»Sarah, Sarah, come out of the shadows«

The Book of Sarah rezensiert von Kalina Kupczynska

Auf alten jüdischen Friedhöfen findet man an den Grabsteinen das Symbol des Buches, oft sogar reihenweise – in Stein gemeißelte Bücherregale zieren allerdings nur die Grabsteine männlicher Mitglieder der jüdischen Glaubensgemeinden. Das für Frauen vorgesehene Symbol ist traditionellerweise der Kerzenständer, der das Ritual der Anzündung von Sabbatkerzen evoziert. In Sarah Lightmans Graphic Memoir The Book of Sarah werden die Sabbatkerzen nur einmal angezündet, stattdessen bilden Bücherrücken, Cover, aufgeschlagene Bücher ein visuelles Leitmotiv.

Dieses ist als ein Programm zu lesen, mit dem die Graphic Memoir anfängt: Da es in der Tora zwar das Buch Esther und das Buch Ruth, aber kein Buch der Matriarchin Sarah, der Frau des Abraham, gibt, kreiert nun die britische Comickünstlerin eines, das zu einer Brücke zwischen ihrer eigenen Lebensgeschichte und der jüdischen Tradition wird. Diese Brücke hat ein feministisches Fundament, das Lightman im Lauf ihres hier erzählten Lebens u. a. mit Hilfe von Büchern errichtet hat, Beschäftigung mit Büchern bedeutet für die Autobiografin eine Konfrontation mit der zugleich als einengend und erkenntnisfördernd empfundenen Tradition des Tora-Studiums wie auch allgemeiner des Vertrauens auf die Botschaft der Schrift. Dieser Tradition setzt Sarah Lightman ein individuelles visuelles Narrativ entgegen, wohl wissend, dass das Bild im Judaismus eine niedrigeren epistemischen Wert besitzt. 

The Book of Sarah ist im Aufbau an die Tora angelehnt, was man an den Kapiteltiteln – Genesis, Exodus, Bamidbar, Numbers, Leviticus, Harry’s Genesis, Revelations, Apocrypha – erkennt. Es erzählt die wichtigsten Lebensetappen der Autorin in chronologischer Reihenfolge, allerdings mit Vorblenden, Einschüben und Lücken, die den langjährigen Prozess der Aufzeichnung offenbaren. Im Alter von zehn Jahren bekam Lightman ein Notizbuch und fing an, ein Tagebuch zu schreiben, nur dort konnte sie artikulieren, was in ihr vorging; in der Familie sprach man nicht über Gefühle. Mit 22 machte Sarah ihr Diplom an der Slade School of Art, ihre Abschlussarbeit war die Anfertigung einer eigenen Tora-Rolle, die ihre Lebensgeschichte darstellte (Abb. 1, 23) – einige Zeichnungen für The Book of Sarah sind schon damals entstanden, andere später; eine Art Zeitklammer suggerieren die wenigen Ölbilder und Aquarellen am Anfang und am Ende des Buches.

Abb. 1: Die eigene Tora-Rolle, »a strong start to a book I

didn’t know how to end«.

Am changierenden Stil der Zeichnungen in The Book of Sarah erkennt man Zeitsprünge, Selbstporträts markieren das Vergehen der Zeit, wo der Text nur vage die zeitliche Orientierung angibt. Text und Bild, wenn auch klar aufeinander bezogen, bleiben getrennt, Panels und Sprechblasen sind nicht zu finden. Den Bleistiftzeichnungen, deren zuweilen skizzenhafte, zuweilen äußert elaborierte schroffe Materialität das Buch dominiert, kommt eine starke narrative Rolle zu – sie bezeugen Etappen in Sarahs künstlerischer Entwicklung, markieren die Ich-Perspektive auf Verwandte, Bücher, Orte, sie selbst. Die handgeschriebenen Reflexionen in Ich-Form bezeugen die Suche nach Selbsterkenntnis, individualisiert wird diese allerdings erst durch die Spannung, die sich durch den Bezug auf Zeichnungen ergibt.  Als Genrezuschreibung ist ›Graphic Memoir‹ naheliegend, vor allem wegen Lightmans Rekursen auf die Praxis der Tagebuchaufzeichnung. Mit seiner schonungslosen Introspektion – intime Ängste, Sehnsüchte, Selbstzweifel sind integraler Teil der Narration – schreibt sich The Book of Sarah in den autobiografischen Strang des confessional writing ein.

