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Richard McGuires Here als implizite Selbstreflexion von Zeit

Sebastian R. Richter (Kassel)

Mit Zeitspüngen gelang es Richard McGuire in Here eine graphische Erzähltechnik zu entwickeln, die ein neues Licht auf das Medium Comic wirft: als Zeitkunst, welche – allerdings anders als der Film – die gefrorene Zeit beweglich macht. Andere grafische ›Zeitkünstler_innen‹ wie Chris Ware schwärmen nahezu von dieser Erzählweise: »Richard McGuire revolutionized the narrative possibilities of comic strips« (Ware, 1).

Dabei ist das Revolutionäre weniger durch die erzähltechnische Anlage festzustellen, sondern eher durch die Möglichkeit, die medialen Eigenschaften des Comics in unkonventioneller Form zu präsentieren. In diesem Kontext soll jene Besonderheit, comicspezifische Zeitlichkeit im eigenen Medium zu reflektieren, am Beispiel von Here untersucht werden. Außerdem wird diskutiert, inwieweit der Comic selbstreflexiv über Zeitlichkeit nachdenkt und welche Konsequenzen dies für das Denken von Zeit im Comic allgemein hat. 

Ursprünglich erschien Here in schwarz-weiß als Acht-Seiter in RAW (Vol. 2, #1, hg. v. Art Spiegelman und Françoise Mouly) und wurde schließlich 2010 als 300seitige Buchversion erweitert und publiziert.

Implizite Selbstreflexion

Reflexion bedeutet im Sinne ihrer philosophischen Definition »Selbstbezug des Denkens« (Zwenger, 1842). Dabei ist die Form der Spiegelung, die dem Begriff der Reflexion innewohnt, eine im metaphorischen und nicht im physikalischen Sinne gemeinte. Im Spiegel erkennt sich das Selbst wieder und kann aufgrund dieser Selbsterkenntnis auch sein eigenes Denken beschreiben. Im Fall des Comics wäre also selbstreflexiv, wenn der Comic seine eigene ›Denktätigkeit‹ als Comic widerspiegelt. Generell ist der Comic als Objekt nicht zur Selbsterkenntnis fähig. Als Produkt von Subjekten erhält er allerdings seine Autonomie als Kunstwerk.

Immanente Reflexion würde bedeuten, die Phänomene der Reflexion zu beschreiben. Insofern müsste der Comic, wenn er seine eigene Medialität widerspiegelt, die einzelnen Phänomene seiner Medialität innerhalb seiner selbst offenbaren. Implizite Selbstreflexion bedeutet in diesem Zusammenhang die Möglichkeit des Comics innerhalb seiner Autonomie als Kunstwerk selbst die Reflexion der Lesenden über das Medium anzuregen: 

Da der Leser unabdingbarer Bestandteil des literarischen Austausches ist, muss ein Text, dessen Hauptziel es ist, dem Leser seine Verarbeitungsmuster bewusst zu machen, als selbstreflexiv betrachtet werden, auch wenn er keine motivischen Indikatoren aufweist (Dauner, 214).

Der Comic macht insofern die Leser_innen auf bestimmte mediale Voraussetzungen aufmerksam, welche dem Medium selbst immanent gegeben sind. Um implizite Selbstreflexion unter dem besonderen Aspekt der Zeitlichkeit zu verstehen, soll zunächst ein kleiner Überblick zeitphilosophischer Überlegungen gegeben werden.

