägt eine Blüte auf ihrem T-Shirt) sowie andererseits, aber dazu symbolisch in Beziehung stehend, auf den Umzug von Ecuador nach Kolumbien rekurriert wird: Veränderungen stehen an. In ihren Händen hält sie eine ihrer Puppen, mit denen sie in einem der vorhergehenden Kapitel gespielt hatte. Hier wird – wie auch von Gómez Gutiérrez (2015, 97) beobachtet – die ikonische Szene zitiert, in der King Kong Ann Darrow in seiner Hand hält, während er von Hubschraubern umkreist wird. Während Paola zwei andere Puppen (›Ken‹ und eine ALF-Figur) ins Meer fallen lässt, blickt sie auf die ›gefangene‹ Barbie hinab, die Ann Darrow nicht nur physisch (zumindest andeutungsweise) ähnelt, sondern auch ähnlich ängstlich zu Paola aufschaut.

          

Abb. 8: Powerpaola: Virus Tropical, »La adolescencia«. / Abb. 9: Holzschnitt aus der ersten französischen Ausgabe der lateinischen Übersetzung von Herodots Historien.12

Die Bezüge auf King Kong und ALF können mit der ›Monstrosität‹ oder auch Fremdheit in Zusammenhang gebracht werden, mit der der eigene Körper während der pubertätsbedingten Veränderungen wahrgenommen wird. Im Bildhintergrund sind die kolumbianische Stadt Cali sowie ein ausbrechender Vulkan zu sehen, ebenfalls ein Symbol für den Beginn der Adoleszenz, turbulenter Gefühlswelten und der sexuellen Aktivität. Diese spezifische Darstellung erscheint mir aus zwei Gründen in besonderer Weise repräsentativ für die gegenwärtige (lateinamerikanische) Comicproduktion von Frauen: Erstens erzeugt die Autorin hier eine produktive Spannung, die aus dem komplexen intermedialen Dialog zwischen ›Hochkultur‹ (Herodot) und ›Populärkultur‹ (King Kong, ALF), aber auch dem ›Globalen‹ und dem ›Lokalen‹ resultiert. Sowohl mit der Referenz auf den Raub der jungen Frauen von Argos durch die Phönizier als auch mit dem Bezug auf die King Kong / Ann Darrow-Szene verkehrt sie hier Momente, in denen Frauenfiguren (passive) Opfer einer Entführung sind, in ihr Gegenteil: Paola, die hier wie Io als übergroße und gleichzeitig monströse Figur dargestellt wird, dient der erste Menstruationsfluss als (etwas turbulentes) Transportmittel, um nicht nur nach Cali, sondern überdies in ein neues (Lebens)kapitel zu gelangen. In diesem Sinne steht die Darstellung im Dialog mit der Szene ihrer Geburt (Abb. 7), wenn der Fluss mütterlichen Fruchtwassers sie zur Welt bringt. Genau dies ist auch die zweite Beobachtung: Weibliche Körperflüssigkeiten, insbesondere Menstruationsblut, werden häufig zu einem Leitmotiv in grafischen Narrativen und teilweise mit der Zeichentusche selbst analogisiert; die tinta(s) femenina(s) (Wrobel 2020) in autobiografischen oder autofiktionalen Comics laufen in einem widerständigen Be-Zeichnen und Be-Schreiben der eigenen Körperlichkeit zusammen und erteilen den Versuchen von externen Zu-Schreibungen eine Absage.13