Lightmans Buch ist die Geschichte einer fortgesetzten Flucht nach vorne, einer Flucht, die sehr individuell und zugleich in das Familiennarrativ eingebunden ist. Sarahs Urgroßeltern väterlicherseits sind vor dem Zweiten Weltkrieg auf der Flucht aus Litauen nach New York in Liverpool gestrandet; wenn sie selbst Jahrzehnte später in New York ankommt, sieht sie die Stadt als einen Ort, an dem sie hätte aufwachsen und leben sollen. Als Teenagerin ist sie häufiger und willkommener Gast im Londoner jüdischen Viertel Golders Green, was aber mit dem Wegziehen der Freund_innen plötzlich aufhört und sich wie ein Versagen anfühlt. Eine Beziehung, die sich unerwartet während eines Besuchs in New York anbahnt und ihr als ein Wink des Schicksals erscheint, zerbröselt und scheitert an dem Gefühl, mit sich selbst nicht klar zu kommen. Die Ursache dafür sieht sie in der (zu) starken Verankerung im Elternhaus. Das Nicht-Wegkommen-Können von Zuhause interpretiert Sarah als eine Familientradition bzw. einen Familienfluch, an dem bereits ihre Eltern gelitten haben. Anders als diese findet Sarah einen Halt in der Kunst – ihre zentrale Inspirationsquelle sind life writing und life painting der jüdischen Künstlerin Charlotte Salomon und ihr expressionistisch geprägtes autobiografisches Buch Leben? Oder Theater?. Wie bei Salomon führt auch bei Lightman die Herausforderung, dem Gesehenen, Erlebten, Gelesenen Ausdruck zu verleihen, zur Suche nach Motiven und Stilen: Studien zu Szenen aus dem Neuen Testament markieren diese Suche genauso wie kubistische Skizzen der New Yorker Architektur. Neben der Kunst sind es die Bücher, die Stationen auf Sarahs Weg zur eigenen Identität markieren. Sie deuten langjährige Faszinationen an, wie die illustrierte Geschichte von New York und Studien über Frauen und Judaismus, aber auch gewisse Lebensphasen (die Kinderbücher ihres Sohnes Harry), und konkrete mentale Zustände, wie die The Female Malady: Women, Madness and English Culture, 1830-1980 von Elaine Showalter (1985) oder The Tears of Things. Melancholy and Physical Objects von Peter Schwenger (2005).

»Things and spaces speak for me«, schreibt das autobiografische Ich an einer Stelle, zu einer Zeichnung, die das Cover von Schwengers The Tears of Things zeigt. Der Satz beschreibt Lightmans Vorgehensweise – die Aneinanderreihung von gezeichneten Dingen und Orten ähnelt einem Katalog oder einem Album; es ist eine statische und melancholische Art, sich einer Wahrheit über sich selbst zu nähern, jegliche Lebendigkeit wird in den Bildern vergeblich gesucht, sie verharren in der Versenkung, in der sie vom Ich betrachtet und festgehalten wurden. Hinzukommt, dass die gezeichneten Orte meistens menschenleer sind und die Gegenstände für sich stehen und so Stimmungen auf eine kondensierte Art vermitteln (Abb. 2, 138). Der Blick der Betrachter_innen bleibt länger bei seriellen Kompositionen – etwa bei einer Doppelseite mit Sarahs Selbstporträts, die eine beunruhigende Erstarrung ausdrücken. Einen wiederkehrenden visuellen Code entdeckt man gegen Ende des Buches in den Kapiteln Numbers, Leviticus und Harry’s Genesis – zu sehen ist eine Reihe von halbvollen Gläsern. Aufgrund der Platzierung im konkreten Abschnitt der Lebensgeschichte verweist der Code auf so unterschiedliche Momente wie Sarahs Suche nach einem Freund, die Schwangerschaft, die Zeit kurz nach Harrys Geburt, und lässt sie dennoch als ähnlich erscheinen. Die Wiederholung des gleichen Arrangements deutet das Verharren in einem Zustand der Ambivalenz an – jeder der Momente wird zugleich als beglückend und bedrückend empfunden. Ein Abrunden der Empfindungen zu einer Eindeutigkeit, zur klaren Glück/Unglück-Polarität findet bis zu den letzten Seiten des Buches nicht statt. Die Aufforderung am Ende der Memoir, »Sarah, Sarah, come out of the shadows«, erinnert daran, dass die Auseinandersetzung mit sich selbst fortdauert, die Schatten der früheren Ichs sind lang.

Abb. 2: Stimmungen, Ahnungen, Emotionen sammeln sich

in Objekten.

Pnina Rosenberg beschrieb Lightmans Zeichnungen aus der Family-Serie (entstanden zwischen 1996 und 2012), die auch in dieser Graphic Memoir teilweise integriert sind, als einen Beitrag zum jüdischen Postmemory-Storytelling (Lightman 2014, 51ff). So sehr The Book of Sarah in der seit der Shoah unausweichlich gewordenen jüdischen Tradition des Nachtrauerns verankert ist, auch durch die Familiengeschichte der Autorin, sollte dieser Aspekt die Mehrdimensionalität von Lightmans life writing und life drawing nicht einschränken. The Book of Sarah lässt sich thematisch in der Comic-Autobiografik jüdischer Autorinnen verorten, die Gegenstand des von Lightman herausgegebenen Buches Graphic Details. Jewish Women’s Confessional Comics in Essays and Interviews (2014) sind. Bezeichnend ist in ihrer Herangehensweise die latente Spannung zwischen der Annäherung an die jüdische Tradition des Tora-Studiums und der Distanzierung von dieser als patriarchal empfundenen Überlieferung, sowie zwischen der Akzeptanz der jüdischen Gebundenheit an die Familie und der Ablehnung derselben als einer Hemmung. In der Signalisierung der Spannungen zeichnet sich Lightmans komplexes Bekenntnis zum Feminismus ab.

Zugleich teilt die britische Autorin die Sensibilität für das Potential des hybriden Mediums Comic zum Erzählen mentaler Zustände, mit solchen Comic-Autobiografinnen wie Dominique Goblet, Birgit Weyhe oder Regina Hofer; diese Sensibilität lässt The Book of Sarah neben Goblets Faire semblant c’est mentir oder Weyhes Ich weiss situieren.

 

The Book of Sarah
Sarah Lightman
Myriad Editions: London, 2019
240 S., 19,99 GBP
ISBN 978-1-908434-51-7