Zeitphilosophische Grundlagen

Zeit als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kann nicht physikalisch quantifiziert werden. Sie ist nur messbar, wenn die Messung in der Gegenwart beginnt und endet, wobei die Differenz zwischen zwei Augenblicken berechnet wird. Dabei kann nicht frei entschieden werden, zu welcher Zeit gemessen wird, nur im Jetzt, das heißt in der Gegenwart kann eine Zeitmessung erfolgen. Augustinus stellt in seinen Confessiones fest, dass Vergangen­heit und Zukunft flüchtig sind, weil sie eben nicht mehr sind oder noch nicht sind. Dabei ist die Gegenwart ebenso spröde, ihre Dauer ist kontextabhängig und kann als Tag oder als ein bestimmtes Jahr dargestellt werden: 

Denn meine Kindheit, die nicht mehr ist, liegt in der vergangenen Zeit, die nicht mehr ist; aber ihr Bild, das ich heraufhole, wenn ich von ihr erzähle, sehe ich im gegenwärtigen Augenblick, weil es noch in meinem Gedächtnis ist (Augustinus, 595).

Jene Perspektive auf Vergangenheit und Zukunft aus der Gegenwart heraus, jener Präsentismus (vgl. Wyller, 102) interpretiert Zeitlichkeit aus der Gegenwart eines Augenblicks, der sich mit anderen Zeitbildern aus der Vergangenheit oder Zukunft überlappen kann. 

Der Philosoph John McTaggart erkennt innerhalb des Präsentismus zwei Serien der Zeitlogik. Die sogenannte B-Serie, welche sich an der physikalischen Zeit als Folge (von früher bis später) orientiert und welche feststehend angeordnete Zeitpunkte beinhaltet, und die A-Serie, welche andere Zeitpunkte ausgehend von einem Kernzeitpunkt betrachtet (ein subjektiv festgelegter Punkt als Gegenwart). McTaggart entdeckt bei beiden Serien logische Widersprüche, weshalb er davon ausgehen muss, dass Zeit nicht exis­tiert, denn die A-Serie kann einerseits nur als Teil der B-Serie betrachtet werden (ich nehme in einer Folge 1, 2, 3, 4 die Zahl 3 als Fixpunkt, von dem ausgehend die 2 vorher war), andererseits findet sich dann die A-Serie mit jedem neuen Fixpunkt in permanenter Veränderung und es handelt sich um keine stetige Reihe mehr. Wenn verschiedene Ereignisse unterschiedlich interpretiert werden, kann man nicht von einer einheitlichen Zeit ausgehen. Aus der Perspektive der Gegenwart sind Vergangenheit und Zukunft nicht existent. Zeit ist subjektiv verankert (vgl. McTaggart, 458–459).1

Man findet insofern »die Dauer von Zeitverläufen nicht in den Ereignissen, sondern als eine Relation zwischen Ereignissen« (Wyller, 51; Herv. im Orig.). Das bedeutet allerdings, um die Dauer zwischen zwei Zeitverläufen zu verstehen, reicht es nicht, ihr Verhältnis zu kennen. Erster Fall ist relevant für die Physik, zweiter für das menschliche Zeiterleben. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden deshalb für die Physik nicht mehr quantitativ nachvollziehbar. Auch Einstein fühlte sich unbehaglich damit, ein Jetzt nicht wissenschaftlich erklären zu können. Es enthält einen unerklärlichen Mehrwert, der nicht offensichtlich bestimmbar ist (vgl. Wyller, 53).

Gilles Deleuze macht auf diesen Sachverhalt in seiner frühen Schrift Differenz und Wiederholung aufmerksam. Er unterscheidet das, was McTaggart als A- und B-Serie beschreibt, als ›reine Form der Zeit‹ und ›empirische Inhalte‹. Letztere sind einer permanenten Veränderung unterworfen, während die erste vom Stillstand ausgeht.

Denn die empirischen Inhalte sind beweglich und folgen aufeinander; die Bestimmungen a priori der Zeit dagegen sind unbeweglich, stillgestellt wie auf einem Photo oder einer erstarrten Aufnahme, koexistieren in der statischen Synthese, die an ihnen die Unterscheidung im Verhältnis zum Bild einer gewaltigen Tat vollzieht (Deleuze, 365–366; Herv. im Orig.).

