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Ist Selbstreflexivität im Comic eine Matter of Culture?
Eine Ethnographie zur afrozentrischen Selbstreflexivität in der Graphic Novel The Hole: Consumer Culture Vol. 1

Lisa Kottas (Wien), Martin Schwarzenbacher (Wien)

Aus einer kultur- und sozialanthropologischen Perspektive betrachtet ist ein Comic ein kultureller Gegenstand (vgl. Kottas, 166−168). Als solcher unterliegt er kulturellen Wahrnehmungsmustern, die sozial erworben werden. Ausgehend von dieser Ansicht sind auch die Sinne nicht ausschließlich psychisch-neurologisch determiniert, sondern gleichsam von der kulturellen Praxis geprägt (vgl. Prinz / Göbel, 9–10). Wie ein Comic gelesen wird, ist somit kulturell vereinbart und erlernbar. Es bedarf daher einer gewissen kulturellen Expertise, um einen Comic zu verstehen.

Im Folgenden soll die oben umrissene, anthropologische Perspektive auf Comics als kulturelle Gegenstände mit kulturspezifischen Eigenheiten anhand der Selbstreflexivität in der Afroamerikanischen1 Graphic Novel The Hole: Consumer Culture Vol. 1 (2008) (kurz The Hole) von Damian Duffy (Writer) und John Jennings (Artist) illustriert werden. Der Aufsatz stellt eine Theorie zum Signifyin(g) als selbstreflexive Kommunikationsmethode in Black Comics vor, bei der die Graphic Novel in einer Afroamerikanischen Lesekultur wahrgenommen wird. Signifyin(g) wird für diesen Artikel als kulturspezifische Strategie zur Bedeutung von Zeichen durch afrozentrische Schlüsselzeichen (keys) verstanden. Diese keys beziehen sich auf eine gruppenbezogene Kultur und Geschichte. Durch die Gruppenbezogenheit werden im Signifyin(g) Außenseiter_innen vom gruppeninternen Textverständnis ausgeschlossen und bewusst in die Irre geführt. In einer Schwarzen Leseerfahrung wird die Graphic Novel The Hole zu einem lebendigen, spirituellen Wesen, das zu seinen Schwarzen Leser_innen spricht.

Unser Ziel ist der Versuch, die Selbstreflexivität in der Graphic Novel nicht ›nur‹ zu erklären, sondern die Autoren in ihrem Menschsein und ihrem sozialen Handeln zu verstehen. Daher wird die Graphic Novel von uns nicht als Gegenstand behandelt, der einfach »da [liegt], unbeeinflußt von allen äußeren Einwirkungen [… und] nur darauf [wartet], vom Wissenschaftler untersucht zu werden« (Kremser 2001, 138), sondern als ein von Duffy und Jennings aktiv gefertigtes, kulturelles Artefakt, das in Verbindung mit der Kultur der Afrikanischen Diaspora steht.2 Nicht das Anderssein von The Hole steht im Mittelpunkt dieses Aufsatzes, sondern die erkenntnisgewinnende Bedeutung des Verstehens von kulturellen Zusammenhängen soll der Comicforschung am Beispiel von Schwarzsein gezeigt werden.

Dieses Essay beschäftigt sich zu Beginn kurz mit der Ethnographie als wissenschaftlichem Text, um die Lesenden mit dem anthropologischen Arbeiten vertraut zu machen. Dem folgt eine Einführung in das Signifyin(g) und den Afrozentrismus. Anschließend wird die Handlung von The Hole erläutert und anhand selbstreflexiver Schlüsselzeichen analysiert. Durch eine kulturelle Kontextualisierung soll den Lesenden die Diskrepanz zwischen euro- und afrozentrischer Lesart verdeutlicht werden, indem bisher ›unsichtbare‹ Zeichen der kulturellen Wahrnehmung den Leser_innen zugänglich gemacht werden. Dieses Vorgehen soll einerseits die Grenzen einer eurozentrischen Hermeneutik in der Comicforschung offenlegen, andererseits eine postkoloniale, anthropologische Comicforschung anregen und der Disziplin im deutschen Sprachraum Werkzeuge und eine Reflexionsfläche für die Erforschung von Black Comics anbieten.

Writing Culture

Das Wissen von Anthropolog_innen kommt aus dem Feld, das sie untersuchen. In diesem Feld treffen sich Menschen, ein_e Anthropolog_in und Mitglieder der untersuchten Gruppe, unter bestimmten historischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen. Ein_e Forscher_in erzeugt mit dem Auftreten im Feld die Figur des ›Anderen‹ im Verhältnis zu sich selbst (vgl. Kremser 2001, 138). Das vielschichtige, individuelle Wesen der untersuchten Menschen kann jedoch in der selektiven Wahrnehmung der Forscher_innen vereinfacht und auf bestimmte Rollen innerhalb einer Theorie ›festgeschrieben‹ werden. Daher ist zu berücksichtigen, dass der Bericht von Anthropolog_innen – die Ethnographie – nicht die Realität im Feld abbildet. Eine Ethnographie ist vielmehr »ein eigenständiges, literarisches Werk, das nur partiell mit den Originalereignissen [im Feld] übereinstimmt« (Kremser 2001, 140). Sie ist keine objektive Darstellung einer Kultur, sondern ein »Abbild […,] eine Schöpfung des Wissenschaftlers« (ebd.), die eine verarbeitete Wahrnehmung auf die Erlebnisse im Feld wiedergibt.

Die Ethnographie als Text bildet somit einen Prozess ab (vgl. Sanjek, 193), der in unserem Verständnis offen und niemals abgeschlossen ist. Dieser Aufsatz ist somit ein produzierter Text, der Fragen aufgrund von formalen Vorgaben, (noch) nicht vorhandener Erfahrung und / oder Wissen offenlassen muss. Er stellt vielmehr den Versuch dar, die Graphic Novel The Hole aus der Perspektive von Duffy und Jennings wiederzugeben und diesen Blickwinkel einem nicht-anthropologischen Publikum näherzubringen.

