»To skip the footnotes is to miss the real story.«

Material rezensiert von Alexander Dibiasi

Vier Individuen, vier Geschichten, eine Vielzahl an Fußnoten und ein Ziel – die Leser_innen über die kontemporäre psychisch-emotionale Beschaffenheit des politischen Soziallebens der USA ›aufzuklären‹. Hohe Ansprüche denen Ales Kots politisches Material nur mittels Hilfe von Außen gerecht werden kann.

Mit diesem politischen Material umzugehen ist gar nicht so einfach. Hat man sich durch das bezeichnenderweise vom politischen Journalisten und unbequemen Blogger Spencer Ackerman (der nebenbei bekennender Comicliebhaber ist) verfasste Vorwort gelesen, findet man sich plötzlich inmitten einer philosophischen Auseinandersetzung zum post-industriell-digitalen Hyperkapitalismus, um nur zwei Seiten später dem Verfall des Marktwertes einer ehemals erfolgreichen Schauspielerin zuzuschauen, dann nach abermals zwei Seiten inmitten von gewalttätigen Rassenunruhen zu stehen und schlussendlich von einer Domina in die hohe Kunst des Waterboarding eingeführt zu werden.

Was sich jetzt herausfordernd und schwer verständlich anhört, ist es zunächst einmal auch. Zumindest so lange bis man die Dramaturgie von Ales Kot (A) & Will Tempests (P) Comic verstanden hat. Diese ähnelt auf den ersten Blick zwar sogenannten Episodenfilmen, also einem Konglomerat an erzähltechnisch unabhängigen und in sich geschlossenen dramaturgischen Blöcken, folgt aber tatsächlich einer klar festgelegten, leicht zu durchschauenden Struktur. Neben der schematischen Gestaltung der vier Handlungsstränge nach dem Muster ›ABCD-ABCD-ABCD‹ usw. und dem bereits angesprochenen Szenarien-Wechsel nach jeweils zwei Seiten, verfügt jede einzelne Geschichte über die ihr eigenen, immer wiederkehrenden Farbmerkmale. Eine anfängliche Desorientierung beim Wechseln der einzelnen Episoden wird somit alsbald relativiert.

"I Can't Breathe": Aktuelle Bezüge in Material.

Ein wenig anders sieht es beim Zurechtfinden auf inhaltlicher Ebene, insbesondere bei der Diagnose der innerhalb des Comics zweifelsohne omnipräsenten politischen Kontextualisierungen aus. Hier verlangt Kot seinen Leser_innen einiges ab. Selbst mit einem (absolut notwendigen) Fundus an (Vor-)Wissen sind die polit-philosophischen, sowie real- und sozialpolitischen Anspielungen, Bezüge und Referenzen nicht immer einfach zu begreifen. So wird die Gunst der Leserschaft mitunter auf eine harte Probe gestellt, denn tatsächlich sieht Kot die Lektüre der in zahlreichen Fußnoten angegebenen ›Sekundärinformationen‹ als Voraussetzung für ein solches Verstehen an. Dabei folgt die Gestaltung dieser Fußnoten nicht lediglich den typischen Schemata des akademischen Schreibens, sondern versucht auch Erinnerungen zu wecken, Appelle zu implementieren und nicht zuletzt die Leser_innen in eine dem jeweiligen Sachverhalt angemessene Stimmung zu versetzen. So beinhalten sie nebst den Verweisen auf weiterführende Literatur eben auch Aufzählungen von Opfern rassistisch motivierter Polizeigewalt, Aufforderungen zu bestimmten Bildern bestimmte Songs zu hören sowie Empfehlungen ausgewählte Filme zu sichten, um Elemente des Comics auf diese referenzieren zu können. Kot benutzt seine Fußnoten also nicht nur für das Bereitstellen zusätzlicher Informationen, sondern ebenso dafür, die Affektivität seines politischen Materials zu steigern – eine interessante Erzählstrategie und zugleich eine intellektuelle Herausforderung an die Leserschaft, die nicht von allen goutiert werden dürfte.

Lässt man sich jedoch auf diese mitunter anstrengende Rezeptionserfahrung ein, so wird deutlich, dass Ales Kot den vier unabhängigen, in sich geschlossenen Geschichten – eines desillusionierten Philosophen, einer abgehalfterten Schauspielerin, eines rebellischen Jungen, eines traumatisierten Folteropfers – die Material erzählt, eine je eigene, sich jedoch zu einem großen sozialkritischen Ganzen zusammenfügende klare (politische) Funktionen zugedacht hat. So gleicht die philosophische Figur Julius Shore nicht nur äußerlich dem marxistischen Schriftsteller Franco ›Bifo‹ Berardi, sondern theoretisiert ähnlich seinem realen Pendant einer postindustriellen Kapitalismuskritik folgend; das Schicksal der ehemals erfolgreichen, mittlerweile aber ausgebooteten Schauspielerin Nylon Dahlias erinnert an jenes vieler junger Starlets, die am gnadenlosen Hollywood-Opportunismus zu zerbrechen drohen. Es zeigt den mittlerweile alle Lebensbereiche betreffenden, unerbittlichen Leistungsdruck, der gepaart mit konformistischen Zwängen oftmals vor allem junge Frauen trifft; die Festnahme des fünfzehnjährigen Afroamerikaners Franklin, dessen Verhör im Homan Square Chicago und die anschließende Erpressung durch einen rassistischen Polizeibeamten deuten die immer noch andauernde Ungerechtigkeit des US-amerikanischen Justizsystems gegenüber nicht-weißen Ethnien an; last but not least verweist die masochistische Obsession des ehemaligen Guantánamo-Häftlings Adib auf die psychischen Schädigungen der vielfach zu Unrecht ›befragten‹ (gefolterten) Terrorverdächtigen.

Durch die Verknüpfung dieser Geschichten gelingt es Kot größtenteils, seinem Anspruch von Individuen auf eine Vielheit an Subjekten des US-amerikanischen Soziallebens schließen zu können, gerecht zu werden. Trotz dieser klaren Stärke misstraut seine Graphic Novel dabei aber sowohl sich selbst als auch seinen Leser_innen. Deren Rezeptionsfreiheit wird nämlich abschließend durch vier (!) dem Comicbuch angehängten, von Fiona Duncan, Jarett Kobek, Sarah Nicole Prickett und Bijan Stephen verfassten und über die wichtigen Inhalte des Comics aufklärenden Essays deutlich restringiert. Es scheint fast so, als ob es nicht nur der Fußnoten bedarf um Material und (s)eine wahre Geschichte zu begreifen, sondern ebenso der Kommentare von klügeren Menschen. Ob dies nun als Schwäche des Comics, Misstrauen gegenüber der Leserschaft oder aber informeller Mehrwert zu sehen ist, darüber ließe sich trefflich streiten. Unstrittig bleiben trotz allem die Qualitäten von Kots Comic, denn Material liefert tiefe Einblicke in die kontemporäre, psychische, soziale und politische Landschaft der USA, gibt wichtige Denkanstöße, ist dabei immer klar positioniert und fordert seine Leser_innen auf (zumindest intellektuell) selbst aktiv zu werden: »Look around you Everything is material.«

 

Material, Vol. 1
Ales Kot
Berkeley: Image, 2015
128 S., 9,99 US Dollar
ISBN 978-1632154743