Jene statische Synthese, die gefrorene Zeit, ist ein Aspekt, der Comicleser_innen vertraut erscheint. Der Comic stellt eine solche ›reine Form der Zeit‹ dar und suggeriert zudem Bewegung. Um diesen Dualismus nachzuvollziehen, soll im Folgenden genauer aufgezeigt werden, wie Zeit im Comic unter diesen Bedingungen existieren kann.

Zeit im Comic

Der Comic steht als mediale Form zwischen den räumlichen und zeitlichen Künsten, wobei letztere Kunstwerke sind, die innerhalb einer bestimmten Zeitspanne verlaufen, wie bspw. Filme oder Musikstücke. Der Comic ist zwar sequenziell, allerdings kein Zeitmedium. Er arbeitet mit induktiver Zeit oder wie Scott McCloud es ausdrückt: »Comic panels fracture both time and space, offering a jagged staccato rhythm of unconnected moments« (McCloud, 75). 

Nach McCloud stellen die Leser_innen die Induktion der Zeit her, was auch bedeutet, dass sie dem Comic die implizite Bewegung beim Rezipieren zuschreiben. Prinzipiell kann deshalb jede sequenzielle Verbindung von Augenblicken auf die moment-to-moment-Sequenz zurĂĽckgefĂĽhrt werden (vgl. SchĂĽwer, 52).2

Ein hervorzuhebender Aspekt ist außerdem das Verhältnis zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Aus ihm ergibt sich die Rhythmisierung der Comics (vgl. Baetens/Pylyser, 304), wobei hier eingeschränkt werden muss: Katharina Serles macht darauf aufmerksam, dass die Definition des medienspezifischen Rhythmus im Comic als Folge der Verschränkung von Zeit und Raum »aus bildwissenschaftlicher Perspektive […] unzulänglich« (Serles, 81) ist. Dabei verweist sie auf Jens Balzer, der die These vertritt, dass weder die Narrationstheorie, welche nur die Sequentialität im Comic berücksichtigt, noch die Ikonographie, welche die Panels als Einzelbilder analysiert, dem Comic als raum-zeitlich dualistisches (oder dialektisches) Medium in Gänze gerecht werden (vgl. Balzer, 144). Eine Erzähl­instanz im Comic ist allgemein ein eher zweifelhaftes Thema (vgl. Barbieri, 130), denn wer würde in Bildern erzählen bzw. wessen point-of-view wird im Comic (re-)präsentiert? Man kann auch hier nur wieder von den Leser_innen ausgehen; das heißt Erzählzeit kann in ihrer Dauer nicht objektiv festgestellt werden und ist vor allem subjektiv. Als lineare Lesebewegung, die sich analog zur Rezeption von Literatur innerhalb ›westlicher‹ Konventionen von links nach rechts orientiert, ist sie zwar von Autor_innen gesetzt, allerdings entscheiden die Rezipient_innen, ob sie dieser folgen. Im Beispiel des klassischen 3-panel-strips beginnt das jeweils linke Panel die Zeitlinie, das rechte beendet sie. Die Zeitlinie wird dabei deutlich hervorgehoben: springen die Leser_innen vom letzten Panel zurück zum ersten, handelt es sich um einen Sprung in die Vergangenheit: das bisher Rezipierte, das als Erinnerung aus der Vergangenheit im gleichen Moment wie die Gegenwart wiederkehren kann. 

Wir können den Blick zu früheren Paneln zurückführen, wir können zurückblättern – aber im Verfolgen des gezeigten prozessualen Geschehens verflüchtigen sich auch hier die Einzelpanel, verschwinden, sind blasse Erinnerung [...] (Grüne­wald, 24).