Im Sinne einer postmodernen Ethnographie soll der Text vielstimmig sein (vgl. Nugent, 443). Daher finden sich neben dem Text der Autor_innen auch Abbildungen aus The Hole, die nicht der Analyse dienen, aber Duffy und Jennings’ visuelle ›Stimme‹ wiedergeben sollen. Diese sollen einerseits einer (unbewussten) Stereotypisierung des ›fremden‹ Comics vorbeugen, indem unsere Beschreibungen durch die visuellen Eindrücke des Comics ergänzt werden, andererseits dienen die Abbildungen den Leser_innen zur Überprüfung unserer These, aber auch als eine Grundlage zur inneren Selbstreflexion in der Begegnung mit ›Fremdheit‹. Dieser Schritt soll dem Text neben unserer Stimme und jener von Duffy und Jennings eine für uns ›stille Stimme‹ − die innere Selbstreflexion der Lesenden − hinzufügen.

Im Gegensatz zu anderen Sozialwissenschaften nimmt die Anthropologie nicht die westliche Erfahrung zum Maßstab, um Kulturen oder Gemeinschaften zu beurteilen oder zu beschreiben, sondern »fixes each case within the widest co-ordinates – all social formations, globally, through human history« (Sanjek, 195–196). Aus dieser Sicht ist die Graphic Novel The Hole − oder ein Comic allgemein − ein kulturelles Artefakt, das mit Artefakten aus verschiedenen Kulturen und Zeiten verglichen werden kann. Als ein kultureller Gegenstand muss The Hole und das zu untersuchende Phänomen – das Signifyin(g) – in Beschreibungen der Kultur, aus der die Graphic Novel stammt, eingebettet werden, um die Sinnzusammenhänge aus einer emischen Sicht verstehen zu lernen.

›Emisch‹ beschreibt die Ebene der kulturspezifischen Wahrnehmung. Eine Person nimmt Handlungen in kulturellen Mustern wahr, die sie im Laufe ihres Lebens erlernt hat (vgl. Barnard 2006, 182). Das bedeutet, dass ein Zeichen für deutsche Betrachter_innen eine andere Bedeutung annehmen kann als für Afroamerikaner_innen. Beide Positionen (deutsch, afroamerikanisch) sind emische Sichtweisen, dennoch sind innerhalb der emischen Positionen individuelle Interpretationen aufgrund der verschiedenen Lebensgeschichten möglich. In The Hole spielen Duffy und Jennings die emischen Sichtweisen gegeneinander aus, was als Signifyin(g) bezeichnet werden kann.

Reading Culture

Der Begriff Signifying ist laut Henry Louis Gates Jr. ein Konzept aus der Black folk tradition, das sich unabhängig von Ferdinand de Saussures Zeichentheorie entwickelt hat (vgl. Gates 1983, 685). Das Afroamerikanische Signifyin(g) (oder Signifyin’) steht nicht nur wie bei Saussure für den Vorgang, ein Zeichen mit einer Bedeutung zu konnotieren, sondern meint verschiedene rhetorische Figuren wie Metalepse, Metapher, Metonymie, Synekdoche, Ironie, Übertreibung und Untertreibung. Das Signifyin(g) hat sich laut Gates vor ungefähr 200 Jahren während der Sklaverei entwickelt, um den Narrationen der Sklav_innenhalter_innen (master tropes) mit slave tropes zu begegnen (vgl. Gates 1983, 685–686). Signifyin(g) findet sich in der African-American Literature bei Schriftsteller_innen wie Ishmael Reed oder Zora Neal Hurston (vgl. Gates 1983, 700) − aber auch in der Musik des Blues und Jazz − wieder (vgl. Gates 1983, 685). Gates entwickelt 1983 mit dem Essay The ›Blackness of Blackness‹ und der Monographie The Signifying Monkey (1988) eine Theorie zum Lesen von Afro-American literature (vgl. Gates 1983, 686 sowie Gates 1988). Duffy und Jennings übernehmen − wie sie in der Bibliographie zu The Hole ausweisen − Gates’ Theorien für ihre Graphic Novel.

Unter dem Einfluss von Dell Hymes werden in der Sprachanthropologie Sprechen und Sprache nicht mit kognitiven, sondern mit soziokulturellen Phänomenen in Beziehung gesetzt (vgl. Koepping, 104–105). Signifyin(g) wird diesem Verständnis nach von soziolinguistischen Schlüsselzeichen (keys) begleitet. Anhand von keys (Gestik, Mimik, Tonfall) wird in der Kommunikation auf die eigentliche Bedeutung einer Aussage hingewiesen. Je bekannter und üblicher diese keys innerhalb einer Gruppe sind, desto subtiler sind die Signale in der Kommunikation (z. B. Zwinkern). Wenn Sprecher_innen Signifyin(g) einsetzen, führen sie einen key ein, der Zuhörer_innen signalisiert, dass die wörtliche Bedeutung einer Aussage aufgehoben wird. Das Signifyin(g) gründet sich auf einem Erfahrungshintergrund, den Sprecher_innen und Zuhörer_innen teilen; dieser erleichtert es den Zuhörer_innen, die getätigte Aussage richtig zu verstehen. Autor_innen können mit dem Signifyin(g) einer Handlung im Roman verschiedene Bedeutungsebenen hinzufügen, die jeweils unterschiedliche Leser_innenkreise ansprechen können. Ein Schlüsselzeichen kann dann zwei widersprüchliche Aussagen erzeugen, je nachdem, ob Leser_innen z. B. Schwarz oder Weiß sind (vgl. Wideman, 66).

