Journalistisches, historisches, faktuales Erzählen: Kein Unterschied?

Documentary Comics: Graphic Truth-Telling in a Skeptical Age rezensiert von Sándor Trippó

Über die vielschichtigen nicht-fiktionalen Erzählweisen der zeitgenössischen graphischen Literatur liegt bereits eine kaum überschaubare Fülle an Interpretationen vor. Nun plädiert Nina Mickwitz für eine übergreifende Analysekategorie und fügt dem comicanalytischen Vokabular den Begriff des ›dokumentarischen Comics‹ hinzu. Ist das wirklich sinnvoll?

Im letzten Jahrzehnt wurden (auch) in der deutschsprachigen Comicforschung mehrere Bezeichnungen für Comics lanciert, die (auto-)biographische Erfahrungen, oder historische und soziokulturelle Wirklichkeiten durch ihre experimentierfreudige Verflechtung von Text und Bild inszenieren. Häufig werden solche Erzählungen im Allgemeinen als non-fiction kategorisiert: Für die Lebens- und Leidensgeschichten hat sich der Begriff ›Graphic Memoir‹ durchgesetzt, während die gezeichneten Berichterstattungen meist unter ›Comic-Journalismus‹ subsumiert werden. Wenn es um vergangene Zeiten geht, so spricht man allgemein von ›Geschichtscomics‹, aber diesbezüglich stehen mehrere Taxonomien zur Verfügung, und solche Publikationen wie Simon Schwartz’ Drüben! oder Birgit Weyhes Madgermanes lassen sich je nach ihrem Authentizitätsanspruch (und je nach theoretischem Ansatz) u.a. in Geschichtsroman-Comics, historisierende Geschichts-Sachcomics oder Comic-Biografien unterteilen.

Mit ihrer Monographie, die 2016 als der erste Band in der Reihe Palgrave Studies in Comics and Graphic Novels erschienen ist, legt die britische Medienwissenschaftlerin Nina Mickwitz einen disziplinübergreifenden Ansatz für diese vielfältigen Erzählweisen vor und versucht Argumente dafür zu liefern, warum eine Gesamtbetrachtung unter der Kategorie des dokumentarischen Comics (documentary comic) sinnvoll wäre. Die Arbeit ist sowohl mediennarratologisch wie auch kulturwissenschaftlich ausgerichtet und stellt transmediale rezeptionsästhetische Strategien in den Mittelpunkt. Aus diesem Grund werden Dokumentarfilme, Fotos sowie nicht-fiktionale Comics als miteinander verwandte Spielarten des Dokumentarischen betrachtet. Unter dem Dokumentarischen wird dabei eine medienunabhängige Rezeptionsweise (mode of address) verstanden. Dokumentarische Erzählungen setzen sich Mickwitz zufolge mit dem komplexen Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Repräsentation auseinander. Ihre Gemeinsamkeit bestehe ferner darin, dass sie mit ihren Erzähl- und Darstellungsweisen vergleichbare Rezeptionshaltungen nahelegen. In diesem Sinne stellt die Autorin die Mediengebundenheit des Dokumentarischen infrage und untersucht, inwiefern Comics das Konzept des Dokumentarischen neu verhandeln.

Der Band umfasst sechs Kapitel und widmet sich ausschließlich englischsprachigen oder in englischer Übersetzung erschienenen Comics. Ein weiteres Auswahlkriterium für die Einzelanalysen war, dass nur Beispiele berücksichtigt wurden, die auf Erfahrungen aus erster Hand beruhen. Im ersten Kapitel gibt Mickwitz zunächst einen umfassenden Überblick über die theoretischen Ansätze und betont, dass nicht nur die spezifischen inszenatorischen Verfahren dafür sorgen, dass bestimmte Erzählungen als dokumentarisch wahrgenommen werden, sondern auch die Rezeptions- und Produktionskontexte eine performative Funktion haben. Medienspezifische Ausprägungen seien gleichzeitig nicht als Einschränkungen des dokumentarischen Erzählens anzusehen: Für Mickwitz kennzeichnen diese Unterschiede mögliche Variationen desselben Wahrnehmungsmodus.

Aufbauend auf diesen Überlegungen wird im zweiten Kapitel beleuchtet, wie das handgezeichnete Bild dokumentarische Objektivität und Authentizität als Konstrukte enthüllt. Mit exemplarischen Sequenzen aus Harvey Pekars American Splendor: Ordinary Life Is Pretty Complex Stuff (2004) und Emmanuel Guiberts The Photographer (2009) weist Mickwitz darauf hin, dass die mit dem Zeichnen verbundenen kulturellen Zuschreibungen den fingierten und unvollständigen Charakter von bildlichen Darstellungen preisgeben. Die Attribute, die das Zeichnen als einen reduktiven und zugleich subjektiven Prozess beschreiben, unterminieren weiterhin die Vorstellung, dass Foto- und Filmaufnahmen einen konstitutiven Bestandteil dokumentarischen Erzählens bilden. Die Subjektivität der visuellen Sprache des Comics wird deshalb keineswegs als Defizit, sondern als Möglichkeit gedeutet, die miteinander verzahnten Realismus- und Objektivitätsdiskurse des Dokumentarischen kritisch zu befragen.

Seitengestaltung als Ausdruck von inneren Konflikten bei Harvey Pekar. In: American Splendor: Ordinary Life Is Pretty Complex Stuff. 238. London: Titan Books, S. 45.

