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Ernst Jandl und Nicolas Mahler: Variationen über ›das Gedicht‹

Monika Schmitz-Emans (Bochum)

Daß es Comics gibt, die Gedichte, und Gedichte, die Comics sind, ist spätestens mit Dino Buzzatis Comic-Poem Poema a fumetti (1969) demonstriert worden, einer längeren Comicerzählung, deren Textanteile an Gedichte oder Lieder erinnern. Dargestellt wird die Geschichte einer Figur namens Orfi, eines Rocksängers, auf der Suche nach seiner verlorenen Geliebten Eura, anknüpfend an einen wichtigen poetologischen Mythos, mit dem selbstbewußt die Poetizität des Comics signalisiert wird. Neben Buzzatis Comic-Poem gibt es seit der Zeit der jüngeren Avantgarden andere Indizien einer Annäherung zwischen dem Gedicht und dem Comic, etwa diverse Hybridformen aus Texten und Comicelementen, aber auch Gedichte, die sich sprechblasen nennen, wie in einem Lyrikbändchen Ernst Jandls (1979). Comicadaptationen von oder Comicparaphrasen zu lyrischen Texten sind in den letzten Jahrzehnten in größerer Zahl entstanden.
Die Affinität zwischen Comic und Gedicht ließe sich unterschiedlich akzentuieren. Genannt (aber nicht weiter erörtert) seien nur einige wichtige Aspekte: (a) Daß auch für Gedichte oft ihre visuelle Dimension konstitutiv ist, verbindet sie evidenterweise mit dem Comic als einer visuellen Darstellungsform. (b) Comics und Gedichte sind normalerweise durch einen gattungsspezifisch hohen Strukturierungsgrad charakterisiert; sie haben einen Rhythmus, eine Form, eine Architektur; die ›poetische Funktion‹ (Jakobson) der jeweiligen ›Botschaft‹ ist ausgeprägt. (c) Eine tragende Rolle spielen Wiederholung und Variation, wobei deren Effekte ein breites Spektrum zwischen der Akzentuierung tragischer Unausweichlichkeit (erinnert sei an Poes The Raven) und Komik abdecken. (d) Für Comics und Gedichte charakteristisch sind schließlich Strategien der Reduktion, der Komprimierung, der Konzentration; Knappheit, Prägnanz, Pointierung erscheinen als wichtige Merkmale des Comics, der meist mit wenig Textraum auskommen muß und will, und des Gedichts (dessen Name zwar irrigerweise, aber nicht ganz unsinnig gelegentlich vom Akt des ›Verdichtens‹ abgeleitet worden ist).

Die Frage nach Nicolas Mahlers Beziehung zum Gedicht stellt sich von verschiedenen Ausgangspunkten her. Seine Bildergeschichten kehren erstens ihre Strukturiertheit besonders deutlich hervor. Sie nutzen vor allem das Prinzip der Wiederholung besonders ostentativ. Vielfach erinnert ihr repetitiver bzw. zyklischer Aufbau an Reime und Refrains in Gedichten und Liedern, an strophische Formen, an Textzyklen. – Zweitens ist Mahler in beiden Bereichen produktiv bzw. verbindet diese Bereiche: Er hat Bändchen mit ›Gedichten‹ veröffentlicht, in denen sich neben Texten auch Bilder finden, die seinen Comics und Cartoons stilistisch nahestehen (dachbodenfund. gedichte und in der isolierzelle. gedichte). Der Band Längen und Kürzen, untertitelt Das schriftstellerische Gesamtwerk. Band 1 (2009), enthält Texte verschiedener (nicht immer eindeutig bestimmbarer) Gattungen sowie Comics. Der Band Gedichte enthält Zeichnungen mit jeweils prägnanten Ein-Wort-Titeln, deklariert also die Zeichnungen selbst zu ›Gedichten‹ oder doch zu konstitutiven Teilen von Gedichten, wenn denn das jeweilige Titelwort ebenfalls zum Gedicht selbst gehört.
Einen Anlaß zur Frage, wie Mahler es mit Gedichten hält, bietet drittens auch seine Affinität zu Literarischem, die sich in diversen Literaturcomics niedergeschlagen hat. Zu den in Comicform adaptierten oder re-inszenierten Texten gehören Romane (Der Mann ohne Eigenschaften, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Alte Meister), Stücke (Frankenstein in Sussex) sowie lockere Reminiszenzen an prominente Autoren (Kafkas Lachmaschine). Aber spielen Gedichte für Mahlers Arbeit eine Rolle? Und wenn ja, welche könnten es sein?
Sucht man nach einem Lyriker, bei dem sich ein Vergleich lohnt, so kommt man an Ernst Jandl kaum vorbei – einem Österreicher wie Musil, Thomas Bernhard, H. C. Artmann, Jelinek (und in gewissem Sinn auch der in der Donaumonarchie geborene und aufgewachsene Kafka), also die Autoren, mit denen Mahler sich bisher hauptsächlich auseinandergesetzt hat. Für den Vergleich mit Jandl sprechen verschiedene Dinge: dessen in verschiedensten Formen dokumentierte Tendenz zur Überschreitung von Gattungsgrenzen, zur Verbindung von Poesie mit visueller und mit musikalisch-akustischer Darstellung, sein Interesse am Populärkulturellen (siehe sprechblasen), sein Wiener Humor. Jandl ist ein Meister der Reduktion und der Pointe. Hier vor allem bestehen Parallelen zu Mahler. Daneben – und dies ist wohl mehr als eine bloße Äußerlichkeit – zeigt sich bei Jandl wie bei Mahler eine besondere Vorliebe für die Schreibmaschinenschrift Courier, die jeweils auch in gedruckten Büchern eingesetzt wird (bei Mahler in Längen und Kürzen, bei Jandl an vielen Stellen), gegen die Gepflogenheiten – aber als Hinweis auf die materiellen Arbeitsbedingungen des tippenden Dichters. Gedichte haben Gesichter – so eine Leitidee Jandls, die für einen Comiczeichner und Cartoonisten anschlußfähig erscheinen muß. Die folgenden Gegenüberstellungen von Arbeiten Mahlers und Jandls sollen nicht auf die These hinauslaufen, Mahler habe Jandl in analoger Weise rezipiert wie Musil, Proust, Bernhard und Artmann; es geht um Konvergenzen und Nachbarschaften.