Duffy und Jennings beziehen ihre Schlüsselzeichen aus einem ›afrozentrischen‹ Repertoire. ›Afrozentrisch‹ bezeichnet hier keine homogene Perspektive, die alle aus Afrika stammenden Personen aufgrund rassisch-biologischer oder kulturell-essentialistischer Eigenschaften teilen – solche Ansätze lehnen wir entschieden ab. Der Begriff beschreibt vielmehr ein geschichtspolitisches, bisweilen auch religiös-mythologisches Konstrukt, das vom Afroamerikanisten Molefi Kete Asante popularisiert wurde. Asantes Afrozentrismus ist u. a. als Schwarze Psychologie zu verstehen, die sich auf ein positives, auf Afrika zentriertes Geschichtsbild stützt (vgl. Walker, xxiv). Alle Schwarzen Menschen seien über ein kollektives Bewusstsein miteinander verbunden (vgl. Walker, 23), welches unter geistiger Kolonisierung (›Europäisierung‹) leide (vgl. Kottas, 123–124).

Bereits der Afrokaribisch-französische Psychologe Frantz Fanon vertritt in Peau Noire, Masques Blancs (1952) die Ansicht, dass die (meist negative) Bedeutung von Schwarzheit im Kolonialismus von Weißen festgelegt und von Schwarzen Personen unhinterfragt übernommen wird. Als besonders einflussreich gilt z. B. Georg Wilhelm Friedrich Hegels Behauptung in Geschichte der Philosophie, dass Schwarze Menschen außerhalb jeder geschichtlichen Entwicklung in einem urzeitlichen Kulturstadium verharren würden (vgl. Kment, 72). Schwarze seien daher kultur- und geschichtsunfähig. Fanon schließt daraus, dass Schwarze Menschen sich nicht selbst definieren, sondern definiert werden, was zu einer degradierenden Geisteshaltung führe (vgl. Kment, 77). Beeinflusst von Fanon, folgern Kwame Ture und Charles V. Hamilton in ihrem Werk Black Power (1967), dass die stereotype Stigmatisierung von Afroamerikaner_innen als ›faul‹, ›apathisch‹ oder ›dumm‹ einer geistigen Kolonisation entspreche, die eine politische Selbstbestimmung verhindere (vgl. Ture / Hamilton, 23 sowie 36).

[W]e will no longer call ourselves lazy, apathetic, dumb, good-timers, shiftless, etc. […] If we accept these adjectives, as some of us have in the past, then we see ourselves only in a negative way, precisely the way white America wants us to see ourselves. (Ture / Hamilton, 37–38)

Asante ruft daher die Afrikanische Diaspora auf, sich zu ›afrikanisieren‹. Die Aneignung von Motiven und Symbolen, die essentialistisch als ›Afrikanisch‹ aufgefasst werden, sollen zu einem positiven Denken3 in Schwarzen Personen führen (vgl. Walker, 78).

›Afrozentrisch‹ meint in diesem Essay die Verwendung von Konzepten aus dem Umfeld von Kulturen aus Afrika oder der Afrikanischen Diaspora. Die verwendeten Konzepte sind ausschließlich unter Berücksichtigung von Schwarzer Kultur und Geschichte zu verstehen. Ohne dieses kulturelle Wissen können die Zeichen unserer Auffassung nach nicht verstanden werden.

»Get in the Hole«4

Die Graphic Novel The Hole handelt vom jungen Afroamerikaner Curtis Cooper, der vom Vodou-Gott (loa) Papa Legba auserwählt wird, um den Geist des Kapitalismus, White Peter (Abb. 1), mittels eines alles verschlingenden Lochs im Bauch zu bekämpfen.

Abb. 1: White Peter, der Geist des Kapitalismus.

Duffy und Jennings strukturieren die Handlung nach dichotomen Schemata. So spielt ein Teil der Handlung zeitlich in der Vergangenheit der verschiedenen Protagonist_innen, der andere zeigt meist die Gegenwart aus Curtis’ Perspektive. Auch orientieren sich die Autoren an der race ihrer Charaktere, indem die Schwarzen Protagonist_innen im Laufe der Handlung in Konflikt mit Weißen Figuren geraten, was zu einem augenscheinlichen Gut / Böse-Schema führt.

Die Handlung dreht sich um den Konflikt der beiden Vodou-Götter (loa), Papa Legba und Legba Ati-Bon. Papa ist ein Schwarzer Greis und Ati-Bon zu Beginn der Handlung ein Rastafari. Papa Legba besitzt eine Einkaufstüte, in welcher sich das Schicksal der Welt befindet, die ihm Ati-Bon entwendet. Ati-Bon gibt sich eine neue Gestalt und verwandelt sich in eine Weiße Person mit Sonnenbrille und Copyright-Zeichen auf der Stirn. Er nennt sich fortan ›White Peter‹ und verlässt die diegetische Wirklichkeit, indem er das Panel verlässt und dort beginnt, Konsumprodukte zu verzehren.

Peter besitzt die Kraft, die Ausrichtung von Panels im Comic zu beherrschen, und ist in der Lage, das Publikum direkt anzusprechen. Diese Macht über die Metalepse erlangte er in einem jahrelangen, versteckten Komplott gegen Papa Legba. In der Vergangenheit erscheint Legba Ati-Bon der Schwarzen Frau Carla Bonte. Carla ist Inhaberin eines kleinen Esoterikladens in New Orleans und Vodou-Anhängerin. Ati-Bon überbringt ihr die Nachricht, dass Carla von ihrem Weißen Gatten betrogen wird. Sie geht mit dem loa einen Pakt im Tausch für den Mord an ihrem Ehemann und seiner Geliebten ein. Carla gründet die Multimediafirma Hyper-Voodoo und steigt über die Jahre zur einflussreichen Medienunternehmerin auf. Sie verarbeitet religiöse Elemente von Vodou zu Apps, Mode, Fernseh- und Radioshows usw. (z. B. Voodoo Doll Fashion, Voodoo Doc Fashion Line, Vootique). Carlas Vorgehen transformiert die Religion Vodou zur kommerziellen Marke Hyper-Voodoo, wodurch Papa Legba an Macht einbüßt und Ati-Bon ein metaleptisches Bewusstsein entwickelt. Ati-Bon bzw. White Peter ist zum (Weißen) Geist (loa) des Kapitalismus aufgestiegen, der die Graphic Novel beherrscht.

