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Familiale (Erinnerungs-)Objekte.
Doing Family in zeitgenössischen Graphic Novels: Line Hovens Liebe schaut weg und Birgit Weyhes Im Himmel ist Jahrmarkt

Katrin Ullmann (DĂĽsseldorf)

Line Hovens Graphic Novel zu einer deutsch-amerikanischen Familiengeschichte im kurzen 20. Jahrhundert in Deutschland beginnt mit der Ansicht eines stillen Raums. Kein Mensch ist da, nur zum Teil abgedecktes Mobiliar. Umzugskisten. Noch bevor die Geschichte losgeht, erinnern die Räume an das, was war. Längst bevor die Leser_innen auch nur einen Protagonisten kennengelernt haben, sehen sie die anonymen Spuren derer, um die es noch gehen wird.

Birgit Weyhe beginnt mit gezeichneten Familienfotografien: Das Bild einer Einschulung, eine alte Frau mit kleinem Hut. Ein Mann mit Kaiser-Wilhelm-Schnäuzer. Bilder von prägnanten Momenten, eine Taufe, ein Kinderportrait. Auf dem Cover und der ersten Seite der Graphic Novel1 überwiegt schon die Vergangenheit.2 Noch bevor die Geschichte beginnt, werden ihre möglichen Protagonist_innen kenntlich. Durch ihre Kleider, Haltungen und Inszenierung wiederum werden sie als historische Zeitzeug_innen lesbar, in ihrer Versammlung als Familie deutbar, noch bevor ein Wort geschrieben wird.

Abb. 1: Familiäres Beisammensein (Hoven 2008, 52).

Wer sich Graphic Novels, die in den letzten Jahrzehnten erschienen sind, anschaut, dem muss die intensive Beschäftigung vieler Autor_innen mit eigenen wie fremden Familiengeschichten auffallen (vgl. auch Klingenböck, 123–126).3 Doch werden diese Geschichten nicht allein über ihre Protagonist_innen erzählt, sondern immer wieder auch und vor allem über Dinge. In meinem Beitrag soll es deshalb um Objekte im Comic gehen, die die Vorstellung, eine Familie zu sein, mit herstellen und in der Zeit verdichten: Sie unterstützen die Kreation einer familiär (mit)geteilten historischen Zeit für die gezeichnete Geschichte, aber sie geben den Protagonist_innen – wie ich im Folgenden zeigen werde – auch eine Vorstellung von Familienzeit und -raum. Über die Dinge in (Zeit-)Räumen erst werden die Protagonist_innen zu Figuren mit Vergangenheit und Zukunft. Aber vor allem gewinnt über das wiederholte Zeigen und Darstellen der Gegenstände ›Familie‹ auch für die Leser_innen erst an Authentizität. Denn Erkenntnissen einer eher kulturwissenschaftlichen Familienforschung4 entsprechend sind auch ›Comicfamilien‹ nicht vor vornherein verwandt, sondern müssen es performativ immer wieder werden.

Anhand der von mir ausgewählten Untersuchungsbeispiele – Line Hovens Liebe schaut weg (2008) und Birgit Weyhes Im Himmel ist Jahrmarkt (2013) – soll im Folgenden den familiären (Erinnerungs-)Objekten in beiden biographisch inspirierten Comics und ihren jeweiligen performativen Funktionen für das »Doing Family« (Schier  /  Jurczyk, o. S.) nachgegangen werden. Damit möchte ich zudem einen vergleichenden Blick auf das familial-biographische, transgenerationelle Erzählen im Comic werfen, das in beiden Fällen auch ein Erzählen von der Geschichte des »extremen« 20. Jahrhunderts (Hobsbawm) und seiner »langen Schatten« (Assmann) ist.

Abb. 2: Wechsel der Stilmittel (Weyhe, 173).