Grundlagen: Alltagsleben, Alltagssprache

Für einen Dichter, der das Volkstümliche, Populärkulturelle, ja Triviale als Material- und Themenressource seiner Arbeit betrachtet, liegt es nahe, sich im Raum der Alltagssprache umzusehen. Viele Jandl’sche Texte beruhen auf dem Registrieren von Alltagskommunikation, auf dem Sammeln von Bruchstücken aus dem Klangteppich des täglichen Lebens. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung hat Jandl das Gedicht 16 Jahr zu einem Fundstück erklärt, das ihm der günstige Zufall in der Straßenbahn zugetragen habe; er habe es nur noch aufschreiben müssen, samt dem Lispeln der Frau, der er auf der Fahrt Richtung Südostbahnhof zugehört habe (»thechdthen jahr / thüdothdbahnhof / wath tholl / wath tholl / der machen«; Text und Kommentar in Jandl 1985b, 68). Man mag an der Fundstück-Geschichte zweifeln; der Text, poetisch überstrukturiert, wirkt eher wie eine Reihe von Variationen über klangliches Ausgangsmaterial als wie ein protokolliertes Stück alltäglicher Kommunikation. Aber auf letztere soll als Grundlage poetischen Sprechens offenbar verwiesen werden. Mittels einer stilisierten Alltagssprache halten viele Gedichte Jandls deren Benutzern einen Spiegel vor – einen verzerrenden, aber eben darum deutlichen. Hier redet jemand verdächtig gern und viel über andere.
Mahlers Texte loten die vielfältigen Facetten der Alltagskommunikation nicht auch nur annähernd in dem Maße aus wie die zahlreichen Gedichte Jandls. Aber auch er verortet die Szenen, Episoden und Figuren, die er zeichnet, ostentativ in Alltagswelten. Trivialitäten und Banalitäten, deren Witz, oft aber auch deren heimliche (oder offene) Aggressivität gehören zu seinen Spezialitäten. Auch hier wird gern geredet, genörgelt, getratscht.


Der Dialekt als poetische Ressource

Sich im Raum der Alltagssprache umzusehen, heißt für einen Wiener Dichter immer auch: einer dialektalen oder dialektal gefärbten Sprache, wie man sie auf der Straße hört und spricht. Jandl hat eine erhebliche Zahl von Dialektgedichten verfaßt. (Analoges gilt etwa für verschiedene Mitglieder der Wiener Gruppe, darunter Gerhard Rühm und H. C. Artmann.) Die Motive dafür sind wohl vielschichtig: Das Interesse an der klanglichen Dimension von Texten und am Verfremdungseffekt gehört dazu, aber auch die dezidierte Hinwendung zum Volkstümlichen als dem Gegenstück der gerade in Österreich florierenden Hochkultur. Der Lyrikband stanzen gewinnt dem Dialekt eine Fülle an Ausdrucksoptionen ab:

i was da wiaggli nimma wos i sogn soe
mir is maunchmoe scho gaunz schlechd
wäu i so oft wos sogn dua
wos i goaned sogn mechd (Jandl 1992, 63)

Dialektales findet sich (man darf unterstellen: aus vergleichbaren Motiven) auch bei Mahler – so in dem Band Längen und Kürzen, der selbstironisch und parodistisch als Band 1 des schriftstellerischen Gesamtwerks publiziert wurde. Der Titel eines solchen Dialektgedichts suggeriert, es handle sich um ein Stück aufgefangenen und protokollierten Alltagsgeredes (analog zur angeblichen Genese von Jandls 16 jahr).

BELAUSCHTES GEDICHT IM SUPERMARKT
AM 12. MAI 2004 (ZIELPUNKT)

i hätta liaba
a blonde
kassierin

so fongt des
scho amoi
o (Mahler 2009, [89])


Voraussetzungen (a): Elementares

Nicht nur mit der Hinwendung zum Dialekt geht es bei Jandl um Voraussetzungen von Dichtung (konkreter: um die Sprache des Alltags als die Grundlage poetischer Arbeit und das Alltagsleben als Kernthema). Auch in anderen Formaten werden die eigenen Voraussetzungen reflektiert: so vor allem mit Gedichten, die sich (auf welch spezifische Weise auch immer) dem ›Elementaren‹ sprachlicher Artikulation oder schriftlicher Fixierung von Texten zuwenden. Gedichte über die Laute und über die Buchstaben sind in diesem Sinn Elementar-Gedichte – und bei Jandl dienen sie unter anderem der Demonstration multipler Kombinationsmöglichkeiten. Was läßt sich aus den einzelnen Bausteinen der mündlichen Artikulation und der Schrift nicht alles machen! Sind Gedichte, etwa Sonette, jemals mehr als Kombinationen aus Buchstaben?