In Reaktion auf White Peters Coup erscheint Papa Legba dem Afroamerikanischen Tätowierer Curtis Cooper. Auch Curtis steht als Schwarze Figur in mehreren Fällen im Konflikt mit Weißen. So wird Curtis auf dem Weg zur Arbeit von einem Weißen Kleinkriminellen überfallen. Mit dieser Figur steht Curtis als Protagonist in einem weiteren Konflikt, da dieser im Austausch für Drogen eine sexuelle Affäre mit Curtis’ Freundin Trina pflegt. Curtis betreibt ein Tattoo-Studio im Hinterzimmer des Friseursalons seiner Mutter und seines Weißen Stiefvaters Charlie. Die Beziehung zwischen den beiden stört Curtis und er ignoriert Charlies Annäherungsversuche, was den Stiefvater sehr kränkt.

Als der greise loa Curtis in seinem Studio erscheint, entblößt Papa Legba Curtis’ Oberkörper, auf dem sich eine große Narbe in Form eines Hakenkreuzes befindet. Eine Rückblende zeigt, wie Curtis in einem Gefängnis von Neonazis bedroht und misshandelt wird. Um die neonazistische Gewalt zu beenden, schmuggelt seine Mutter eine Rasierklinge in die Krankenstation, worauf er sich das Hakenkreuz in den Leib ritzt. Über dieser Wunde öffnet Papa Legba ein schwarzes Loch in Curtis’ Körper und verschwindet wieder.

Wie kann die Bedeutung der Handlung bisher verstanden werden? Die dichotome Anordnung der narrativen Elemente wie Vergangenheit / Gegenwart, Weiß / Schwarz oder Gut / Böse kann z. B. die folgende Interpretation erwecken: Weiße Personen verkörpern das Böse in der Handlung. Der Weiße Kleinkriminelle überfällt den Schwarzen Curtis. Der Weiße Ehemann betrügt seine Schwarze Frau Carla. White Peter steht für das Sinnbild des Kapitalismus und deutet die Bereicherung von Weißen Geschäftsleuten durch die Vermarktung von Schwarzer Kultur an. Weiß ist böse, Schwarz ist gut. Selbst der Protagonist Curtis gibt während des erwähnten Raubüberfalls unumwunden zu: »I hate white people« (Duffy / Jennings, 3). Ist The Hole somit ein Fall von reverse racism?

Signifyin(g) ist eine selbstreflexive Kommunikationstechnik (»trope of tropes«) (vgl. Gates 1983, 686), die sich sozusagen bewusst ist, eine rhetorische Technik zu sein und andere rhetorische Techniken oder Figuren einsetzen zu können (vgl. Gates 1983, 689). Die Figuren in The Hole basieren alle auf rassistischen Stereotypen, wie Duffy und Jennings im Anhang angeben (vgl. Duffy / Jennings, 152): Curtis ist der brutale, hyperaggressive Brute − ein Stereotyp, das nach Beendigung der Sklaverei in den USUSA popularisiert wurde. Carla basiert wiederum auf der Mammy − einer Figur, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Bildmarke auf zahlreichen Konsumprodukten eingesetzt wurde (vgl. Strausbaugh, 276−278). Curtis und Carla sind somit keys, die auf die Schwarze Geschichte verweisen. Sie sind Figuren, die von Weißen aufgrund von Zuschreibungen erfunden wurden (vgl. Strausbaugh, 67−72 sowie 276) und somit aus einer afrozentrischen Perspektive keine essenziell ›Schwarzen Zeichen‹ sind. Die Stereotype fungieren als rhetorische Figuren, die von den Autoren in Stellung gebracht werden, um diese und die Vorstellung von race kritisch zu parodieren.

Diese kritische Parodie wird ersichtlicher, wenn auf die Figur des namenlosen Weißen Kleinkriminellen verwiesen wird (Abb. 2). Dieser konsumiert Gangsta Rap und führt einen Lifestyle aus Drogen, Sex und Kriminalität. Diese Figur basiert auf dem »Superthug« bzw. »Gangsta«. Dieses Hip Hop-Stereotyp wurde durch den Rapper Tupac eingeführt und z. B. von 50 Cent, DMC oder Ja Rule popularisiert. Dem Superthug wird Dummheit und ein schlechter Geschäftssinn nachgesagt, weswegen er seinen Lebensunterhalt mit Drogen und kleinen Raubüberfällen verdient (vgl. Whalen, 41–42). Obwohl diese Figur im Comic farblich klar weiß dargestellt wird, leugnet sie ihre Weiße Identität, indem sie angibt: »Bitch, I ain’t white, I’m light skinded [sic!]« (Duffy / Jennings, 22). Nicht die Hautfarbe sagt etwas über die Figuren aus, sondern der gesellschaftliche und historische Kontext gibt ihnen ihre afrozentrische Bedeutung. Damit eröffnet erst das kulturelle Wissen die Bedeutung einer Aussage oder eines Zeichens.

Abb. 2: Referenz auf das Cover von Superman Nr. 1 (1939).

Gleichzeitig spielen die Handlung und die dichotome Anordnung mit den Erwartungen von Leser_innen, da der Aufbau und die Aufmachung des Comics mit Tropen des Superheld_innen-Genres arbeitet (vgl. Abb. 3): Die Rückblicke in die Vergangenheit sollen narrativ zeigen, warum die Figuren Curtis und Carla so sind, wie sie nun sind (im Sinne von Ursache / Wirkung oder der Secret Origin-Trope). Ihre tieferliegende Bedeutung in der Schwarzen Geschichte hebelt aber die Narration aus, da die Erzählung nicht erklären kann, warum diese Figuren Stereotype sind. Im Signifyin(g) wird durch Schlüsselzeichen angezeigt, dass die wörtliche Bedeutung annulliert wird. In diesem Fall macht das Signifyin(g) den Plot bedeutungslos – er ist nur eine Ansammlung von rhetorischen Figuren, die eine Parodie auf die Struktur und Tropen von Superheld_innen-Geschichten ergibt (z. B. das Gut / Böse-Schema), wie im folgenden Abschnitt argumentiert wird.