Line Hovens (2008) Monografie Liebe schaut weg ist aus ihrer Diplomarbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg hervorgegangen.5 Sie behandelt darin in vier Episoden die eigene transnationale Familiengeschichte.6 Die Bildergeschichte wurde von ihr aus Schabkarton herausgekratzt. Wie bei einem Holzschnitt werden dafür aus dem dunklen Karton, einem Negativbild gleich, helle Linien, Flächen, Konturen und Schraffuren herausgearbeitet. Es handelt sich also um eine (zeit-)aufwendige, höchst präzise Arbeit. In der Ankündigung eines Workshops der Autorin heißt es zu dieser Technik: »Der Schabkarton ist eine fast vergessene Zeichentechnik. Die Besonderheit liegt darin, Bilder zu schaffen, die aussehen wie aus einem Film Noir oder von einem alten Holzschnitt. Wo setzt man Licht, und wo lässt man Dunkelheit regieren?« (Hoven 2014, o. S.) Für die Arbeit am Schabkarton brauche es »nur Liebe zum Detail, ein wenig Durchhaltevermögen und Mut zu Schwarz« (ebd.). Hoven zeigt also mit Liebe schaut weg eine Familiengeschichte in Schwarz-Weiß, die sich an die Ästhetik älterer Medien anlehnt und diese für die Darstellung der eigenen Familiengeschichte nutzt. Die familiären Episoden werden dabei – unter anderem mit Möbeln, Kleidung, Frisuren aus der jeweiligen Zeit detailreich angereichert – durch die schwarz-weißen holzschnitthaft stillstellenden Bilder zu kleinen Miniaturen verdichtet.

Dieses Vorgehen lässt sich schon als erste Explikationsstrategie des Umgangs mit familiärer Erinnerung deuten, insofern sie die zu Erzählungen verfestigten familiären Geschichten damit sowohl in ihrer Statik kennzeichnet, als auch mit Details ausstattet. Objekten kommt daher in Liebe schaut weg eine wichtige Rolle zu, weil sie als materielle Erinnerungsträger der Geschichte eine formale Gestaltung geben sowie ihren Inhalt ausbilden, aber auch ergänzen.

Birgit Weyhe beschäftigte sich bereits in ihrer Diplomarbeit Ich weiß (2008) mit »autobiographischem Erzählen im Comic« (Weyhe o. J., o. S.). Die Themen (Auto-)Biografie, Erinnern, Geschichte und Politik spielen in ihrem Werk insgesamt eine wichtige Rolle.7 In Im Himmel ist Jahrmarkt (2013) behandelt sie – von der Autorin selbstgezeichnet und gelettert – ihre eigene Familiengeschichte, der Fokus liegt auf der Großelterngeneration.8 Die schwarz-weißen Zeichnungen sind in der Regel fein gezeichnet, werden aber immer wieder für einzelne Panels durch andere Stilmittel durchbrochen. Dann werden die Linienführungen etwa wilder und expressiver, kraftvoller, zum Teil fast expressionistisch (u. a. Weyhe, 69; 71; 78; 189) oder auch im Gegenteil genauer, naturalistischer, dokumentarischer (u. a. ebd., 33; 92; 97; 99; 225; 236; 255). An wieder anderen Stellen finden sich stark reduzierte symbolhafte Zeichnungen, die an holzschnittartige Schatten-, Fabel- und/oder Fantasiefiguren erinnern (u. a. ebd., 177; 226f.; 251; 249; 258f.) oder Figuren stark überzeichnen (ebd., 226; 233; 243).

Mit den Stilwechseln werden zum Teil andere Quellen zitiert, in ihnen spiegeln sich dramatische Umbrüche, erweiternde Handlungsebenen oder auch Emotionen der Protagonist_innen. Dabei sind es häufig Dinge, die den Stilwechsel einleiten. An den Gegenständen zeigen sich auch die Emotionen der Protagonist_innen: Zum Beispiel anhand eines Schulranzens (Abb. 2), um dessen Gestaltung praktisch gestritten wird, der zugleich aber zum Aushandlungsgegenstand für das Ringen um familiäre Gestaltungsspielräume wird. Weyhe gelingt es so, die familiären Geschichten und Gegenstände mehrdeutig anzulegen. Diese Unbestimmtheit reflektiert zugleich auch Prozesse des familiären Erinnerns, in denen auch immer wieder um Deutungen gerungen werden muss.9

Familiarität stiften – Familiäre Rekonstruktionsarbeit anhand von (Erinnerungs-)Objekten

