Die Gedanken sind frei?
Grenzenlose Gedanken über Comicgrenzen
Comics an der Grenze rezensiert von Sebastian R. Richter
Inhaltlich unausgewogen. So präsentiert Comics an der Grenze – Sub/Versionen von Form und Inhalt das titelgebende Thema. Dennoch bietet sich der wissenschaftliche Sammelband dank vieler hervorragender Autor_innen als Einstieg in die Comicforschung an.
Der Sammelband widmet sich als Tagungsband der 9. ComFor-Tagung den Grenzbereichen im Comic und versucht einen aktuellen Forschungsstand über dieses Thema auszubreiten. Wie bei Sammelbänden üblich, ist zwar Diskussion möglich, jedoch nur über einige ausgewählte Aspekte. Diese sind oft fachspezifisch, wodurch sich der Band vor allem an wissenschaftliche bzw. an der Comictheorie interessierte Leser_innen richtet.
Die Tagung hatte sich mit dem Thema »Grenzen ziehen, Grenzen überschreiten« beschäftigt. Schon das Vorwort des Sammelbandes aber stellt klar, dass an der Tagung keine Beiträge beteiligt waren, die sich explizit mit geopolitischen Grenzen auseinandersetzen. Um die Leerstelle zu füllen wurde nachträglich Angela Guttner um einen Artikel gebeten. Sie untersucht die Funktionen von Grenzen in Israel-Palästina-Comics und unterteilt sie in ihre Funktion als Trenner, Aktant und Kommunikateur. Aktant bezeichne demnach eine Grenze, die durchaus nicht nur neutrales, unbeteiligtes Objekt (wie in ihrer Funktion als Trenner) ist, sondern als »zeitliche Machtverlängerung« (85) vergangene bereits untergegangene Macht zeitlos demonstriert (Beispiel: Berliner Mauer). Insofern kann die Grenze im Comic Blick oder Erzählung als Machtverlängerung steuern. Als Kommunikateur dient sie als Symbol, das auf Grenzproblematiken verweist. Dabei kann es in seiner Symbolik entwertet werden, indem es bspw. zur Leinwand eines Kunstwerks wird oder eingebettet ist in Situationen oder Landschaften.
Andere Grenzformen werden im Abschnitt Intermedialität untersucht. Vor allem sind dabei die Artikel von Stephan Packard und Lukas R. A. Wilde hervorzuheben. Packard beschreibt die Konkurrenz zwischen Bild und Schrift. Wenn Sagbarkeit nicht Sache der Schrift bleibe, und Sichtbarkeit nicht Sache des Bildes, ist der Comic gerade jene Schrift und Bild verbindende Konstruktion, die als eigenständiges Medium etwas Neues erzeuge. Seine Verflechtung zwischen Schrift und Bild, jene spezifische Medialität, ist Packard zufolge das Element, das die ästhetische Moderne kennzeichne.
Wilde stellt das Piktogramm dem Comic gegenüber, wobei u. a. der Band Pizza is my business aus der Hawkeye-Serie als Beispiel vorgestellt wird. Obwohl die Zeichen innerhalb ihrer raum-zeitlichen Folge den Erwartungen des Lesers entsprechen, brechen sie diese auch, indem sie auf funktionale Kommunikationsstrukturen (dem Notausgangsschild vergleichbar) verweisen. Es entstehen »Grenzüberschreitungen zwischen konventionellen ›Kunst-Medien‹ und ›Kommunikationsmedien‹ (oder umgekehrt)« (111f.). Der Comic erweitert damit sein in erster Linie ästhetisches und erzählerisches Formenrepertoire mit zweckgebundenen Bildzeichen. Diese neue Form des Erzählens über konventionelle Mediengrenzen hinaus sei noch die Ausnahme.
Das Themengebiet Körper & Gender zeigt deutlich, dass viele Comics die Idee der Metamorphose als Wechselspiel zwischen männlich und weiblich verbildlichen. Insofern werden Wünsche, Bedürfnisse und Vorschläge einer jeweiligen Kultur präsentiert. Andreas Heimann stellt Leitmotive des Werdens in Charles Burns Black Hole heraus. Der Prozess des Werdens (durch den Philosophen Gilles Deleuze inspiriert) versteht nach dem Autor die Menschen als Teil einer Nomadenkultur, die ohne klare Verankerung nicht nur heimatlos, sondern auch geschlechtlich orientierungslos wandern. Ein Schwimmen in geschlechtlich ungewissen Gewässern, die keine klaren Zuordungen zu ›männlich‹ und ›weiblich‹ mehr zulassen. In diesem Fall wird weniger ein Überschreiten von Grenzen als die Unmöglichkeit von Grenzen betont.