Abb. 3: Der Superthug und Curtis’ Freundin Trina.

Abb. 4: Ankündigung von The Hole Vol. 2.

White Peter: Signifying Monkey

Trotz des Vorfalls mit Papa Legba verlebt Curtis einen normalen, unauffälligen Arbeitstag im Tattoo-Studio und fährt zu seiner Freundin Trina, die Carla Bontes entfremdete, drogenabhängige Tochter ist. Als Trina an Curtis Oralsex ausübt, öffnet sich das Loch in seinem Bauch und eine Hand zieht Trina in sich hinein. Papa Legba tritt gewaltsam aus dem Loch, wodurch Curtis’ Superkräfte aktiviert werden, und verschwindet wieder. Trina und Curtis verschmelzen miteinander zu einem androgynen Mischwesen, das zu einer Hälfte aus Curtis und zur anderen aus Trina besteht. In dieser transformierten Gestalt planen sie Carla Bonte zu überwältigen und sie zu zwingen, ihren Pakt mit White Peter zu widerrufen. Die Handlung schließt mit der Ankündigung von Band 2 (Abb. 4).

Auf der nächsten Seite erscheint White Peter und adressiert die Lesenden direkt. Er prahlt damit, wie ›großartig‹ die Graphic Novel ist und dass er bereits die Rechte an der Verfilmung hält. Er hasse zwar Comics, aber er kaufe Filmrechte auf, damit sie niemand sonst bekommt. Der Film wird, wie White Peter in einer Vision feststellt, produziert werden. Im Film überfällt Curtis einen Voodoo-Shop und verärgert damit eine Voodoo-Göttin. Das schwarze Loch manifestiert sich in seinem Unterleib. Anschließend verwandelt ihn die Voodoo-Göttin in eine Frau. Aus der Graphic Novel The Hole: Consumer Culture wird der Film Tha Hole: Git Yo’ Voodoo on!, welcher wesentlich von der eigentlichen Handlung des Comics abweicht.

Abb. 5: White Peter adressiert die Leser_innen.

Abb. 6: White Peters Macht über die Panel.

Für die Deutung der Graphic Novel ist die Schlusssequenz essenziell (Abb. 5). Hier tritt die Selbstreflexion des Comics, die Superheld_innen-Parodie, am deutlichsten zutage. Die Handlung bricht mit der geäußerten Absicht von Curtis und Trina ab, den Bösewicht, White Peter, zu stellen. Statt des erwarteten ›Endkampfs‹ zwischen Gut und Böse, erscheint der Schurke und erzählt den Lesenden stolz von den Änderungen, die er im kommenden Film an der Handlung vornehmen wird. Er parodiert die Plot-Elemente, wie oben beschrieben, und drückt damit seine Macht als Geist des Kapitalismus aus. Der Held ist eine Figur einer Comic-Narration und damit Teil eines kapitalistischen Massenproduktes. Peter nimmt in der Narration die Rolle eines Metaerzählers ein. Nachdem er sich von Legba Ati-Bon in White Peter verwandelt hat, verlässt er die Handlung bzw. die erzählte Wirklichkeit, indem er aus dem Panel steigt (Abb. 6) und fortan in Zwischensequenzen die Handlung kommentiert. Für diese Sicht spricht auch, dass die Graphic Novel The Hole, wie im Comic gezeigt, ein Objekt in Peters Händen ist (Abb. 7).

Abb. 7: The Hole als Graphic Novel in der Graphic Novel.

The Hole ist demnach eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte, die miteinander in Wechselwirkung stehen. Sie besitzt aus unserer Sicht drei narrative Rahmen, die den Lesenden nicht deutlich kommuniziert werden. Um ihre afrozentrische Interpretation zu verstehen, muss die Graphic Novel von innen nach außen gelesen werden. Die Anordnung der Erzählrahmen erfolgt nicht z. B. nach dem Schema Rahmen 1 › Rahmen 2 ‹ Rahmen 1 (d. i. die ›klassische‹ Rahmenerzählung), sondern Rahmen 3 ‹ Rahmen 2 ‹ Rahmen 1 › Rahmen 2 › Rahmen 3.

Rahmen 1 ist hier die Superheld_innen-Parodie, die oben beschriebene Handlung ohne Peters Schlusssequenz. Peters Auftritt verhält sich wie eine Metaebene zur Geschichte. Er reflektiert darin spöttisch den Plot und veralbert den Helden Curtis. Peters Polemik dient als zweiter Rahmen, eine (versteckte) Kritik an seine Leser_innen, die ersichtlich wird, indem diese Sequenz mit der Afroamerikanischen Geschichte vom Signifying Monkey verglichen wird.

Der Signifying Monkey ist eine traditionelle Erzählung, die sich im Laufe der Sklaverei in der Schwarzen Diaspora gebildet hat. Gates nimmt an, dass sie sich aus westafrikanischen Erzählungen entwickelt und ihre Ausgestaltung auf Kuba erhalten hat (vgl. Gates 1983, 687−688). Die Erzählung baut auf das Beziehungsdreieck zwischen den Freunden Affe, Löwe und Elefant auf. Der Löwe ist der selbst ernannte König des Dschungels, während der Elefant mit seiner körperlichen Überlegenheit der eigentliche König ist. Im Verhältnis der Tiere zueinander zeichnet sich ein deutliches Machtgefälle ab: Der Elefant ist stärker als der Löwe, der Löwe ist stärker als der Affe. Der Affe macht seinen Nachteil gegenüber dem Löwen durch Signifyin(g) wett. Der Affe erzählt dem Löwen, wie der Elefant ihn hinter seinem Rücken beleidigt. Der Löwe geht erbost zum Elefanten und fordert vehement eine Entschuldigung; dieser verprügelt ihn nach mehrmaliger Klarstellung, dass es sich um ein Missverständnis handeln müsse. Der Löwe verliert dadurch seinen Status als Herrscher über den Dschungel und kehrt zum Affen zurück, um sich an dem vermeintlich schwächeren Tier abzureagieren. Dort erkennt der entthronte König, dass der Affe mit den Worten mächtiger ist; er wurde ausgetrickst. Der Löwe nahm die Erzählung des Affen wortwörtlich, doch war sie im übertragenen Sinne gemeint. Dies drückt sich auch in dem Anspruch der tierischen Königswürde aus: Der Elefant ist der tatsächliche, der Löwe hingegen der bezeichnete König des Dschungels. Der Affe uriniert aus Spott über dessen Statusverlust von seinem Baum auf den Löwen und ist ihm, solange er in den Wipfeln weilt, überlegen (vgl. Gates 1988, 55–56).

