Dr. Manhattan und die Urhorde

Utopische Sehnsucht nach Angst. Von Morus’ Utopia zu Moores Watchmen rezensiert von Zara Zerbe

Überall Uhren und ein Superhelden-Traum in Blau: Das vielschichtige Comicwerk von Alan Moore und Dave Gibbons offenbart bei jeder erneuten Lektüre Details, die man beim letzten Lesen gar nicht bemerkt hat. Entsprechend hoch ist die Anzahl seiner Deutungsmöglichkeiten. Doch muss es in den 2010er-Jahren immer noch zwingend eine psychoanalytische Lesart sein?

 

Alan Moores Watchmen (1986/87) hat es als einziger Comic in die TIMES-Auswahl der 100 besten zwischen 1923 und 2005 erschienenen englischsprachigen Romane geschafft. Mit seiner komplexe Erzählweise und Verweisstruktur sowie seiner impliziten Moralphilosophie ist der Text eine weitläufige Spielwiese, auf der es für Philolog_innen verschiedenster Disziplinen und Denkschulen etwas zu entdecken gibt. So auch für den Literaturwissenschaftler Hans Kruschwitz. In seiner mit 51 Seiten recht handlichen Monographie Utopische Sehnsucht nach Angst (2017) stellt er einen Vergleich zwischen Thomas Morus' Utopia (1516) und Moores Comic-Bestseller her und erörtert auf dessen Basis die moralischen und religiösen Vorstellungen, die den jeweiligen Werken zugrunde liegen. Die entscheidende Parallele zwischen Utopia und Watchmen ist laut Kruschwitz, dass in beiden Texten eine perfekte Welt weniger auf Vernunft denn auf Angst basiert. Während die große Angst der Utopier die vor einem strafenden Gott sei und ihr vernunftgeleitetes Verhalten allein aus dieser religiösen Vorstellung heraus resultiere, sei die (unbestimmte) Angst (seiner Meinung nach) vor Aliens – oder einer Eskalation des kalten Krieges. Der Autor sieht die Angst, die das Verhalten der Bevölkerung in beiden Texten bestimmt, vor allem auf struktureller Ebene. Dies begründet er anhand der Überlegungen, die Sigmund Freud in der Essaysammlung Totem und Tabu (1912) anstellt, deren Untertitel Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker sich im 21. Jahrhundert mehr als unangenehm liest. Freud beschreibt darin die Angst vor einem ›Urvater‹, der zunächst als Anführer der »Urhorde« fungiert und der »alle Weibchen für sich behält« (Freud 2016a, 191). Er werde dafür gleichzeitig bewundert und gehasst und schließlich von der »Urhorde« zugrunde gerichtet. Über seinen Tod hinaus werde dieser ›Urvater‹ jedoch als Autorität anerkannt und finde als göttliche Instanz oder kulturelles ›Über-Ich‹ Eingang in den Wertekanon der jeweiligen Gesellschaft (Kruschwitz 2017, 4).

Wo ein psychoanalytischer Deutungsansatz auftaucht, kann die Mär von der allesbestimmenden Sexualität nicht weit sein. So setzt Kruschwitz die Watchmen mit Freuds ›Urvätern‹ gleich, die durch ihre vigilanten Eingriffe in ihre Umwelt sexuelle Erfüllung erfahren bzw. den Mangel an Möglichkeiten zur erotischen Selbstverwirklichung kompensieren (und später einen symbolischen Vatermord durch Dr. Manhattan erfahren). Gewiss spielt Sexualität oder auch Körperlichkeit im Allgemeinen in Watchmen eine unübersehbare Rolle. Das Problem dabei, diesen Aspekt ausgerechnet aus einem freudschen Blickwinkel zu betrachten, ist der ignorante Sexismus, der von dort unausweichlich mitschwingt. In Kruschwitz' Analyse werden ausschließlich die Motivationen und sexuellen (Nicht-)Erfahrungen, wegen derer die männlichen Charaktere sich dem Superheldentum zuwenden, thematisiert. Es spielt hierbei überhaupt keine Rolle, wie komplex, wie autonom die Figuren Sally und Laurie Juspeczyk angelegt sind oder ob auch ihr Superheldinnentum sexuell motiviert ist: Eine Denkschablone, die von einer alle »Weibchen« für sich beanspruchenden Anführerfigur ausgeht, lässt keinerlei Raum für derartige Überlegungen in Bezug auf weibliche Figuren. Dieser unzeitgemäßen Lesart ist ebenso geschuldet, dass der Autor Sally Juspeczyk alias Silk Spectre einzig zwei Funktionen bei den Minutemen zuerkennt. Zum einen sei sie der organisatorische Mittelpunkt der Gruppe und zum anderen ziehe sie ihre männlichen Mitstreiter »auch erotisch in den Bann« (Kruschwitz 2017, 15). Selbstredend ist Watchmen selbst schon kein feministisches Leuchtfeuer, aber Silk Spectre allein als Projektionsfläche für männliche Lust zu betrachten, greift angesichts der Tatsache, dass sie tatsächlich dasselbe tut wie die übrigen Minutemen – nämlich das Verbrechen bekämpfen – deutlich zu kurz. Daneben ist die Aussage, Juspeczyk habe durch ihre erotische Strahlkraft die Lust des Comedians ›geweckt‹ und er sei deswegen »über sie hergefallen« (Kruschwitz 2017,15), schlichtweg eine Verharmlosung sexualisierter Gewalt. Schließlich ist der Geschlechtsakt, den der Comedian ihr aufzwingt, alles andere als einvernehmlich.