Die Zeitlinie zwischen den Panels in ihrer klassischen Lesart zeigt Zeit als lineare Struktur. So wie Narrativität nicht zeitlich gebunden ist (auch ein Raum kann über die Deutung seiner gleichzeitig angeordneten Objekte und seines Zustandes erzählen), ist Ikonisches auch zeitlich (Bilder können gelesen werden). Eine Zeitlinie innerhalb eines Bildes dagegen ist ein Aspekt, der den Comic der Malerei ähnlich macht. So zum Beispiel die Bewegung, die innerhalb eines Panels entsteht. Die statische Zeichnung erzeugt eine solche Bewegung oder Zeit, allerdings nur induktiv. Zeit ist nicht per se im Medium enthalten.

Bewegung und Zeit in Verbindung zu setzen ergibt wahrnehmungspsychologisch und physikalisch durchaus Sinn, denn die Zeit ist die Dauer, die zwischen zwei Augenblicken dargestellt wird. Aber wo befindet sie sich im Comic? McCloud hebt den durchaus wichtigen Faktor des Panels hervor: Durch Wiederholung desselben Panels, Streckung eines Einzelpanels oder randlose Panels kann erzählte Zeit verlängert werden (vgl. McCloud, 109–110). Allerdings bleibt der Augenblick ein Augenblick, lediglich medieninterne Zeichen deuten auf eine sequenziell gegebene Zeitlichkeit hin. Die Deutung dieser Zeichen wird den Leser_innen überlassen, sie ist keine medienimmanente Zeit, die gegeben ist, sondern die Zeit, die die Rezipient_innen aus den Zeichen des Mediums heraus deuten. Ähnlich wie der diegetische Raum ein Off enthält das nur gedanklich erweitert wird, existiert die Zeit im Comic nicht objektiv. Dabei kann die Analyse der Erzählzeit nicht die Zeitlichkeit reflektieren, die im Medium selbst eine Rolle spielt, sie wird lediglich auf die Leser_innen übertragen. Einen zeitlichen Verlauf vom Alltagswissen her einzuschätzen, ist nicht unbedingt exakt (vgl. Abel/Klein, 94). Sich dieser »letztlich paradoxen Ausgangssituation« (Abel/Klein, 92) zu stellen, ist Aufgabe der Leser_innen. Die Paradoxie entsteht nicht nur zwischen Linearität und Augenblick, sie entsteht, weil die Zeit ein Gedankengespinst ist, das im gutter nur diegetisch existiert. 

Abb. 1: Einheitlicher Raum und veränderliche Zeit (King, 15.04.1934).

Die besondere, als System von Panels arrangierte Form des Comics simuliert gerade, weil räumlich und zeitlich dargestellt wird, eine Abbildung menschlicher Zeitwahrnehmung. Der Comic macht es möglich, mehrere Zeitpunkte auf einer Seite im Verhältnis zum Raum zu sehen. Im Beispiel einer Sonntagsseite von Gasoline Alley, gezeichnet von Frank King, gedruckt in der Chicago Sunday Tribune vom 15. April 1934, spaltet sich ein über die ganze Seite und in zwölf Panels abgebildeter Raum in mehrere Zeiten auf (Abb. 1). Die Protagonist_innen Skeezix und Trixie bewegen sich während eines Dialogs in Leserichtung durch Orts- und Zeitpunkte der jeweiligen Panels. Im Überblick der ganzen Seite wird der Raum als ein nur von den gutters getrenntes, einheitliches Bild dargestellt, während die Panels unterschiedliche Zeitpunkte realisieren. Jene Zeitteile ergeben in ihrer Anordnung einen ganzheitlichen Raum (vgl. Bartual, 55–56). Gerade Erinnerungsbilder, die trotz der nachfolgenden linearen Abfolge durch die Zeit springen, rufen einen Prozess von nicht linearer Gleichzeitigkeit hervor: »memory is not a linear narrative system; it endlessly revises and recycles old materials« (Bartual, 61). Dies könnte man durchaus als »translineare Struktur« (vgl. Schüwer, 238–241) bezeichnen, die dem Comic innewohnt.