sonett
das a das e das i das o das u
das u das a das e das i das o
[…] (GW 1, 443; die Zeilen summieren sich auf insgesamt 14, untergliedert in je zwei Quartette und Terzette, entsprechend der Sonettform)

Nicolas Mahlers Bändchen Gedichte (2013) basiert, auch wenn es hier nicht um Buchstaben und ihre Kombinationsmöglichkeiten geht, auf einer vergleichbaren Idee. Hier sind es anstelle der Vokale bestimmte wiederkehrende geometrische Körper, die zur Basis kombinatorischer Spiele werden, welche dann Gedichte heißen: eine Röhre, eine Halbkugel, ein Körper mit einer gewellten Kante, ein unvollständiger Kasten, eine Stange. Daraus besteht das Inventar der Gedichte im Wesentlichen. Dieses Inventar wird verschiedenen Modifikationen unterzogen und in verschiedenen Kombinationen gezeigt. Hinzu kommt noch ein kleiner Mann, der selbst aber letztlich eine Kombination aus dem geometrisch-sphärischen Repertoire des Zeichners ist.
Spielerisch entfaltet Mahler in seinen ›Gedichten‹ die Idee, auf ›Elementares‹ zu verweisen und so das Gedicht selbst zum Demonstrationsobjekt elementarer Figuren zu machen – und zwar durch den ständigen Rekurs auf geometrische Figuren, insbesondere durch deren Verwandlung in die Hauptfiguren der ›Gedichte‹.
Eine analoge Idee taucht – in anderer Form umgesetzt – auch bei Jandl auf, hier in Gestalt von Figuraltexten, die an geometrische Figuren erinnern und diese modifizieren. So etwa wird in dem Gedicht tohuwabohu (GW 1, 110–113), das aus Variationen über ein bestimmtes Ausgangsmaterial an Sprachbausteinen besteht, aus einem ersten listenartigen Text mit den untereinander platzierten Bausteinen (einer Art Text-Säule) in einer ersten Variation eine Fläche, die wie ein deformiertes Dreieck aussieht; die folgenden Variationen sind nicht nur Variationen über die Sprachbausteine, sondern auch über die Grundformen Liste (Säule), Rechteck und Dreieck (vgl. auch moral, GW 1, 401).

Voraussetzungen (b): Wiederholung und Variation als gestalterische Prinzipien

Jandls sonett und Mahlers Gedichte verweisen aber nicht nur auf die Elemente, aus denen sie bestehen, ja machen sich zum Spielraum dieser Elemente, zu deren Theater – sie verweisen auch auf die fundamentalen Prinzipien dichterischer und künstlerischer Gestaltung: auf Wiederholung und Variation. Besonders sinnfällig wird dies in Beispielen poetischer Permutation, in denen sich das Moment der Wiederholung und der Variation eng verbinden. In permutativen Texten, aber auch in deren bildlichen Analoga, demonstriert das ästhetische Gebilde, daß es nach einer Spielregel entstanden ist. Das Ergebnis kann monoton, es kann aber auch ulkig sein – oder beides. Repetitionen und das (mehr oder weniger) systematische Durchspielen einer Spielregel werden bei Jandl immer wieder auf ostentative Weise zum Konstruktionsprinzip von Texten. Auf dem Prinzip der Kombination einer begrenzten Zahl von Elementen (einer sehr begrenzten: es geht um zwei) beruht Jandls autoreferentielles Gedicht talk, das auf typische Weise zwischen eher trister Monotonie und Komik changiert, vor allem, wenn man es (wie vom Titel nahegelegt) als Darstellung einer Gesprächssituation interpretiert. Was ist trauriger als ein derart monotones Reden? Und was ist komischer?

      Abb. 1: Humor (Mahler 2013, 39).

 

      Abb. 2: Wahn (Mahler 2013, 45).

blaablaablaablaa
blaablaablaa
blaablaablaablaa
blaablaablaa
bäbb
bäbb
bäbbbäb […] (GW 1, 115)1

Die beiden Silben »blaa« und »bäbb«, in Jandls Poetik­vorlesung modellhaft als die Protagonisten des poeti­schen Geschehens interpretiert, finden ein gezeichnetes Analogon etwa in Variationen ĂĽber die Stange und den kleinen Mann in Mahlers Gedichten (Mahler 2013, 39, 41).

Auch hier gehen wenige unterschiedliche Partner wechselnde Verbindungen ein, treten in einen merkwürdigen Dialog – einen Dialog, den der Rezipient nicht ganz versteht, dem Bedeutung zuzuschreiben er aber geneigt ist. Ein Indiz dafür, daß es mit Mahlers Gedichten auf spielerisch-parodistische Weise um ›Dichtung‹ geht, wir es also mit Meta-Gedichten zu tun haben, liegt bereits in der Betitelung von ›Gedichten‹ mit ästhetisch-literaturtheoretischen Begriffen wie Drama oder Humor. Unter dem Titel Humor sieht man eine hochgestellte Säule mit (Katzen-)Schwanz neben einem sie betrachtenden Männchen (Mahler 2013, 39; Abb. 1); unter dem Titel Drama zeigt die folgende Zeichnung, wie der Schwanz nun unten aus der Säule herauslugt, wiederum vom Männchen betrachtet (Mahler 2013, 41). Was ist da passiert? Glaube heißt ein ›Gedicht‹, in dem ein wurstförmiges Kinderfigürchen in eine schwarze Kiste wie in eine Krippe (oder einen Sarg) gebettet ist (Mahler 2013, 43). Wahn zeigt ein ebensolches Figürchen in einem schrankartigen Kasten (Mahler 2013, 45; Abb. 2). In Neugierde und Blödheit treffen sich das Männchen und die Röhre (wieder) (Mahler 2013, 47, 49); und so geht das Spiel; auch mit den anderen Formen, weiter – ein Spiel der kalkulierten Monotonie mit ebenso kalkulierten komischen Effekten (Mahler 2013, 38–45).