Da die Comics und Graphic Novels, die unter den von Mickwitz vorgeschlagenen Sammelbegriff fallen, nicht selten alternative Vergangenheitsbilder entwerfen und traumatische Erinnerungen in Form von Zeugenberichten präsentieren, werden im nächsten Kapitel die Zusammenhänge zwischen dem dokumentarischen Comic und dem kulturellen Gedächtnis erkundet. Die Auseinandersetzung mit Joe Saccos Comic-Reportage Footnotes in Gaza (2009) führt dabei zum Ergebnis, dass dieses Werk das Dokumentarische mit Hilfe von fragmentarischen Erinnerungen, die anders in Vergessenheit geraten wären, als eine Sammeltätigkeit in Szene setzt. Als Gegensatz zu den feindseligen Darstellungen der Massenmedien bieten diese Erinnerungsstücke Einblicke in individuelle Erlebniswelten. Ähnliche Aspekte des Erinnerns stehen auch in der Analyse des Comics Alan’s War (2008) von Emmanuel Guibert im Fokus. Hier widmet sich Mickwitz der elliptischen und brüchigen Bildsprache, mit der die Ambivalenzen der Erinnerung artikuliert werden.

Nachdem die archivarischen Funktionen des dokumentarischen Comics eingehend erläutert wurden, wendet sich die Autorin anschließend vier Graphic Novels zu, die sich als Reiseberichte einstufen lassen. Dieser Abschnitt fokussiert Craig Thompsons Carnet de Voyage (2004), Guy Delisles Pyongyang: A Journey in North Korea (2005) und Shenzen: A Travelogue in China (2006) sowie Majane Satrapis Persepolis: The Story of a Childhood and the Story of a Return (2008). Auch wenn diese Beispiele klar erkennen lassen, dass Comics das Genre der Reisebeschreibung durch ihre ironisch-selbstreflexiven Darstellungsverfahren erweitern, wird schlussendlich festgehalten, dass sie ebenso wie andere dokumentarische Unternehmungen die kulturellen Hegemonien nicht unbedingt hinterfragen und selbst unsichtbare kulturelle Wahrnehmungsmuster reproduzieren. Das fünfte Kapitel knüpft an diese Argumentation an und macht Sichtbarkeit zum zentralen Thema. Diesbezüglich konstatiert Mickwitz, dass der gezeichnete Charakter des Comics Sichtweisen hervorbringt, welche die dominanten Diskurse nicht zulassen. Josh Neufelds AD New Orleans: After the Deluge (2009) und David Beauchards Epileptic (2005) lenken daher die Aufmerksamkeit auf ungleiche Machtverhältnisse und werfen Fragen nach der individuellen Handlungsfähigkeit (agency) auf.

Im abschließenden Teil werden die Online-Initiativen Cartoon Movement und Symbolia als innovative Formen des dokumentarischen Erzählens im Comic diskutiert. Betont wird vor allem, dass diese Strips, welche aktuelle politische und gesellschaftliche Umstände reflektieren und sich durch neue Erzählweisen und Verbreitungsstrategien auszeichnen, implizit auf die Historizität dokumentarischer Erzählungen hindeuten. Diese webbasierten graphischen Darstellungsformen seien als Neuverhandlung der herkömmlichen Comicform anzusehen, indem diese dokumentarischen Berichte im virtuellen Raum die Grenzen zwischen Webcomics, Animation und Games verschwinden lassen. So argumentiert Mickwitz dafür, dass faktuale Erzählweisen nicht nur durch soziokulturelle Kontexte geprägt sind, sondern auch geschichtliche Dimensionen haben. In ihrem Fazit setzt die Autorin diesen Gedanken fort, indem sie Kategorisierungen auch als solche tradierten Rahmenbedingungen betrachtet, die in der Rezeption eine wesentliche Rolle spielen. Demzufolge heben Begriffe wie ›autobiographische Graphic Novels‹, ›Geschichtscomics‹ und ›Comic-Reportagen‹ zwar Kernaspekte und inhaltliche Differenzen hervor, verschleiern aber möglicherweise erzähl- und darstellungstechnische Ähnlichkeiten, die trotz der unterschiedlichen Produktions- und Rezeptionskontexte bestehen.

Insgesamt hinterlässt der Band einen positiven Eindruck. Die Frage, ob es sinnvoll ist, einen übergreifenden Begriff für nicht-fiktionale Erzählungen im Comic einzuführen, wird von Mickwitz eindeutig mit Ja beantwortet. Natürlich soll es nicht heißen, dass die bereits etablierten Gattungsbezeichnungen deshalb von der Hand zu weisen sind. Mit ihrem Beitrag zur transmedialen Narratologie erinnert Nina Mickwitz vielmehr daran, dass sich ein Blick über den Tellerrand auch in diesem Fall lohnt. Es kann neue Erkenntnisse liefern, wenn Formen des dokumentarischen Erzählens stärker in ihrem Verhältnis zueinander, d.h. als medial unterschiedlich verfasste, jedoch wegen ihrer Authentizitätsansprüche eng verflochtene Ausdrucksweisen derselben kulturellen Praxis betrachtet werden.

 

Documentary Comics
Graphic Truth-Telling in a Skeptical Age
Nina Mickwitz
Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2016
187 S., 85,59 US Dollar (Hardcover)
ISBN 978-1-137-50116-5