Kai Linkes Artikel Defying Borders verbindet in seiner Analyse des Comics Sexile das geo- mit dem genderpolitischen Thema. Die Hauptprotagonistin Adela Vasquez sucht dort in beider Hinsicht ein Ende ihres Nomadendaseins, wird das Heilige Land allerdings nicht erreichen können. Nationalgeografisch und genderpolitisch findet sie keine Heimat - »she does not fit« (222). Deutlich wird, dass alle Comics, die sich mit Gendergrenzen auseinandersetzen zum Werdens-Prozess einladen, d. h. die Leser_innen zu Zeugen der gedanklichen Überwindung jener sexuellen Grenzen werden.
Die letzte Kategorie Erinnerung – Traum – Realität ist für die Breite an Themen, welche der Abschnitt anbietet, etwas zu eng gefasst. Der Beitrag von Merle Koch beschäftigt sich ausschließlich mit den Konstruktionsmechanismen des Traums im Comic und ob permanent geträumt werde. Erinnerung spielt hier keine Rolle. Dafür wird dies allerdings bei Dietrich Grünewald aufgenommen, der die unterschiedlichen Ausprägungen von Erinnerungen im Comic am Beispiel von Ardalén herausfiltert. Julia Ingolds Artikel wiederum zeigt, dass Schreiben über Comics selbst an der Grenze von wissenschaftlichen Themenbereichen kratzt und ist umso interessanter, weil er nicht perfekt in diese Kategorie hineinpassen will. Bzw. in ihrer Lesart von Reprobus ist der Comic »vom Wesen her allegorisch« (259). Im Wechselspiel zwischen Logos und Mythos, könne der Palimpsest als Vermischung von Textbausteinen dem Mythos ein neues Gesicht geben, um ihn vor dem Zerfall zu retten oder vielleicht auch um den Zerfall mit in den neuen Mythos der postmodernen Allegorese zu integrieren.
Abschließend sei noch auf Ole Frahms letzten Artikel Über die Fußnote hingewiesen. Frahm verweist auf eine weitere Auffälligkeit der Tagung, nämlich dass zum Panel Interdisziplinarität gar kein Beitrag eingereicht wurde. Er befragt die historischen Grundlagen und die Vorurteile, die in der Comicforschung bestanden und leider in gewissen Punkten immer noch bestehen.
Der Band ist sehr lesenswert. Im Detail finden sich Aspekte, die das Nachdenken, Diskutieren und auch Lesen von Comics mit dem Fokus auf Grenzsetzungen erweitern. Zudem gibt es einen Abschnitt, der die Ausstellungen und Workshops der Tagung nachträglich präsentiert. Man kann nicht absprechen, dass sich alle Artikel mit Grenzbereichen auseinandersetzen. Trotzdem bleibt nach dem Lesen ein unbefriedigtes Gefühl übrig, dass nicht nur aufgrund der einem Sammelband eigentümlichen Artikelgrenzen entsteht. Es fehlt eine wirklich klare Linie. Beispielsweise wäre bezüglich eines aktuell aufsteigendem Nationalismus eine stärkere Auseinandersetzung mit der geopolitischen Komponente (als eigener Themenkomplex) wünschenswert. Nur Linke und Guttner nutzen diese Möglichkeit. Die inhaltliche Unausgewogenheit des Bandes und ihre Vielzahl an Themen ist dennoch eine Einladung für interessierte Leser_innen im Zwischen jener Grenzbereiche anzuknüpfen und weiterzudenken.
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Comics an der Grenze
Sub/Versionen von Form und Inhalt
Matthias Harbeck, Linda-Rabea Heyden und Marie Schröer (Hrsg.)
Berlin: Bachmann, 2017
348 S., 36,00 Euro
ISBN 978-3-941-03068-8