Voraussetzungen (c): Reduktion als Verfahrensweise

Wo die gestalterischen Verfahrensweisen beim Verfassen von ›Gedichten‹ selbst zum Thema der Gedichte werden, wo es ums ›Elementare‹, Grundlegende geht, da ist mit Blick auf Jandls wie auf Mahlers Œuvre das Prinzip der Reduktion von besonderer Signifikanz. Zielen doch beide – mit je eigenen, teils mit konvergenten Mitteln – darauf ab, ihre ›Gedichte‹ und Zeichnungen in möglichst komprimierter Form zu schreiben, reduziert auf das Wesentliche, auf die nötige Substanz.
Viele Texte Jandls wirken auf programmatische Weise reduktiv: wie Skizzen zu einer Szene, einer Idee, einem Gedanken, einer Geschichte.

der englische botschafter

such
a
mess

at
my
age

what
a
message (GW 1, 481)

Einmal abgesehen von dem kalauernden Wortspiel um das/die eigene »mess-age«, das/die diesem Text zugrundeliegt, lädt er doch auch ein sich auszumalen, in welche Art von Situation eine solche Äußerung passen könnte; er wirkt – anders gesagt – maßgeblich durch all das, was hier nicht gesagt wird, durch die Aussparung eines bedeutungsdeterminierenden Kontextes. Ein Stück von der Ratlosigkeit des »englischen botschafters« überträgt sich auf den Leser.
Mahler ist als Zeichner wie als Verfasser von Gedichten ein ähnlich konsequenter Reduktionist:


3 märchenbücher

was
wir
tun

was
wir
treiben

und
so
weiter (Mahler 2015, 92, ohne Zeichnung)

Wiederum bleibt es dem (ratlosen) Leser überlassen, sich Anlaß und Kontext dieser Äußerung zu denken. Wie verschiedene der gezeichneten ›Gedichte‹ auch, vor allem die zu Sequenzen arrangierten (erinnert sei an den Schwanz am unteren Rand einer Säule), wirft der dachbodenfund die Frage auf: Was ist denn hier los?


Inventarisierungen von ›Welt‹ – in Stücken

Verfahren der Reduktion, der Komprimierung, der Wiederholung und Variation werden nicht nur um ihrer selbst willen ausprobiert; es geht, wie indirekt auch immer, Experimentaldichtern wie Jandl und Mahler implizit auch um die Formen, mittels derer sich so etwas wie ›Welt‹ erfassen und darstellen läßt. Die Frage nach der Beziehung zwischen ›dem Gedicht‹ und ›der Realität‹ bildet einen Leitfaden durch Jandls Poetikvorlesungen, wobei er sie aber charakteristischerweise nicht abstrakt-allgemein beantwortet, sondern buchstäblich durch-spielt. Eine der dabei vorgeschlagenen Antworten lautet, daß der Sprachstoff, mit dem der Dichter arbeite, eben ein der Realität selbst entnommener Stoff sei und insofern ein Gedicht über Sprache dazu disponiert sei, ein Gedicht über ›Realität‹ zu sein (vgl. Jandl 1985b, 49). Eine andere Antwort lautet, daß sich in der poetischen Verfremdung der Sprache stets ein Moment der Kritik artikuliert: Kritik an Normen, Regeln, Einengungen, Macht. Poesie ist Sprach-Kritik – und auf diesem Weg zugleich Realitäts-Kritik. Eine dritte Antwort ließe sich aus den listenartigen, den enumerativen Texten ableiten, die aus Reihungen von einzelnen Wörtern oder kleinen Wortgruppen bestehen: Gedichte sind (auch) eine Form, die Bausteine der Realität am Leitfaden von Sprach-Bausteinen zu erfassen, um sie zunächst einmal schlicht der Reihe nach oder in anderen einfachen Kombinationsformen auszubreiten. Nicht nur Sprachliches wird in seine Bausteine zerlegt – sondern auch die Welt: Diese Grundidee findet sich bei Jandl in verschiedenen Modifikationen umgesetzt:

kleine auswahl

orangen und
bananen und
äpfel und
birnen und
zitronen und
pampelmusen
und (GW 2, 472)

Aus Reihungen von Dingen ergeben sich ganz konsequent alltagsdialogische ›Reihen‹ von Äußerungen, Szenen aus einer alltäglichen Welt also. Der Titel realistisches gedicht klingt zunächst vielleicht parodistisch, verweist aber doch auf eine spezifische Konzeption dichterischer Realitätsbezüge:

realistisches gedicht

was will
der herr
ich hätte
gern
orangen
wieviel
der herr
nun ja
vielleicht
ein kilo
[…] (GW 2, 473)