Im Großen und Ganzen gelingt es Kruschwitz, den Comic nach diesem psychoanalytischen Denkansatz durchaus schlüssig auflösen. Eine zeitgemäße Interpretation dieses Jahrhundertwerks müsste jedoch dringend anders ausfallen. Sexismus und sexuelle Übergriffe als solche zu benennen sollte auch in Bezug auf fiktionale Werke im Bereich des Sagbaren liegen, zumal der Übergriff auf Juspeczyk Senior im Primärtext durchaus reflektiert wird. Genauso wäre es wünschenswert, auch die Aspekte weiblicher Figuren zur Kenntnis zu nehmen, die nicht allein an das Begehren der männlichen Figuren geknüpft sind – oder deren Fehlen in die Textanalyse einzubeziehen. Es empfiehlt sich, internalisierten Sexismus und Misogynie nicht auch noch durch den (unkritisch) ausgewählten theoretischen Ansatz zu perpetuieren. Vor allem, wenn es sich um Publikationen handelt, die nicht ausschließlich an Leser_innen mit akademischem Hintergrund gerichtet sind. Auf diesen Text, der in der Reihe Comiqheft vom Ch. A. Bachmann Verlag erschienen ist, trifft dies eindeutig zu: »Niedriger Preis, hohe Auflage und einfache Ausstattung machen neue und alte Studien, Essays, Pamphlete und vielleicht den einen oder anderen Comic einem breiten Publikum zugänglich«, heißt es auf der Verlagswebsite. Dieser Motivation dürfte allerdings der deutsch-englisch-französische Sprachmix der in die Syntax integrierten Zitate etwas entgegenlaufen. Darüber hinaus ist fraglich, ob sich für die Beobachtungen des Autors nicht auch die Theorien anderer Wissenschaftler_innen zu Rate hätten ziehen lassen. Schließlich ist Freud nicht der einzige Theoretiker, der den Zusammenhang zwischen Aufklärung und Barbarei erkannt hat, ein Aspekt, der in Kruschwitz' Analyse ebenfalls relevant ist. Auch Adorno und Horkheimer leisten dies – mit Bezug auf Freud, aber deutlich darüber hinausgehend – in der Dialektik der Aufklärung (1944). Darüber hinaus hat Michel Foucault bekanntlich einiges über den Zusammenhang zwischen Sexualität und Macht zu sagen, womit sich ebenso gut an das Spannungsfeld zwischen Sexualität und Superheldentum in Watchmen anknüpfen ließe. Mit etwas philologischem Geschick lassen sich sowohl Foucault als auch Horkheimer/Adorno einem breiten Publikum verständlich machen. Es ist alles eine Frage der Bereitschaft, dies auch tatsächlich zu leisten.

 

Utopische Sehnsucht nach Angst
Von Morus' Utopia zu Moores Watchmen
Hans Kruschwitz
Berlin: Christian A. Bachmann Verlag, 2017
51 S., 7,50 Euro
ISBN 979-3-941030-94-7