Familiarität entsteht, wie schon angedeutet, nicht von selbst, sondern muss immer wieder neu kreiert werden. Im Folgenden wird die Rolle von (Erinnerungs-)Objekten für eine solche familiäre (Re-)Konstruktionsarbeit analytisch in den Fokus rücken. Dabei werden verschiedene familienschöpfende Funktionen thematisiert, die für die Comics Liebe schaut weg und Im Himmel ist Jahrmarkt besonders zentral sind: Objekte werden dabei erstens als Marker für ein sich veränderndes Familiengedächtnis thematisiert. Sie dienen zweitens als Füllmaterial, mit dem neue familiäre Erzählungen gestiftet werden. Drittens sorgen sie als widerspenstige Zeitzeugen für Unruhe. Viertens werden Häuser und Räume, verstanden als Zuhause, zu familienstiftenden und familienstützenden Erinnerungsobjekten und fünftens werden über die Dinge auch familiäre Machtverhältnisse neu ausgehandelt.

Von der »Abbruchkante« der Familienerinnerung – Familiäre Erinnerungsobjekte als Marker für ein sich veränderndes Familiengedächtnis

Die Autorinnen widmen sich in den hier behandelten Graphic Novels den eigenen Familiengeschichten. Die Annäherung an diese Familiengeschichten erscheint dabei als erinnernde, rekonstruierende, recherchierende und künstlerische, imaginierende, erzählerische ›Stiftungsarbeit‹. Eine Narration in Bildern kann sich in der genauen Darstellung eines historischen Geschehens über verschiedene Panels und Handlungspfade hinweg auch schwerlich allein an bestehende Bildvorlagen halten. Vielmehr laden die Anforderungen geradezu dazu ein, auf Zuspitzungen und Straffungen sowie Vergegenständlichungen und (Bild-)Metaphern zurückzugreifen, um eine erzählerische Dramaturgie aufzubauen und eigene Bilder zu finden für Geschehnisse, die man zum Teil nicht erlebt hat. Diese umfassen dann in der Regel auch assoziative und imaginative Elemente. Dies wird beim familiären Erinnern besonders deutlich, weil hier intergenerationelle Verwobenheiten ebenso wie Wissens- und Gedächtnislücken besonders drastisch zu Tage treten. Bei Weyhes (2013, 14) Im Himmel ist Jahrmarkt zeigt sich dies anhand der herausfordernden Hausaufgabe der Tochter, für die Schule einen ›ordentlichen‹ Familienstammbaum zu rekonstruieren.

Abb. 3: Die ererbten Dinge (Weyhe, 8).

Die Prekarität, die familiäres Erinnern stets ausmacht, weil familiäre Wissensbestände und die jeweiligen (Un-)Sagbarkeiten sich im Zuge des Generationenwechsels verändern, wird damit von ihr an den Anfang des Comics gestellt: Das gezeichnete Alter-Ego der Autorin konstatiert angesichts des »unübersichtlichen Stammbaums« (ebd., 14), den ihrem biographischem Kontext entrissenen persönlichen ›Überbleibseln‹ aus dem Leben der verstorbenen Großmutter (ebd., 7) und der völligen Abwesenheit solcher Dinge nach dem Tod ihres Vaters (ebd., 10), dass »[d]ie Abbruchkante der Familienerinnerung [...] unversehens näher gerückt« sei (ebd., 9).10 Dem von der Großmutter vererbten Teeservice, vielen Fotos, Schmuck und Bildern fehlen die familiäre, erzählerische Einbindung, der Stammbaum bleibt lückenhaft, die Tochter unzufrieden mit dem unzureichenden Wissen der Mutter (ebd., 15). Dass diese ›Lücken‹ nach dem Tod der nahen Angehörigen besonders auffallen, verwundert nicht, weil zu diesem Zeitpunkt die familiäre Aufmerksamkeit häufig besonders intensiv auf die Verstorbenen gerichtet ist (vgl. Halbwachs, 59). Weyhes gezeichnetes Alter-Ego (re-)konstruiert zu Beginn des Comics daher die verblassenden Spuren und eignet sich über Gespräche mit den »verbliebenen« Verwandten, ihre »Geschichten und Anekdoten« sowie »Fotos und Unterlagen« Ausschnitte aus der Lebensgeschichte der Großelterngeneration neu an (Weyhe, 15f.). Damit wird bereits zu Beginn der Bildergeschichte deutlich auf die eigene Bilder evozierende Zeugenschaft von Gegenständen verwiesen: Geschirr, alte Rechnungen, Fotos oder auch der von Weyhes Tochter angefertigte, unvollständige Stammbaum (u. a. ebd., 7–9; 14; 19; 44; 92; 97; 99; 146; 150; 164; 167) werden so – zeichnerisch übersetzt – im Status des familiären Fundstücks gehalten, das zwischen individueller und kollektiver Erinnerung changierend Assoziationen, Geschichtsfetzen und Bilder der vermeintlichen Vergangenheit und der mit ihr verbundenen Deutungsmöglichkeiten hervorruft. Die Assoziativität, die dieses familiäre Erinnern ausmacht, wird etwa in den losen, sich überschneidenden Textpassagen deutlich, die im Kopf der (Comic-)Autorin durch die ererbten Fotoalben ausgelöst werden.