Auch Mahler hat eine Affinität zu Listen, zu einfachen Reihungen der Namen einfacher Dinge. Bei ihm belegen vor allem die Aufzählungen des dachbodenfunds eine gewisse Vorliebe für die Inventarisierung von ›Welt‹. Die auf dem Dachboden abgelegte nutzlose Spielzeugwelt wird einer Sichtung unterzogen – ihre Bestandteile präsentieren sich aufgereiht in Bildern und Texten – und erscheint als verkleinertes Modell der großen ›wirklichen‹ Welt. Nicht nur der Gedichtband als ganzer beruht auf der Aufzählung von Bausteinen einer Dachbodenwelt (in der sich ›die Welt‹ bespiegelt, vor allem, insofern sie defizient, abgenutzt, kaputt oder grotesk ist). Sondern auch innerhalb der Texte werden oft ›Elemente‹ gereiht, wird also deutlich gemacht, wie die Dinge, die Bewohner und die Gesellschaften zusammengesetzt sind (und in was sie folglich auch zerlegt werden können):

3 hunde nummeriert jagen einen hasen
blech

dazu
2 bäume
12 holzhäuser
3 holzgespanne
3 straĂźenbahnen
1 taxi
1 omnibus
1 wildwestkutsche
1 weltraumbahn

nicht 100% passend (Mahler 2015, 78)

verwandlungshase

erschreckt
schauend

kopf wurde
weggebrochen

und
wieder
angeklebt (Mahler 2015, 86)

Gedichte über ähnlich abseitige, skurrile und dabei doch auf seltsame Weise ›poetisch‹ wirkende, mit Bedeutung aufgeladene Objekte finden sich bei Jandl wiederholt. Die hier jeweils evozierten Dinge erinnern teilweise an die Bestände in Mahlers dachbodenfunden, vor allem die leise-gruseligen Spielzeugfiguren, die wirken, als hätten sie seltsame Geschichten hinter sich. All diese Beispiele von nutzlosem und abgelegtem Krimskrams scheinen auf rätselhafte Weise mit dem Betrachter zusammenzuhängen und blicken ihn an wie seinesgleichen.

hampelmann

der hampelmann bedingt
ist von der schnur.
ebenso der amtmann
der amtsvorstand, der amtsrat.
[…]. (GW 2, 523)

kasperltheater

ein kasperlkopf – der tag taucht auf
ein keulenhieb – die nacht schlägt drauf (GW 2, 232)


Selbstbezügliches – oder: was ist nun eigentlich ein Gedicht?

Wer Gedichte aus aufgeschnappten Rede- oder Dialogbruchstücken macht, überspielt programmatisch die konventionelle Grenze zwischen dem, was zur Kunst gehört, und dem, was keine ›Kunst‹ ist. Aber was macht ein Gedicht aus Alltags-Redestoff eigentlich zum Gedicht? Was macht einen buchstabenkombinatorischen Text zum Gedicht? Warum ist ein reduktionistischer Text ein Gedicht? Was ist überhaupt ein Gedicht?
Mahlers Bändchen Gedichte signalisiert (unter anderem) die Entschlossenheit, mit geläufigen Auffassungen darüber, was ein Gedicht sei, zu brechen. Für einen Gedichtband nicht untypisch ist die Präsentationsform der Inhalte im Buch selbst: pro ›Gedicht‹ eine Doppelseite, also Raum zur optischen Entfaltung – das entspricht durchaus Konventionen des Lyrik-Layouts. Desgleichen die Betitelung: Mahlers Gedichte heißen, wie Gedichte heißen könn(t)en – sie sehen nur nicht so aus.
Auch Jandl hat allerlei ›Gedichte‹ verfaßt, die auf irritierende Weise nicht wie ebensolche aussehen. (Vgl. etwa der gewichtheber / und seine nichte; GW 2, 171 – gedicht in wr. mundart; GW 2, 212 – mißlungenes gedicht; GW 2, 213). Und auch er ist ein Meister der lakonischen und seltsamen Titel, die zum übertitelten Gedicht in einem vom Leser allererst einmal zu erschließenden Bezug stehen.

schinkenbruch

oin dn-dn-dn-dn-dn-dn
oin dn-dn-dn-dn-dn-dn
[…] (GW 1, 776)

Manchmal wird explizit die Frage aufgeworfen, was ein Gedicht denn eigentlich charakterisiere – nicht ohne gewollte Provokation an die Adresse derer, die zu wissen meinen, was Lyrik ist:

ist das a) lyrik?
ist a) das lyrik?
a) ist das lyrik?
ist das lyrik a)?
[…] (GW 2, 97)

Diese Art von Selbstreferenz ist von einer Komik, die vor allem aus der Variation von Gleichartigem (d. h. aus Wiederholungseffekten) resultiert – also aus einem Prinzip, das Mahler etwa in seinem Bändchen Gedichte zeichnerisch einsetzt: So wie Jandls lyrik-Gedicht aus wenigen Bestandteilen (drei Wörtern und einem »a«), diverse Kombinationen herstellt, so arbeitet Mahler im Wesentlichen mit Schachteln, Schalen (oder Halbkugeln) und Stangen oder Röhren. Immer wieder fast dasselbe – allein die Idee, dies könne ein ›Gedicht‹ sein, klingt vor dem Hintergrund einer Poetik der Originalität und Innovation auf humoristische Weise provokant. Beim Durchblättern der gesammelten Werke Jandls, aber auch beim Blick auf viele einzelne Texte wird man oft darüber verunsichert, was ein Gedicht ist. Aber genau das will – bei Jandl – das Gedicht. Gezielt irritierend wirken auch Texte, die nicht nach dem Gedicht fragen, sondern sich darüber äußern, was ein Gedicht ist – etwa indem sie ein wichtiges Formprinzip des Gedichts (den Reim) bis zum Überdruß einsetzen und dabei – wie ›ungeschickt‹ – deformieren.