Es entsteht hier eine Form der Metazeitlichkeit, die nicht mehr als lineare, mathematische Reihe aufgefasst werden kann. Die Sequenzialität ist gerade nicht die Besonderheit des Comics – sie ist im Film auch gegeben –, sondern die Möglichkeit, Momente der Zeit in ihrer Gleichzeitigkeit zu präsentieren. »If we are sometimes unaware of this, it is because the use of the sequence in comics is, more often than not, very conventional« (Bartual, 52). Gerade Comics, die die klassische sequenzielle Reihenfolge infrage stellen, heben in ihrer Reflexion die Medialität ihres Mediums als Differenz von Zeit und Raum hervor. Insofern ist es irritierend, vom ›Fluss der Zeit‹ analog zum Film zu sprechen. Dass Roberto Bartual die Erinnerung besonders hervorhebt, liegt vor allem daran, dass der Comic als Bild immer auch Vergangenes wieder aktualisieren (im Sinne von lebendig machen) kann. Der nostalgische Moment ist, weil er nur noch in zweiter Instanz wiederhergestellt wird, der verlorene Augenblick (oder die verlorene Zeit). Das reproduzierte Bild ist Stellvertreter einer technisch unendlich reproduzierbaren Medialität, welche ihre Aura in dem Verlust der Gegenwart herstellt. Die Zeitlichkeit des punctums definiert Roland Barthes als wesentlichen Moment, der gewesen sein wird und ist: »Das punctum aber ist dies: er wird sterben. Ich lese gleichzeitig: das wird sein und das ist gewesen; mit Schrecken gewahre ich eine vollendete Zukunft, deren Einsatz der Tod ist« (Barthes, 106; Herv. im Orig.). Natürlich ist ein punctum in der Fotografie als direkte Abbildung der Wirklichkeit wirksamer als im Comic. Allerdings stellt auch der Comic durch seine mediale Beschaffenheit eine mögliche Welt her, in der die Erlebnisse der Figuren real sind. Der Stillstand ist beiden Medien eigen.

Die unterschätzte besondere Eigenschaft des Comics als Medium, welches den Augenblick, also die immer wieder verlorene Gegenwart als ewig setzen kann und so die Zeit aus ihrem Fluss reisst, ist es, welche den Comic als Kunstform besonders macht. Es geht also nicht darum, wie Bewegung simuliert wird, sondern wie der Augenblick selbst festgehalten werden kann. Hervorzuheben ist dabei, dass beim Zusammenziehen der Zeit nicht nur die Erinnerung eine Rolle spielt. Natürlich kann ein Bild der Vergangenheit in der Gegenwart präsent werden, Bartual vergisst dabei aber die Zukunft bzw. das Bild der Zukunft zu berücksichtigen.