Die Schlusssequenz ist damit ein weiterer key, der anzeigt, dass die Handlung nur eine Parodie auf das Verhältnis zwischen Erzähler_in und Leser_in ist. Leser_innen nehmen Geschichten viel zu ernst und sind aufgrund ihrer Wahrnehmung nicht in der Lage, diese als ein System von ›bloßen‹ Zeichen zu fassen. Denn: »[…] these are only tropes, figures of speech, rhetorical constructs […,] and not some preordained reality or thing« (Gates 1983, 723).

Peter nutzt diesen Umstand zu seinem Vorteil und stellt wie der Affe seine Opfer bloß. Wie der Löwe im Dschungel nicht der König ist, sondern nur als solcher bezeichnet wird, so ist ›Comic-Leser_in‹ in der Konsumgesellschaft nur eine andere Bezeichnung für ›Konsument_in‹. Als genau solche behandelt der Geist des Kapitalismus die Leser_innen, indem er den zweiten Band und den Film in einer rhetorischen Metalepse bewirbt (vgl. Abb. 5), die beide jedoch nie produziert wurden. Das ›Vol. 1‹ im Namen von The Hole: Consumer Culture Vol. 1 ist nur eine rhetorische Figur, die ein weiteres Element der Comic-Parodie ist. Die Leser_innen werden vom Signifyin(g) Comic, den White Peter in der Graphic Novel repräsentiert, in ihrer Gutgläubigkeit reingelegt: »To read these figures literally […] is to be duped by figuration, just like the signified Lion« (Gates 1983, 723).

Legba: Talking Book

Der dritte Rahmen − neben der Superheld_innen-Parodie (R1) und Konsument_innenkritik (R2) − ist jener des Dialogs zwischen Medium und Leser_in. Dafür werfen wir den Blick auf die Figur Papa Legba. Legba ist im haitianischen Vodou der Herr der Wegkreuzungen zwischen den Realitäten. Er stammt von der westafrikanischen Òrìshà-Gottheit Èshù-Elégbára ab und ist dessen haitianische ›Version‹. Èshù fungiert als ›Zollbeamter‹ zwischen der Welt der Menschen und der Götter. Er verwaltet die kosmische Lebensenergie (ashé) in ihrer undefinierten Form und entscheidet über ihre Freigabe. Ohne seine Zustimmung kann auf diese nicht zugegriffen werden (vgl. Kment, 160). Èshù gilt als der universale Übersetzer, denn er spricht alle Sprachen im Kosmos. Er verkörpert demnach auch das Sprechen und ist letztendlich auch ein Diskurs (vgl. Gates 1988, 6–9).

Legba nimmt nun bei Duffy und Jennings eine zentrale Bedeutung für die Interpretation von The Hole ein. Er stellt nämlich, wie unten argumentiert wird, den Comic in seiner Form als auch in seinem Inhalt dar. Legba ist der Comic.

Um dies zu verstehen, möchten wir nochmals auf unsere Eingangsthese verweisen: Der Comic ist ein kultureller Gegenstand. Gegenstände können neben ihrer materiellen, physischen Form auch aus immateriellen, geistigen Komponenten bestehen (vgl. Hahn, 9–10). Ein bocio ist in Westafrika z. B. ein materielles Objekt, das die spirituellen Kräfte der Götter in sich speichert. Das Objekt ist aber nicht magisch per se, sondern benötigt eine rituelle Aktivierung (vgl. Hödl).

So verhält es sich auch mit Legba und dem Comic. Die Graphic Novel ist ein materielles Objekt, das aus Einband, Papier, Farbe und Tinte besteht; dennoch speichert es mittels einer afrozentrischen Lesart die immaterielle Kraft von Legba in sich ab, indem der Comic mit Signifyin(g) rituell aktiviert wird. Dafür versehen die Autoren die rot hinterlegten Deckblätter von The Hole mit goldfarbenen vèvès, rituellen Bodenzeichnungen aus dem Vodou (Abb. 8). Jede Gottheit verfügt im Vodou über ein einzigartiges vèvè – ein Wappen –, das aus klar definierten Grundmotiven besteht (vgl. Keller, 57). Papa Legbas Kennzeichen ist das Kreuz, da er der Herr der Wegkreuzungen ist (Abb. 8).

Abb. 8: Legbas rituelles ›Wappen‹ (vèvè).

Legbas vèvè dient mit seiner Positionierung an den Deckblättern als das erste Schlüsselzeichen in Duffys und Jennings’ Signifyin(g) Comic, das die Bedeutung des Comics als übernatürliches Objekt festlegt. Die Graphic Novel ist damit als ein rituelles Objekt zu verstehen, das die Kräfte von Legba kanalisiert. Die vèvès und die textliche Anrufung an Èshù und seine Verkörperungen, geschrieben als Vorwort von Dana Rush (vgl. Duffy / Jennings, [4–5]5), signalisieren denjenigen, die das vèvè als key lesen können, dass es sich um eine spirituelle Leseerfahrung handelt. Legba als Meister aller Sprachen belebt und verkörpert die Graphic Novel. Er verleiht The Hole einen spirituellen Sinn.