Rück-Blicke

Bei den drei besprochenen Beispielen – den Comicstrips und Karikaturen von Pagu und Laerte sowie Powerpaolas Graphic Memoir – handelt es sich um Werke, die autobiografische Komponenten aufweisen und in denen Be-Zeichnungen, Selbst-Zeichnungen und Selbst-Bezeichnungen eine wesentliche Rolle spielen. Powerpaolas Avatar ›Paola‹ fordert durch ihre schiere Existenz gesellschaftliche Normen und hegemoniale Wissenssysteme heraus, ihre Geburt und die Namensgebung durch die Mutter werden zudem zu einer Zäsur für die bis dahin patriarchalen Familienstrukturen. Die beginnende Emanzipation von der Familie wird durch die einsetzende Pubertät und, damit symbolisch in Verbindung stehend, den Umzug nach Cali eingeleitet, wobei die hier intermedial zitierten Motive zwischen high und popular culture, der Raub der Io und die Entführung Ann Darrows, in ihr Gegenteil verkehrt werden: Paola tritt die Reise in das neue (Lebens)kapitel getragen von ihrer eigenen Blutung und Leiblichkeit an. Auch Laerte erteilt den Versuchen externer Lenkung und Zu-Schreibungen eine Absage. Sie setzt ihre cartoonhafte visuelle Sprache, die sich durch Überspitzungen und Überzeichnungen charakterisiert, be- bzw. abwertenden Blicken aus unterschiedlichen Richtungen entgegen, die sie und ihren Körper auf die eine oder andere Weise einordnen wollen. Bei ihrer eigenen Transition steht Laerte die Alter Ego-Figur ›Muriel‹ zur Seite, wobei beide, Künstlerin und Protagonistin, durchaus unterschiedliche Wege gehen: Laerte behält ihren Geburtsvornamen – gleichzeitig ihr etablierter Künstlerinnenname – beispielsweise bei, problematisiert durch ›Muriel‹ aber diskriminierende Verhaltensweisen wie das deadnaming. Pagu wiederum tritt mit ihren Comicstrips und ihrer Alter Ego-Figur ›kabelluda‹ aus den frühen 1930er Jahren wie Powerpaola mit hegemonialen (in dem Fall christlichen) Bild- und Textkulturen in einen intermedialen Dialog und satirischen Disput, wobei sie eine aktivere politische Beteiligung von Frauen einfordert. Zudem bricht sie mit der Darstellung einer Zwangsabtreibung, die an Kabelluda vorgenommen wird, ein gesellschaftliches Tabu und klagt die moralistisch-bürgerliche Geisteshaltung der damaligen Zeit an. Die ›weiße Seite‹ füllt sich bei Pagu, Laerte und Powerpaola mit Formen einer visuellen ›Aneignung‹ (bzw. ›Rückeroberung‹) des Körper(-Kontinent)diskurses. Dem (zum Teil auch von Frauen internalisierten) male gaze als kolonialem Blick, der die ›Welt‹ nach vorgeformten Mustern absucht bzw. das, was er auffängt, in diese Muster (und damit in das eigene Wissenssystem) einordnen will, werden in allen drei Beispielen wehrhafte und auf unterschiedliche Weise widerständige Körper und Körperbilder entgegengesetzt.

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Bibliografie

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  • Wrobel, Jasmin: Tinta(s) femenina(s): la recuperación del cuerpo en a narrativa española y latinoamericana. In: Cuerpos en oposición, cuerpos en composición: representaciones de corporalidad en la literatura y cultura hispánicas actuales. Hg. v. Berit Callsen und Angelika Groß. Madrid: Iberoamericana / Frankfurt am Main: Vervuert, 2020, S. 17–44.

Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: Theodor Galle nach Jan van der Straet: America, pl. 1, aus der Serie Nova Reperta. Um 1591. <https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Theodor_Galle_after_Jan_van_der_Straet,_America_-_pl.1,_c._1580-1590,_NGA_48742.jpg>. Letzter Zugriff am 19.08.2020.
  • Abb. 2: Patrícia Rehder Galvão [Pagu]: malakabeça fanika kabelluda. In: O Homem do Povo, 1931, Nr. 4, S. 6.
  • Abb. 3: Patrícia Rehder Galvão [Pagu]: malakabeça fanika kabelluda. In: O Homem do Povo, 1931, Nr. 6, S. 1.
  • Abb. 4: Laerte: Muriel total, Aceitação. In: Folha de São Paulo, 23.09.2010. <http://murieltotal.zip.net/arch2010-09-19_2010-09-25.html>. Letzter Zugriff am 19.08.2020.
  • Abb. 5: Laerte: Muriel total, Encontro. In: Folha de São Paulo, 16.07.2014. <http://murieltotal.zip.net/arch2014-07-13_2014-07-19.html>. Letzter Zugriff am 19.08.2020.
  • Abb. 6: Powerpaola: Virus Tropical. Barcelona: Mondadori 2013 [2011], S. 10.
  • Abb. 7: Powerpaola: Virus Tropical. Barcelona: Mondadori 2013 [2011], S. 14.
  • Abb. 8: Powerpaola: Virus Tropical. Barcelona: Mondadori 2013 [2011], S. 91.
  • Abb. 9: Holzschnitt aus der ersten französischen Ausgabe der ersten lateinischen Übersetzung von Herodots Historien: Herodoti Halicarnassei Thurii Historie parentis memoratissimi Nove Muse a Laurentino Valla tralate cu Prenotamentis & additionibus non antea Impressis: nec non indice & productissimo & facilimo. Paris: Joanne Parvo 1510. https://camillesourget.com/en-607-rare-books-first-edition-precious-books-herodotus-herodote-herodoti-halicarnassei-thurii-historie-parentis--the-first-french-edition-of-.html>. Letzter Zugriff am 19.08.2020.

 

1]   Vgl. hierzu u.a. Schmidt-Linsenhoff und Rabasa, 23-48.