ich sag das ist ein gedicht
und gefällt es dir auch nicht
ist gefallen ja nicht pflicht
auch mir selbst gefällt es nicht
aber schreiben ist mir pflicht
[…] (was ein gedicht ist, GW 2, 543)


GrenzĂĽberschreitungen: Gedichte fĂĽrs Auge

Bei Jandl und bei Mahler, so könnte man zwischenbilanzieren, wird immer wieder darüber verhandelt, was das denn eigentlich sei: ein Gedicht – respektive: wie weit man mit der Etikettierung von geschriebenen und gezeichneten Arbeiten als ›Gedichte‹ eigentlich gehen könne. Dies gilt vor allem dort, wo der Ausdruck ›Gedicht‹ in irritierender Weise auf Gebilde angewendet wird, die normalerweise nicht so heißen.
Eine (bei Jandl über Jahrzehnte hin permanente, bei Mahler in einzelnen Arbeiten erkennbare) Aushandlung dessen, was »ein Gedicht« eigentlich »ist« (ebd.), erfolgt immer schon dort, wo Gedichte unkonventionelle Erscheinungsformen aufweisen – etwa in der Visualpoesie, oder im poetischen Buchstabenspiel. Hier gibt es zwar eine Tradition, aber gleichsam eine nicht-kanonische, eine, die historisch stets ›nebenher‹ gelaufen ist und ihren Weg in den Kanon des Mustergültigen und ›Klassischen‹ nie gefunden hat. Bei Autoren wie Jandl (und Mahler knüpft hier an) wird das Nicht-Kanonische zum Anti-Kanonischen. Visualtexte und verwandte graphische Phänomene bieten hier ein besonders ergiebiges Feld.
Vergleichbar mit Mahler, der seine Zeichnungen als Gedichte veröffentlicht, experimentiert auch Jandl mit Gedichten fürs Auge, mit Texten, die primär oder sogar ausschließlich visuell wahrgenommen werden wollen. Visualpoetisches taucht in seinem Œuvre in vielen Variationen auf: vom Typus des noch an traditionell visualpoetische Formen erinnernden Figurengedicht bis hin zu diversen Formen abstrakter Visualpoesie – von Visualtexten, die aus Wörtern, Silben, Buchstaben oder doch aus typographischen Zeichen bestehen, bis hin zu Figurationen, mit denen Bewegungsabläufe auf eine nicht-mehr-›alphabetische‹ Weise dargestellt erscheinen – bis hin zu einer Poesie, die gar nicht mehr auf dem Papier sichtbar wird, sondern allein am Körper des Rezitators, wie etwa die visuellen Lippengedichte.
Anders als bei Mahler sind Jandls visuelle Gedichte keineswegs immer durch einen humoristischen Grundzug charakterisiert. Aber es gibt doch Beispiele fĂĽr Visualtexte, die witzig wirken, ja denen sogar eine Art Pointe zugeschrieben werden kann, insofern man zweimal hinschauen muĂź, um zu verstehen, was man da sieht.2

Mahlers Affinität zu ›Strichmännchen‹-Figuren dokumentiert sich anders als bei Jandl und viel weitläufiger, aber hier bestehen doch immerhin Konvergenzen. Denn ›Strichfiguren‹, wie sie Mahler zum Basisbestand seiner Cartoons und Bildergeschichten macht, und wie sie Jandl auf eigene (und verschiedene) Weisen gestaltet, sind eine Ausprägungsform jenes ›Elementaren‹, das hier jeweils durch konsequente und einfallsreiche Reduktionen erkundet werden soll.


Gedichtkritisches

Bei so viel Selbstreferenz, wie sie sich in den Jandl’schen Texten und Graphien, bei Mahler in Texten und Zeichnungen entfaltet, liegt es nahe, auch Gedichtkritisches zum Thema von Gedichten zu machen. Jandl schreibt eine Reihe verschiedener gedichtkritischer Gedichte (vor allem selbstbezügliche; vgl. urteil, s. u.). Auch diese Spielform des Poetischen trägt auf eigene Weise bei zur Verhandlung darüber, was denn ein ›Gedicht‹ überhaupt sei:

urteil

die gedichte dieses mannes sind unbrauchbar.
zunächst
rieb ich eines in meine glatze.
vergeblich. es förderte nicht meinen haarwuchs.

daraufhin
betupfte ich mit einem meine pickel. diese
erreichten binnen zwei tagen die größe mittlerer kartoffeln.
[…] (GW 1, 642)

Die Pannen und Unfälle, denen Mahler’sche Figuren regelmäßig ausgesetzt werden, bilden ähnliche Serien wie die Mißgeschicke dieses lyrischen Ichs. Reserve gegenüber Gedichten äußert sich bei Mahler jedoch eher auf indirekte Weise:

MEDIENKRITISCHES GEDICHT

das fernsehprogramm
wird immer
schlechter

es ist nicht
zum aushalten

und was die
zeitungen schreiben

lauter
blödsinn

da sind ja
gedichte
noch
besser (Mahler 2009, [87])