Ein weiteres Schlüsselzeichen zeigt sich beim ersten Aufeinandertreffen von Papa Legba und Legba Ati-Bon, bevor sich letzterer in White Peter verwandelt. Papa identifiziert Ati-Bon als petwo (vgl. Duffy / Jennings, 12). Die Identität von einzelnen loa gestaltet sich im Vodou fluide, sodass eine Gottheit mehrere Aspekte besitzt. Hauptsächlich verkörpern sich loa als rada und petwo. Während die rada-loa für Afrika, Familie, Heimat, Friede und Wohlwollen stehen, reflektieren die petwo die schmerzhafte Erfahrung des Kolonialismus. Die petwo sind der gefährliche, ›böse‹, ›schwarzmagische‹ Aspekt (vgl. Keller, 55–56). Obwohl sich Ati-Bon in White Peter verwandelt, bleibt er ein Aspekt von Legba; denn der Name ›Peter‹ verweist auf den Heiligen Petrus, welcher auf Haiti als christliche Verkörperung Legbas gilt, da er der Hüter der Himmelspforte ist (vgl. Reuter, 35).

Anders als es der Konflikt zwischen den beiden Legbas vermuten lässt, handelt es sich bei der Auseinandersetzung nicht um einen Konflikt Gut gegen Böse, sondern um eine Kritik an dieser dichotomen Einstellung, wie sie in Unterhaltungsmedien zu finden sind und Duffy betont:

There is no Devil figure, no defined demarcation between good and evil in Vodou, only the psychological complexity of humanity itself. (Duffy zit. n. Duffy / Jennings, 155)

Die Autoren scheinen vielmehr die beiden Legba-Aspekte rada (Papa) und petwo (Ati-Bon / Peter) wie in der Afroamerikanischen Literaturtrope Talking Book zu verwenden. Diese Trope beschreibt die ambivalente Erfahrung von Schwarzen mit der Bibel durch ihren Missbrauch im Versklavungssystem (vgl. Callahan, 20 sowie Gates 1983, 700–701). Der Begriff ›Talking Book‹ geht auf die Memoiren des ehemaligen Sklaven James Albert Ukawsaw Gronniosow zurück. Er beschreibt seine Erfahrung mit der Bibel wie folgt:

[W]hen I first saw him [the master] read [the bible], I was never so surprised in my life, as when I saw the book talk to my master, for I thought it did, as I observed him to look upon it, and move his lips. (Gronniosow zit. n. Callahan, 13)

Gerade der Umgang mit der Bibel bleibt durch seinen Missbrauch im Versklavungssystem ambivalent, wird aber von der Afroamerikanischen Literatur annektiert (vgl. Callahan, 20). Die Erfahrung mit der Bibel bildet auch die Absicht der Heilung ab, denn wenn das Heilige Buch ›spricht‹, kann es Schwarze entweder vergiften (indoktrinieren, gefügig machen) oder heilen (rebellieren, befreien, erlösen) (vgl. Callahan, 25−26 sowie 38−39).

Ähnlich bieten Afrokaribische Religionen wie der Vodou ihren Anhänger_innen einen Rahmen zur therapeutischen Heilung und afrozentrischen Persönlichkeitsentwicklung (vgl. Kremser 2005, 13). Wie die Bibel die zwiespältige Erfahrung des Christentums wiedergibt, stellt The Hole als Talking Book die ambivalente Erfahrung in einer Konsumgesellschaft dar. Indem Legba sich in seine zwei konträren Aspekte spaltet, provoziert er einen Dialog mit den Lesenden. White Peter stellt als petwo den schmerzhaften, giftigen Anteil des Comics dar. Er konsumiert – oder besser: verschlingt − Pornos, sexistischen Gangsta Rap und gewaltverherrlichende Spiele. Er ist das Gift. Mit Peter ›äfft‹ Legba als lebender Comic seine Leser_innen in obszöner Manier nach und macht sich über sie lustig (Abb. 9); die Bilder sind spöttisches Nachahmen ihrer Konsument_innen.

Abb. 9: Visuelles Signifyin(g).

Papa Legba ist die heilende, befreiende message des Mediums. Indem Legba als kommunikatives Prinzip mit White Peter der Konsumindustrie ein Gesicht gibt, kann Papa Legba auf etwas verweisen und es durch Signifyin(g) kennzeichnen. Er fungiert für die Leser_innen als ›spirituelle Firewall‹ zwischen White Peter und dem ›giftigen‹ Konsumismus. Mit seiner Anwesenheit ist die Graphic Novel in einer afrozentrischen Lesart kein Konsumprodukt oder Unterhaltungsmedium mehr, sondern ein spirituelles Objekt, das seine Leser_innen vor den negativen Einflüssen der Konsumgesellschaft schützt und in einer Auseinandersetzung aufklärt. The Holes Gift wird über die spirituelle Bedeutung von The Hole zu einem Gegengift; Peters Nachäffen und die verwendeten Stereotype erhalten die Funktion, in den Comic-Konsument_innen eine (kritische) Selbstreflexion hervorzurufen. Die Leser_innen sollen lernen, sich ein eigenes Bild, fernab konsumistischer ›Identitätsangebote‹, zu schaffen, wodurch sie geistig vom dominanten, stereotypen Zeichengebrauch ›entkolonisiert‹ und damit ›befreit‹ werden. Sie sollen erkennen, dass sie sich selbst definieren können und nicht nur ›bloße‹ Zeichen im konsumistischen Kreislauf sind, wie Ture und Hamilton ausführen:

When we begin to define our own image, the stereotypes […] that our oppressor has developed will begin in the white [consumer] community and end there. (Ture / Hamilton, 37)