  • 2]   »[ein] eroberndes Schreiben, [das] die Neue Welt als weiße (wilde) Seite benutzen wird, auf die der westliche Wille zu schreiben ist.« Es handelt sich bei allen Übersetzungen in dieser Untersuchung um solche der Verfasserin. Die Übersetzungen dienen hier primär der Verständlichkeit und sind in ihrem ästhetischen Wert dem Original nicht gleichzusetzen.
  • 3]   Hiermit beziehe ich mich ausdrücklich auf Personen, die sich selbst fortwährend oder auch zeitweilig als weiblich identifizieren. Hingewiesen sei an dieser Stelle auch auf die Problematik der topografischen Zuweisung: Besprochen werden in diesem Artikel Werke von Künstlerinnen aus Brasilien und Kolumbien/Ecuador, die selbstverständlich nicht als stellvertretend für den gesamten, sprachlich wie kulturell äußerst heterogenen Kontinent gelesen werden können. Die Auswahl der Künstlerinnen bedingt sich durch die Thematisierung von Körper-Diskursen in ihren Werken sowie meine subjektive Forschungsperspektive.
  • 4]   Darauf, dass gerade der Comic ein prädestiniertes Transportmittel ist, um binäre Oppositionen auch medial zu überwinden, hat u. a. Véronique Sina hingewiesen: »Mit dem Stigma der in-betweenness versehen, stellt der Comic eine grenzüberschreitende Form dar, die sich gängigen, auf hierarchischen Strukturen basierenden Klassifizierungen widersetzt, damit aber gleichzeitig auch das (produktive) Potenzial besitzt, als ›natürlich‹ geltende binäre Oppositionen – wie z.B. Natur/Kultur, Leiblichkeit/Geistigkeit oder Weiblichkeit/Männlichkeit – ins Wanken zu bringen« (Sina, 76).
  • 5]  ›Kabelluda‹ (›cabelo‹ = Haar) kann etwa mit ›viel Haar‹, ›haarig/stark behaart‹ wiedergegeben werden, im Kontext des Strips wird sich hier auf den Lockenkopf der Protagonistin bezogen. Auch bei ›malakabeça‹ handelt es sich um einen sprechenden Namen (›mau, má‹ = schlecht; cabeça = Kopf), der sich auf eine dümmliche oder auch ›verrückte‹ Person beziehen kann. Der Namen der Tante, ›fanika‹, leitet sich wahrscheinlich von ›fanico‹ her, ›Ohnmacht‹; hierfür spricht die hilflose Passivität der Tante in einigen der Darstellungen. Sowohl Maria de Lourdes Eleutério als auch Romilda Costa Motta weisen darauf hin, dass die Konstellation um Onkel, Tante und Nichte auch auf das Liebesdreieck zwischen dem Schriftsteller Oswald de Andrade, der Malerin Tarsila do Amaral und Pagu verweise (Eleutério, 186; Costa Motta, 9), eine Interpretation, die sich gut begründen lässt, für das Argument der vorliegenden Untersuchung aber keine wesentliche Rolle spielt.
  • 6]   Im Rahmen dieses Beitrags kann nicht ausführlicher auf Pagus politische Aktivitäten eingegangen werden; es sei an dieser Stelle aber erwähnt, dass sie sich nach ihrer letzten, langen Haftstrafe enttäuscht von der Kommunistischen Partei lossagte (vgl. hierzu u. a. Mertin und Eleutério).
  • 7]   »Ich bin keine Cross-Dresserin. Als ich meine persönliche Reise begann, habe ich mich einer Gruppe von Personen angeschlossen, die diese Identität für sich annahm, aber meine Erfahrung brachte mich dazu, diese als eine spezifische Form von Transgender zu verstehen, wie die des Transvestitismus, die der Transsexualität und der unzähligen weiteren nichtbinären Ausdrucks- und Verhaltensformen. Ich bin eine Transgender-Person.«
  • 8]   Für eine ausführlichere Betrachtung von Laertes künstlerischen und intermedialen Auseinandersetzungen mit der eigenen Transition vgl. Scholz/Wrobel.
  • 9]   Das Wort ›bicho‹ bezeichnet im Portugiesischen eigentlich ein kleines Tier; die Kombination aus Augmentativ und Feminisierung bei der Wortbildung hat in der Form ›bichona‹ eine klar despektierliche Wirkung.
  • 10] An dieser Stelle sei darauf verwiesen, dass Virus Tropical 2017 unter der Regie von Santiago Caicedo und mit einem Drehbuch von Powerpaola und Enrique Lozano verfilmt wurde. Der Film wurde 2018 auf der Berlinale in der Sektion Generation 14+ uraufgeführt.
  • 11] »Frau Gaviria, das muss ein tropisches Virus sein. Es ist unmöglich, dass Sie schwanger sind. / – Doktor Bustamante liegt falsch, es ist ein äquatoriales Virus. / – Es ist eine Scheinschwangerschaft. / – Frau Gaviria, wissen Sie, was Sie haben? – Nein, Herr Doktor. – Blähungen!«
  • 12] Für diese Referenz danke ich Paola Gaviria sowie meiner ehemaligen Studentin Oxana Dubova, die die Autorin im Rahmen des von mir unterrichteten Hauptseminars »Comics und Graphic Novel in Brasilien und Hispanoamerika« interviewte (2015, Freie Universität Berlin). Vgl. Wrobel 2020, 29–30.
  • 13] Hierin kann nicht zuletzt eine ästhetische Rückbeziehung auf die Autorinnen der nordamerikanischen (Post-)Underground Comix gesehen werden: Die besprochene splash page tritt ganz offensichtlich auch in Dialog mit Julie Doucets Dirty Plotte-Comic »Heavy Flow« (Nachdruck 1993 in Lève ta jambe mon poisson est mort!, 1993). Zu der Bedeutung von Autorinnen wie Doucet, Aline Kominsky oder Phoebe Gloeckner insbesondere für die Chilenin Marcela Trujillo (›Maliki‹) und Powerpaola vgl. Merino, 33–36.