Das Ich des ›Dichters‹ …

Jandl thematisiert auf verschiedene Weisen das eigene Ich. Diverse Gedichte gelten einem schreibenden Ich, das sich abmüht, das seine Texte kritisiert, womöglich sogar verwirft und vernichtet. In der Sprechoper Aus der Fremde (Jandl 1985a) steht ein Dichter im Mittelpunkt, der als Indikator seiner Selbstentfremdung von sich selbst in der dritten Person spricht, also nur in grammatikalisch verfremdeter Form zu Wort kommt – und bei der Aufführung des Textes zudem einen betont künstlichen Artikulationsstil anwenden soll (dazu GW 3, 352).
Dargestellt werden die Produktionskrise eines alternden Dichters (der ein literarisches Alter Ego Jandls ist), seine Selbstquälerei, seine Flucht in den Alkohol und seine verzweifelten Bemühungen, trotzdem etwas Brauchbares zu schreiben. Manche Gedichte Jandls sprechen nicht minder drastisch von Identitätskrise, Sprachverlust und der Selbstauflösung des Dichter-Ichs, so etwa fortschreitende räude (Jandl 1985b, 22).
Mahlers stilisierte Selbstporträts wirken weniger drastisch, wenngleich auch hier schwarzer Humor und grĂĽndliche Verfremdungsstrategien eine wichtige Rolle spielen, bei denen sich das kĂĽnstlerische Ich in eine clowneske Gestalt verwandelt. Selbstporträts (in diesem Sinn) finden sich bei Mahler sogar ganz besonders oft: Variationen ĂĽber die Gestalt eines stangenartig hochgewachsenen bebrillten Strichmännchens mit weit herausragender Nase. Diese Figur, die u. a. auch in Alte Meister (2015) in der Rolle des Bernhard’schen Ich-Erzählers mitspielt, ist grotesk, nicht nur durch ihr Erscheinungsbild, sondern auch durch ihre werk­ĂĽbergreifende Dauerpräsenz; so abgrĂĽndig wie manche der verzeichneten und verfremdeten Ich-Figurationen bei Jandl ist sie nicht. Längen und KĂĽrzen bietet eine Reihe von Variationen ĂĽber den ›verkannten‹ und erfolglosen Dichter, ĂĽber die an ihn gerichteten Zumutungen – aber stoisch wie Mahlers Figuren so sind, läßt der Dichter all dies an sich abprallen wie Slapstickfilmhelden die Sahnetorte, wie George Herrimans Protagonistin in Krazy Kat den ihr nachgeworfenen Stein. Wo Jandl die Zeitlichkeit, Gebrechlichkeit, Unzulänglichkeit und Auflösung des Ichs in Variationen durchspielt (freilich: um daraus Gedichte zu machen), da präsentiert Mahler sein gezeichnetes Alter Ego als robust, als widerstandsfähig, unwandelbar im Angesicht noch der ĂĽbelsten MiĂźgeschicke: ein Stehaufmännchen, wie Herrimans Krazy Kat, den auch der soundsovielte Stein, den die boshafte Maus nach ihm wirft, nicht endgĂĽltig zu Boden strecken kann. Immer wieder neu aus den kleinen und mittleren Katastrophen des Lebens, den DemĂĽtigungen und MiĂźerfolgen des KĂĽnstlers hervorzugehen – das ist auch eine Facette, die das Prinzip der Wiederholung (mit Variationen) bei Mahler hat.

      Abb. 3: Nicolas Mahler: dachbodenfund (2015).

… und der Hund als poetischer Begleiter

Anschließend an den ›Dichter‹, dem ›Dichter‹ in mehr als einer Hinsicht folgend, nun aber noch ein letztes, das Jandl’sche und das Mahler’sche Œuvre verbindendes Motiv, nicht wirklich heiter, aber doch lebensnah – menschenlebensnah: der Hund. Der Hund, das ist bei Jandl die Verkörperung einer milden, aber doch unbeugsamen Subversivität im Alltag, eines Eigensinns, der sich Regeln nicht beugt – ein kleiner, reizvoller, erschreckender Störfaktor. Schon dies verbindet den Hund mit dem Gedicht. Der berühmteste aus Jandls Hundesammlung ist zweifellos »ottos mops«. Dieser Mops hat viele poetische Gefährten, so etwa jenen »hunp«, der unter Verdrehung von Buchstaben leidet und darum »quellt / wepelt / dißt / unp / schnuddert« (hünpisch, GW 1, 323). In der hundeshymne wird eine ganze Hundewelt evoziert; die sich wiederholende Pointe ist, daß deren Bestandteile sich auf die ›Bundes‹-Welt der Republik Österreich reimen:

hundesamt f eich- u vermessungswesen / hundesamt f zivilluftfahrt / hundesanstalt f bienenkunde / […] / hundesbahnen / hundesdenkmalamt / […] / hundesverlag / hundialek / hundics / hundil (GW 2, 136)

Zu Mahlers Bestandsaufnahmen von Welt gehören ebenfalls allerlei Hunde. Schon die Titelzeichnung von dachbodenfund zeigt einen Hund: eine kleine Bulldogge mit Kaktusohren.
Und im Buch selbst begegnen dem Leser dann weitere Exemplare:

rauchverzehrender hund
hechelnder
männchen
machender
hund

alt
elektrifiziert

ein wenig
verschossen (Mahler 2015, 60f.: Zeichnung eines Vierbeiners mit Menschengesicht)

Ein ›Gedicht‹ trägt den Titel hund als handttasche; sein Text besteht aus einem einzigen Wort: »selten« (Mahler 2015, 23). Darunter ist ein skifahrendes Tier gezeichnet, das aber eher wie ein Hase aussieht: ein verdrehter Hund wie Jandls »hunp«? Ein anderes Gedicht heißt sambatanzende hunde:

ohne
antrieb

dazu
ein winziger briefträger
mit kinderbriefen

fĂĽĂźe fehlen
ab den knien (Mahler 2015, 71; daneben (Mahler 2015, 70) die Zeichnung eines Spielzeugelefanten)