Here als implizit selbstreflexiver Comic

Richard McGuire konfrontiert die Leser_innen mit der Endlichkeit ihrer eigenen Lebenszeit. Angesichts eines Zeitrahmens im Umfang von 3.000.522.175 Jahren, den das Buch ausbreitet, macht die menschliche (individuelle) Lebensspanne nur einen geringen Teil aus. Das Hier, der Ort, an dem alles spielt, überlebt jede Zeit, ist permanent präsent. Zentral positioniert sich das Buch um das 20. Jahrhundert und die Familie, die über Generationen in einem Haus lebt. Jedes Panel des Buches ist durch eine Jahresangabe markiert, wodurch bei ineinander verschachtelten Panels auch die Jahre im Arrangement des Gesamtbildes in Beziehung gesetzt werden. In Here stehen Augenblicke von maximal wenigen Minuten längeren Zeitspannen, durch die von Panel zu Panel gesprungen wird, gegenüber. Dieser Kontrast entsteht nicht durch einen rhythmischen Verlauf als Folge einer Gegenbewegung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit, sondern durch die gegenläufige Zeit, die zwischen den Momentaufnahmen verläuft. Genau hier präsentiert sich der Comic als sequenzielle Augenblickskunst. Wie in der Chronofotografie3 verlagert sich die Bewegung in den Ort zwischen den punktuellen Augenblicken, also in das gutter (das bei Here kaum sichtbar ist). Die Zeit verschwindet, weil sie nicht im Einzelbild, in der Gegenwart existiert, sondern als Abstraktum, das zwischen den verbundenen Momentaufnahmen entsteht. Blättert man in dem Buch, gibt es einzelne Panels, die beinahe eine Bewegung erzeugen, wie sie vom Daumenkino bekannt ist, zum Beispiel der Junge, der 1933 einen Handstand versucht (vgl. McGuire [37]–[45]).4, oder der Pfeil, der 1402 durch die Luft fliegt (vgl. ebd. [197]–[201]). Andere Seiten heben die Panelstruktur des Comics hervor, wie die Augenblicksbilder des in den Wohnraum hereinfliegenden Vogels 1998 (vgl. ebd. [167]) oder die Bewegungen des Handwerkers, der 1907 das Haus verkleidet (vgl. ebd. [238]).

Zeitlichkeit wird auch innerhalb der Dialoge zwischen den Figuren thematisiert. In der ersten Version von 1989 kündigt eine schwangere Frau im Jahre 1957 eine bevorstehende Geburt an mit den Worten: »Honey? I think its time« (Taylor, 48). Die Buchversion beginnt alternativ mit einer Frau, die etwas sucht: »Hm...now why did I come in here again?« (McGuire, [10]). Auf einer der letzten Seiten findet sie jenes gesuchte Objekt: ein Buch, vielleicht ein Fotoband oder Here selbst: »Now I remember« (McGuire, [294]). In beiden Beispielen wird die Flüchtigkeit der Zeit thematisiert: Der besondere Moment der Geburt steht dem augenblicklichen Vergessen gegenüber. Erinnerung und Vergessen sind beides Versuche, die Zeit festzuhalten.

Eigene Erinnerungen oder (Familien-)Fotos dienten als Vorlage für McGuires Werk, wie sein Arbeitsbuch bestätigt (vgl. Taylor, 30). Der Eindruck der Zeit wird zum Eindruck einer Sammlung von besonderen Ereignissen: erste Begegnungen, Schmerz, Tod. Aus jenen Augenblicken, die selbst nicht quantifiziert werden können, verbinden die Menschen eine scheinbare Kontinuität, Zeitlichkeit als Ganzes. 

Die Jahreszahlen in der linken oberen Ecke jedes Panels versuchen zudem einen Augenblick zu fangen, indem sie ihn in unsere Zeitrechnung integrieren. Dies bietet Orientierungsmöglichkeiten, die allerdings für die sequenzielle Verbindung zwischen den Panels überhaupt keine Rolle spielen. Sie machen lediglich darauf aufmerksam, dass weit entfernte Zeiten, innerhalb des kontinuierlichen Ortes in Here, zusammengezogen werden. Jenes Zusammenziehen der Zeit oder Verknoten mehrerer Augenblicke betont auch McCloud als spezifische mediale Eigenschaft im Comic (vgl. McCloud, 103–105). 

Anhand einer beispielhaften Szene aus Here kann die Verbindung zwischen den Panels verdeutlicht werden: Vier Menschen – zwei Frauen, zwei Männer – sitzen zusammen, wobei die jüngere Frau einen Witz erzählt. Parallel wird die Entstehung des Hauses gegenüber gezeigt (das ca. 150 Jahre älter ist als das, in dem sich die vier Figuren befinden). Der Bau und die Erzählung des Witzes erstrecken sich über mehrere Seiten, wobei die Entwicklung der Landschaft (ab 8.000 v. Chr.) und die Jahre des Baus (1763 bis 1766) dem Jahr 1989 gegenübergestellt werden. Als ein Zuhörer nach der Pointe zu husten beginnt und vom Stuhl kippt, wird dieses dramatische Ereignis vom bereits gebauten und nun brennenden Haus gerahmt (Abb. 2). Die Elemente sind miteinander verbunden und sie streben jeweils einen Höhepunkt an, ein Ereignis (vgl. McGuire [14]–[31]). 

