Comics und die Superkraft des Dokumentierens

Disaster Drawn. Visual Witness, Comics, and Documentary Form rezensiert von Augusto Paim

Hillary L. Chute gewinnt durch ihre vielseitige Comicforschung in den letzten Jahren weltweit Anerkennung. Mit Disaster Drawn legt sie jetzt ein nicht weniger ambitioniertes Projekt vor: »[it] is the first book to present a substantial historical, formal, and theoretical context for contemporary comics that seek to document stories of war and disaster« (S. 7).

Chute ist die Autorin von innovativen Studien wie Graphic Women: Life Narrative and Contemporary Comics (2010) oder Outside the Box: Interviews with Contemporary Cartoonists (2014). Außerdem ist sie Mitherausgeberin von Metamaus, in dem Art Spiegelman über den 13-jährigen Prozess berichtet, den er für das Schaffen seines mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Meisterwerkes Maus brauchte. In ihrer neuesten Studie widmet sie sich ebenso einem aktuellen Thema der Comicforschung: dem dokumentierenden Comic.

Das Buch beinhaltet sieben Teile, die unterschiedliche Aspekte des Dokumentierens in Comicform umfassen. Die Einführung stellt zunächst die Begrifflichkeiten vor, mit denen das Werk arbeitet, etwa documentary, document oder witness, und gibt gleichzeitig einen Einblick in die Debatten um diese Begriffe. Zugleich lassen sich diese ersten 38 Seiten als eine gute Zusammenfassung des Werks lesen, denn Chute benennt ihre Hauptthesen hier bereits. Im ersten Kapitel beruft sie sich auf frühe Traditionen von handgezeichneten Zeugnissen – unter den erwähnten Beispielen heben sich Les Grandes Misères et les Malheurs de la Guerra (1633) von Jacques Callot und Los Desastres de la Guerra (1810–1820) von Francisco Goya hervor. Chute argumentiert, dass sich das Genre der dokumentarischen Graphic Novel an eine historische Anwendung des Mediums Zeichnung anschließt: Bis die Fotografie erfunden war, nutzte man das Zeichnen als Mittel der Dokumentation. Dabei erwähnt sie die Special Artists, welche im 19. Jahrhundert für Illustrierte als zeichnende Korrespondenten von Kriegen berichteten.1 In Kapitel 2 geht es um die Geschichte der modernen Comicsprache, angefangen bei Rodolphe Töpffer bis hin zu Robert Crumb. Dies ist an sich nichts neues für Comicforscher_innen, aus diesem ästhetischen Rückblick entsteht aber ein Argument, das absolut innovativ ist: Chute geht davon aus, dass sich das Medium Comic zum Dokumentieren eignet, da die Struktur der nebeneinanderliegenden Panels mit den Räumen dazwischen einige Gemeinsamkeiten mit der Methode der Historiografie hat. Diese hat zum Ziel, einzelne verfügbare Beweise zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Ebenso dechiffrieren Comicleser_innen eine logische Geschichte anhand der fragmentierten Panels, die zusammen mit den leeren Zwischenräumen am Ende mithilfe der Einbildungskraft zu einem Kontinuum werden.

In den Kapiteln 3, 4 und 5 beschäftigt sich Chute jeweils mit dem Werk von Keiji Nakazawa, Art Spiegelman und Joe Sacco, wobei sich drei unterschiedliche Arten des Dokumentierens erkennen lassen: Zuerst geht es um die autobiografische Geschichte I saw it, in der Nakazawa davon erzählt, was er bei dem Atombombenangriff auf Hiroshima erlebte (dieser 45-seitige Comic aus dem Jahr 1972 diente als Grundlage für das ungefähr 2500 Seiten umfassende, in zehn Bände geteilte Manga Barfuß durch Hiroshima). Bei Maus wiederum ist der Aspekt der direkten Zeugenschaft reduziert, denn Spiegelman erzählt von etwas, das nicht er sondern sein Vater erlebt hat. Trotzdem hat der Autor einen starken Bezug zum Stoff, weil die Vater-Sohn-Beziehung im Buch ebenso thematisiert wird. Zuletzt kommt ein Überblick über das journalistische Werk von Joe Sacco, in dem die Reporterhaltung im Vergleich mit den anderen Büchern für einen größeren Abstand zum Inhalt sorgt.

Der letzte Teil von Disaster Drawn heißt Coda. Hier präsentiert Chute u. a. die gegensätzlichen Stellungnahmen von Sacco und Spiegelman in Hinsicht auf das Thema »Die Grenzen des Humors«, anlässlich der Ausschreitungen nach der Publikation der Mohammed-Karikaturen am 30. September 2005 und des Terroranschlags auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 7. Januar 2015.

Es gibt keinen Zweifel: Chute beherrscht das Metier der Comicwissenschaftlerin ausgezeichnet. Sie hat nicht nur eine spannende Studie geschrieben, sondern auch wirklich gründlich recherchiert: Allein die Endnoten brauchen 80 Seiten Platz. In jedem Kapitel beschreibt sie die ästhetischen Aspekte der vorgestellten Werke ausführlich, ebenso ihre Entstehungsgeschichten. Das eingangs eingeschlagene hohe Niveau der Argumentation behält sie konsequent bei. Disaster Drawn beinhaltet gleich mehrere anregende Thesen, Chute interessiert sich z. B. für die tiefere Bedeutung des Handzeichnens, für die Zeichenkunst als Mittel gegen das Auslöschen von traumatischen Geschichten, für die Materialisierungskraft als Vorteil von Comics beim Dokumentieren und für die doppelte Funktionalisierung des Mediums, indem es Dokumente auf der einen Seite präsentiert, aber gleichzeitig auch ihre Autorität infrage stellt. Eines ihrer Argumente ist allerdings nicht mehr neu, nämlich dass der Überfluss von Fotografien und Fernsehbildern ab dem Vietnamkrieg zusammen mit einem Diskurs der Vormachtstellung von Technologie im Zeitalter der Atombombe als Folge eine Rückkehr zur Tradition des »drawing to tell« hatte. Ähnliche Anmerkungen finden sich schon im Jeff Adams Buch Documentary Graphic Novels and Social Realism aus dem Jahr 2008 und tauchen hin und wieder in Publikationen mit verwandten Schwerpunkten auf.

Die Beziehung zwischen Comics und Trauma scheint ein wachsendes Forschungsthema zu sein. Dafür legt Chute mit Disaster Drawn einen umfassenden und handfesten Grundstein.

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  • 1]An dieser Stelle empfehle ich einen Besuch der interessanten Website des Melton Prior Instituts, <www.meltonpriorinstitut.org>, das sich in Düsseldorf mit der Geschichtsforschung der gezeichneten Reportage auseinandersetzt. Melton Prior war übrigens auch ein Special Artist, der über den Krimkrieg (1853–1856) im Auftrag der Zeitung The Illustrated London News vor Ort berichtete.

 

Disaster Drawn
Visual witness, comics, and documentary form
Hillary L. Chute
Cambridge / London: The Belknap Press of Harvard University Press, 2016
376 S., 31,50 Euro
ISBN 978-0-674-50451-7