Aus einer anthropologischen Perspektive heraus wird durch The Hole ersichtlich, dass die Gestaltung und Thematisierung von Selbstreflexivität auch von soziokulturellen Codes und Traditionen abhängig ist. Für eine Person, die Vodou für Aberglauben hält oder die rituelle Symbolik (vèvè) nicht lesen kann, sind bestimmte Ebenen und Formen der Selbstreflexivität nicht zugänglich. In einem ›kulturblinden‹ Blick könnten nur White Peters Metalepsen wahrgenommen werden; der lebendige Diskurs (Legba) und die Talking Book-Elemente (Papa Legba / rada / good book und Legba Ati-Bon / petwo / poison book), die den Lesenden zur Auseinandersetzung und Reflexion auffordern, gingen dabei verloren. Auch das Signifyin(g) ist eine kulturspezifische Kommunikationstechnik, die in gewisser Weise über Selbstreflexion verfügt. Sie ordnet als metaleptischer Sprechakt Zeichen und rhetorische Figuren an, um lesende Rezipient_innen buchstäblich in die Irre zu führen. The Hole könnte durch die dichotome Anordnung von ›Weißen‹ und ›Schwarzen Zeichen‹ als eine anti-Weiße Geschichte gelesen werden. Mit der Einführung von versteckten Schlüsselzeichen wird die afrozentrische Deutung jedoch an den Leser_innen ›vorbeikommuniziert‹. Denn während diese keys im Leseerlebnis nach und nach entdeckt und berücksichtigt werden, ›aktualisiert‹ sich die Bedeutung der Graphic Novel im Verhältnis zu den Schlüsselzeichen. So wird die vermeintliche superhero story unter Berücksichtigung des keys ›Signifying Monkey‹ zu einer versteckten Polemik gegen Konsument_innen, während die vèvès die Graphic Novel letztlich zu einem wohlwollenden, spirituellen Medium transformieren, das mit seinen Rezipient_innen einen selbstreflexiven Dialog über die Konsumgesellschaft eingeht.

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Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: Duffy / Jennings, 62.
  • Abb. 2: Duffy / Jennings, 139.
  • Abb. 3: Duffy / Jennings, 21.
  • Abb. 4: Duffy / Jennings, 144.
  • Abb. 5: Duffy / Jennings, 145.
  • Abb. 6: Duffy / Jennings, 15.
  • Abb. 7: Duffy / Jennings, 143.
  • Abb. 8: Duffy / Jennings, Deckblatt.
  • Abb. 9: Duffy/Jennings, 52.

 

  • 1] Indem wir bestimmte Adjektive wie »Afrikanisch«, »Afroamerikanisch«, »Weiß« oder »Schwarz« großschreiben, signalisieren wir, dass diese soziokulturell geformte Konstruktionen – statt ethnisch oder rassisch – essentialistische Eigenschaften sind. In diesem Ansatz folgen wir dem Wiener Anthropologen Werner Zips: »Die Großschreibung des Adjektivs ›Schwarz‹ soll verdeutlichen, daß mit dem Begriff ein ›Signifier‹ für eine historische und kulturelle Erfahrung gemeint ist, die nicht in essentialistischer Wendung auf die Hautfarbe zu reduzieren ist« (Zips 2007, 35).
  • 2] Die ›klassische Anthropologie‹ (früher Völkerkunde oder Ethnologie) verfolgte bis über die 1980er Jahre hinaus ein positivistisches Wissenschaftsideal, um die Disziplin gegenüber den Naturwissenschaften aufzuwerten (vgl. Roehl / Amigo). Dabei wurden ideale Untersuchungsbedingungen wie im Labor suggeriert (vgl. Kremser 2001, 138) oder wie im Fall von Claude Lévi-Strauss mathematikgleiche Formeln oder Diagramme verwendet (vgl. Barnard 2000, 130–135), um den Anschein vollkommener Objektivität zu erwecken. Auch wurde die Komplexität von den untersuchten, nicht-westlichen Gesellschaften ›heruntergespielt‹; diese stünden nämlich auf einer niederen, einfacheren Kulturstufe, unfähig für sich selbst zu sprechen (dafür brauchte es schließlich Ethnolog_innen) (vgl. Zips 2001, 195) und lebten in romantischer Idylle (vgl. Roehl / Amigo). Im Laufe der sogenannten Writing Culture-Debatte der 1980er Jahre verändert sich die Einstellung der Ethnologie, die sich von einer »Erklärungswissenschaft« (wie Physik) zu einer »Verstehenswissenschaft« (wie Geschichte) entwickelte (vgl. Roehl / Amigo). In diesem Zusammenhang werden die geschichtlichen und politischen Einflüsse der untersuchten Gesellschaft berücksichtigt (vgl. Kremser 2001, 138). Dieses Essay hat daher primär die Menschen hinter dem Medium im Blick. Weder Kultur, noch Comic werden als eigenständige, essenzialistische Phänomene gefasst, sondern als von Menschen abhängig und gemacht. In diesem Sinn halten wir es mit dem anthropologischen Ethos, »die Akteure […] in ihrem Mensch-Sein [zu] respektier[en]« (Kremser 2001, 13 8).
  • 3] Gleichzeitig muss beim Afrozentrismus beachtet werden, dass es sich um keine originär Afrikanische Praxis handelt, sondern von der New Thought-Bewegung beeinflusst ist. ›New Thought‹ ist ein Sammelbegriff für christlich-protestantische Strömungen, die Mitte des 19. Jahrhunderts in den USA entstanden sind. Im Zentrum steht die Annahme, dass die Macht der Gedanken Einfluss auf das Leben, Gesundheit und materielle Umwelt eines Individuums hat. Negatives Denken führt zu Krankheit oder Unglück im Leben, positives Denken ermöglicht ein glückliches, erfülltes Leben und ist in der Lage, Krankheiten zu heilen. Gott wird im New Thought als universeller Geist (mind) betrachtet; alles Sein ist von ihm durchdrungen und findet seine höchste Form im menschlichen Geist. Bereits der Panafrikanist Marcus Garvey übernimmt zu Beginn des 20. Jahrhunderts Elemente von New Thought und fordert Afrika auf, sich geistig zu entkolonisieren (vgl. Kottas, 126–128).
  • 4] Turner, 101 zit. n. Duffy / Jennings, 153.
  • 5] Die Graphic Novel weist für bestimmte Passagen zu Beginn keine eigene Seitenzählung auf. Die interne Seitenzählung beginnt auf der 18. Seite (ab dem Titelblatt) mit S. 1. Daher stellen wir die nicht ausgewiesenen Seiten in eckigen Klammern dar. Unsere Zählung erfolgt in diesem Fall ab dem Titelblatt.