Abb. 2: Montage zweier Augenblicke – Hustenanfall und Hausbrand (McGuire [30]–[31]).

Die thematisch-narrative Verbindung der Panels hat McGuire bewusst in Szene gesetzt und genau ausgewählt. Das macht eine bei Taylor publizierte Verlaufsskizze deutlich, in der er Themenblöcke alphabetisch geordnet, ihre Panelanzahl eingeschätzt und ihren Ablauf Seite für Seite in einer Tabelle konstruiert hat (vgl. Taylor, 31). Wesentlich ist jedoch, dass auf diesen wenigen Seiten ganz unterschiedliche Zeiträume verbunden werden: die Sekunden, welche die Witzeerzählerin benötigt, werden vom Autor einer langen Zeitspanne, von der Entstehung der Landschaft über das Fällen der Bäume eines dichten Waldes bis zum vollständig gebauten Haus, gegenübergestellt. Zeit wird hier durchaus relativ als sich parallel überlagernde Zeitlinien mit unterschiedlichen Zeitdauern, die hinter den spezifischen Augenblicken der Einzelbilder verschwinden, präsentiert. Der point-of-view der Leser_innen wird das Merkmal des Erzählens. Es ist keine konkrete Erzähl­instanz vorhanden. Die Rezipient_innen selbst legen mit ihrem Weg durch das Buch die Narration fest und springen durch die Zeit ohne im Lesefluss behindert zu werden. Der Raum erzählt, obwohl er seine eigene Positionierung über die Jahre nicht verändert, über seinen veränderten Inhalt. Vieles bleibt der Fantasie der Leser_innen überlassen, so auch was aus dem umgestürzten Zuhörer des Witzes wird. Ob er in diesem Moment gestorben ist, überlebt hat oder nur nicht mehr Teil jenes Ortes ist, bleibt offen und eine offensichtliche Antwort verschwindet innerhalb der fragmentierten Augenblicke.

In Here ist die Gleichzeitigkeit nicht nur auf eine Seite bezogen, sondern auf die Rahmung, welche durch den Umschlag begrenzt wird. Die Mauer des Hauses rahmt den Comic, das Buch selbst stellt den abgeschlossenen Mikrokosmos einer Seite als historischen, nicht chronologischen Verlauf dar, ein Ort, welcher mehrere Augenblicke gleichzeitig präsentiert. Dabei werden unterschiedliche medienspezifische Besonderheiten implizit selbstreflexiv verhandelt. Ereignisse unterschiedlicher Zeiten werden kausal miteinander in Verbindung gebracht: Das Reh von 1622 schreckt auf, nach hinten auf den Wellensittich von 1990 blickend (vgl. McGuire [248]). Auf das Klingeln der Tür 1986 reagiert der amerikanische Ureinwohner 1609, der sich bei seinem sexuellen Annäherungsversuch ertappt fühlt (Abb. 3). Seinen Blick zur linken Seite, auf die Lautquelle gerichtet, meint er etwas gehört zu haben. Generell wäre eine solche Verbindung zwischen zwei nebeneinanderliegenden Panels nichts Besonderes. Durch die jeweils abweichenden Jahreszahlen in den Boxen wird aber ein Sachverhalt lesbar, ohne den ansonsten nicht zum Reflektieren über Zeit im Comic angeregt werden würde.

Abb. 3: Kausalkette durch die Zeit (McGuire [92]–[93]).