Mahlers Hunde sind grotesk, aber harmlos; Jandls Hunde erwecken manchmal Unbehagen; sie erinnern nicht nur an die Alltagsfreundschaft zwischen Mensch und Hund, sondern auch an Verfall und Verwesung. Insofern lieĂźe sich die Differenz zwischen dem Mahler’schen und dem  Jandl’schen Ĺ’uvre exemplarisch an den Hundesammlungen beider illustrieren. Jandl weiĂź ĂĽber Hunde allerlei Komisches zu sagen, aber Hunde sind auch assoziiert mit der Idee des ›Auf-den-Hund-Kommens‹, des radikalen körperlichen Verfalls – wie vor allem das Gedicht fortschreitende räude zeigt.

him hanfang war das wort hund das wort war bei
gott hund gott war das wort hund das wort hist fleisch
geworden hund hat hunter huns gewohnt

him hanflang war das wort hund das wort war blei
flott hund flott war das wort hund das wort hist fleisch
gewlorden hund hat hunter huns gewlohnt
[…] (Jandl 1985b, 22, Herv. d. Autorin)

Mahlers Hunde sind so haltbar wie seine zwar biegsamen, aber doch unbeugsamen Männchen:

strupp

ohne knopf
ohne schild
ohne fahne
mohairverlust
bespielt (Mahler 2015, 8)


Poetisch-graphische Korrespondenzen – im Überblick

Für das Œuvre Mahlers wie Jandls prägend ist die konsequente Hinwendung zum Alltäglichen und zur Populärkultur. Kritisch unterlaufen wird die Unterscheidung von ›hoher Kunst‹ und nicht kanonisierten Formen der Kunstpraxis. Für Mahler ist dies der Kernpunkt seines Selbstverständnisses als Cartoonist und Comiczeichner. Für Jandl ist es ein Anlaß, gegen jede Art von Restriktion der Kunst zu protestieren. Am Kunstbegriff selbst hält Jandl fest, indes er bei Mahler zum Objekt humoristisch-subversiven Spiels wird.
Elementar bei Jandl ist, aller Sprachspielerei zum Trotz, das immer wieder umschriebene Bewußtsein der Nähe von Tod, Verfall, »fortschreitender räude«, während Mahlers Figuren sich als wandelbar, insgesamt aber doch robust präsentieren. Klar: Beneidenswert erscheinen meist auch seine Gestalten nicht, die von vielen Mißgeschicken ereilt werden, aber sie sind wie Stehaufmännchen oder wie Spielzeuge, die immer wieder von vorn anfangen. Jandls Texte laufen auf den Tod zu, auf Zerstörung und Zerfall. Und auf eine scharfe, schmerzhafte Selbstkritik – wie sie viele Texte prägt. Allerdings zeigt Jandl auch immer wieder, wie sich mit dem Abgründigen Scherze machen lassen. Das Lachen bleibt einem aber vielfach im Hals stecken. Mahlers Bücher sind »Lachmaschinen«, auch wo sie das Abgründige streifen. Gegenstand humoristischer Verulkung sind nicht zuletzt »die Zumutungen der Moderne« – während Jandl deren Zumutungscharakter bekräftigt hat.

 

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Bibliografie

  • Jandl, Ernst: sprechblasen. gedichte. Neuwied / Berlin: Luchterhand, 1968. Jandl, Ernst: Gesammelte Werke. Hg. v. Klaus Siblewski. 3 Bde. Darmstadt / Neuwied: Luchterhand, 1985. Nachweise mit der Sigle GW beziehen sich jeweils auf einen Band.
  • Jandl, Ernst: Aus der Fremde. Sprechoper in 7 Szenen. Darmstadt / Neuwied: Luchterhand, 1985a.
  • Jandl, Ernst: Das Ă–ffnen und SchlieĂźen des Mundes. Frankfurter Poetik-Vorlesungen. Darmstadt / Neuwied: Luchterhand, 1985b.
  • Jandl, Ernst: stanzen. 3. Aufl. Hamburg / ZĂĽrich: Luchterhand, 1992.
  • Mahler, Nicolas: Längen und KĂĽrzen. Das schriftstellerische Gesamtwerk. Band 1. Wien: luftschacht, 2009.
  • Mahler, Nicolas: die zumutungen der moderne. 2. Aufl. Berlin: reprodukt, 2010.
  • Mahler, Nicolas: Gedichte. Mit einem Nachwort von Raimund Fellinger. Berlin: Insel, 2013.
  • Mahler, Nicolas: dachbodenfund. gedichte. Wien: luftschacht, 2015.
  • Mahler, Nicolas: in der isolierzelle. gedichte. Wien: luftschacht, 2017.

 

  • 1]   Der Text wird von Jandl selbst zitiert und kommentiert, vgl. Jandl 1985b, 53.
  • 2]   Ein Text, der einerseits an die Tradition des Figurengedichts anschlieĂźt, dies andererseits aber in einer stark verfremdenden, skurrilen Weise tut, ist onkel toms hĂĽtte (GW 1, 127): Aus dem Wortmaterial von onkel toms hĂĽtte bildet sich hier ein groĂźer Männerhut im Stil des 19. Jahrhunderts; unterhalb der Krempe erscheint, gebildet aus den Buchstaben t-o-t-o-m-t eine Linie, die als Profil interpretiert werden kann.