Was von der Zeit ĂĽbrig bleibt

Der Comic ist eine Repräsentation des Denkens, wenn er die reflexive Vergangenheit darstellen kann, die Vergangenheit, welche gleichzeitig zur Gegenwart stattfindet und auf die Zukunft verweist. Dabei ist ein besonderer Sachverhalt, dass er bereits selbst ein Abbild der Gegenwart ist. Der Augenblick ist – im Comic eingefroren – nur ein bildlicher, kein empirischer. In dieser Hinsicht ist die Zeiterfahrung im Comic eine statische, die dem Bewusstsein aber vertraut erscheint (wir selbst nehmen nur Zeitpunkte wahr, keinen ›Fluss der Zeit‹). 

Bezüglich des Auftretens von Zeitlichkeit wurden zwei philosophische Implikationen festgestellt. Erstens: Die reale Zeit (Erzählzeit) spielt keine Rolle. Der Comic zeichnet sich als ein Medium aus, in dem Zeit stillsteht und in die Augenblicke der Panels eingefroren ist. Es ist unerheblich, wie viel Zeit beim Lesen vergeht. Insofern könnte man von einer subjektiven Zeit ausgehen, die im Comic als Kunstobjekt enthalten ist und von den Leser_innen interpretiert wird. 

Zweitens: Weil der Comic gerade keine durch bewegte Körper wahrgenommene Zeit präsentiert und insofern auch keine Dauer, sondern permanent eingefrorene Augenblicke, sind Bewegungslinien, das heißt die Linien, die Bewegung im statischen Bild simulieren (vgl. McCloud, 118–122), dementsprechend nur variierte Gegenwart, die noch den Schatten, die Möglichkeit von Bewegung (und Überbleibsel der anderen Zeitebenen) zurücklässt. Beide Implikationen stellen den Comic sowohl als reine Raumkunst wie auch als reine Zeitkunst infrage.

Narration beginnt, wenn eine Form von Abläufen subjektiv verankert wird. Erzählen bedeutet Geschehnisse als lose Augenblicke zu verknüpfen und einen Bedeutungsinhalt zu generieren. McGuire exemplifiziert das mit Here. Sein Werk spielt experimentell mit den Möglichkeiten der narrativen Grenzen des Comics, sprengt diese Narration jedoch nicht und lässt die Erzählung dadurch unvollständig werden, sondern überträgt den Leser_innen die Aufgabe, zu erzählen, um die Verbindung zwischen den Augenblicken zu knüpfen. Dabei stellt McGuire als Autor bereits potentielle Anknüpfungsmöglichkeiten her.

In der Geschichte werden isolierte Ereignisse zu einer Einheit verbunden. McTaggart hat diese Verbindung zwischen Zeit und Veränderung als pure Illusion entlarvt. Der Comic arbeitet mit der Simulation von Raum und Zeit, das heißt er arbeitet mit jener subjektiven Zeit, die nur Illusion ist. Dieses Bewusstsein für die besonderen medialen Eigenschaften des Comics stellt McGuire durch implizite Selbstreflexivität her, die durch ihre strukturelle Anlage nicht selbst reflektiert, sondern die Leser_innen über das Medium bzw. mit dem Medium reflektieren lässt. 

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Bibliografie

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Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: Frank King, 15.04.1934.
  • Abb. 2: McGuire [30]–[31]. 
  • Abb. 3: McGuire [92]–[93].

 

  • 1] Den Hinweis auf McTaggart verdanke ich Truls Wyller.
  • 2] SchĂĽwer hält die Kategorisierungen von McCloud fĂĽr zu starr, weil moment-to-moment und action-to-action-Sequenzen nicht so klar getrennt werden können.
  • 3] Auf die Parallelen zwischen Comic und Chronofotografie verweisen unter anderem Balzer, 144 und McCloud, 116–117.
  • 4] Da Here keine Seitenangabe enthält, beginnt die Zählung mit dem Titelblatt.