Angesichts der aus dem Nachlass gewählten Dinge wird aber auch die Begrenztheit des familiären Wissens reflektiert: Anhand der ›weitervererbten‹ Fotoalben und ihrer Protagonist_innen, die der Autorin ohne die zugehörigen familiären Narrationen seltsam fremd bleiben, führt Weyhe die Zuordnungsprobleme und eigenwilligen Interpretationen der familiären Erinnerungswelten durch die Nachgeborenen vor, indem sie deren Kontingenz herausstellt: Ein längliches Panel zeigt zwei gezeichnete ›Fotos‹. Der dunkle Untergrund, auf dem die Bilder mit gezeichneten Klebeecken ›befestigt‹ sind und die helle Schrift, mit der sie kommentiert werden, erwecken dabei den Eindruck, dass es sich um ein Fotoalbum handelt.

Abb. 4: Zuordnungsprobleme anhand des familiären Fotoalbums (Weyhe, 9).

Zwei Schriften – und damit zugleich zwei Zeitebenen und Zeitzeugen – kommentieren diese ›Fotos‹. Die eine Schrift erscheint dabei als die des Familienalbums – bzw. die der unbekannt bleibenden Albumbesitzer_in, vermutlich Weyhes Großmutter –, die wiederum die Bilder ihrer Vorfahren einordnet und datiert. Und dann ist da Weyhes Schrift. Als Erzählerstimme der Geschichte und der Erbin des Albums versucht sie die Bilder ebenfalls zu deuten. Doch trotz der Ursprungsbeschriftungen der Bilder fehlt es ihr dafür an Informationen. Und so stellt sich der Versuch, anhand der Bilder aus dem familiären Erinnerungsalbum auch nur erste Zuordnungen zu treffen, wer die Menschen auf den Bildern jeweils sind, als herausfordernd dar. Die Protagonist_innen des Albums, die durch ihre ›Verewigung‹ im Album von den Vorfahren noch als wichtig markiert wurden, sind so der nachgeborenen Erzählerin und ihrer Tochter bereits entrückt: Bilder wie Beschriftungen des Albums bieten ein wenig sicheres Wissen über die Familie an, vielmehr lose, vielfältig interpretierbare Spuren. Daran, dass Katze und »Dame« in Weyhes Fantasie dadurch um einen Namen konkurrieren und der siebzehnjährigen als »Omi« Betitelten keine eindeutigen Enkel zugeordnet werden können, werden die Begrenzungen der ererbten, objektgebundenen familiären Erinnerungen sichtbar gemacht. Die hier nur angedeutete daraus hervorgehende Irritation – der etwa später durch die Frage der Tochter, warum die Mutter denn »nix« weiß, nochmal Ausdruck gegeben wird (Weyhe, 15) – fällt umso deutlicher ins Gewicht, weil es sich beim Fotoalbum eben um ein Erinnerungsmedium handelt, das hier jedoch angesichts des sich verändernden kommunikativen Gedächtnisses der Familien an Präzision und Funktion einbüßt. Doch, wie bereits angedeutet, bedeutet das nicht, dass die sich so auftuende Kluft zwischen den familiären Vorgängern und ihren Nachkommen nicht überbrückt werden und durch Zusatzwissen ausgeglichen bzw. angereichert werden kann. Schon der Soziologe Maurice Halbwachs verdeutlicht die notwendige Willkürlichkeit von Erinnerungsprozessen, wenn er über das Bild des verstorbenen Vaters schreibt:

In dem Maße, als es in die Vergangenheit zurückweicht, ändert es sich, weil manche Züge sich verwischen und andere hervortreten – je nach der Perspektive, aus der man es betrachtet, d. h. je nach den neuen Verhältnissen, in denen man sich befindet, wenn man sich ihm zuwendet. Alles, was ich an Neuem über meinen Vater und auch über jene, die mit ihm in Berührung kamen, erfahre, alle neuen Urteile, die ich über die Epoche fälle, in der er gelebt hat, alle neuen Überlegungen, die ich anstelle, lassen mich – je fähiger ich werde nachzudenken und über je mehr Vergleichsmöglichkeiten ich verfüge – dazu neigen, sein Bildnis zu ›retuschieren.‹ (Halbwachs, 59)

Abb. 5: Buchcover der Neuauflage von Im Himmel ist Jahrmarkt (Weyhe 2016).

Gesichter wie Geschichten werden durch nachträgliches Wissen angereicht und wo nötig retuschiert. Es entsteht »[e]in in anderen Bildern enthaltenes Bild, ein in die Vergangenheit zurückversetztes Familienbild« (ebd., 58). In Im Himmel ist Jahrmarkt wird deutlich auf solche (re-)konstruierenden Prozesse Bezug genommen. Das notwendig unvollständige Erinnern und das Vorgehen bei der Arbeit an der familiären Erinnerung wird auch in der Bildsprache transparent gemacht: In einem Panel zeigt Weyhe das eigene ›Strickwerk‹, das verschiedene Maschen aufnimmt und – wie der begleitende Text ausweist – die bestehende »Lücke« (im Familiengedächtnis) mit »dem vorliegenden Buch« füllt (Weyhe, 16). Für die gerade erst erschienene Neuauflage von Im Himmel ist Jahrmarkt (2016) bildet dieses Strickwerk gar das Cover.

Das Comicbuch als zu schaffender und offen rekonstruierter familiärer Gegenstand steht damit noch deutlicher als schon bei der Originalausgabe am (Neu-)Beginn der familiären Sinnstiftung. Es wird auch in der Einleitung als metareflexiver Verweis und angebotene Antwort auf die Fragen der Nachgeborenen abgebildet: Als Produkt der familiären Spurensuche, das die Leser_innen in der Hand halten und auf das sie zeitgleich im Panel blicken, steht das Buch zugleich am Anfang und am Ende der Geschichte und gibt damit einen Ausblick auf sich selbst (ebd.). Als Abschlusspanel der Vor- und Entstehungsgeschichte vor dem Beginn des eigentlichen Plots beschließt der gezeichnete Comic als Ergebnis also die Geschichte und öffnet sie zugleich.

Abb. 6: Im Himmel ist Jahrmarkt als Produkt wie Ausgangspunkt der familiären Spurensuche (Weyhe, 16).

Neben der zeichnerischen Aufnahme von familiären Dingen, ihren Übersetzungsleistungen und Grenzen bildet der Comic Im Himmel ist Jahrmarkt als Produkt einer familiären Spurensuche damit von vornherein selbst (auch) einen familiär markierten Gegenstand. Nimmt man ihn als über sein Dasein als Buch hinaus ernst, so wird deutlich, dass er später als ›Antwort‹ und kreative Dokumentation vielleicht selbst wieder zur Frage werden und als weitere Quelle zur Verfertigung von Familiengeschichten taugen kann.11

Es zeigt sich damit die familienstützende Wirkung von gezeichneten Dingen, die als Erinnerungsträger, unabhängig von ihrer tatsächlichen Historizität, zu Zeugen des Familienseins werden können. Gleichzeitig bietet die familiäre Spurensuche wohl gerade durch die im Folgenden noch genauer zu besprechende visuelle Rückkopplung an Symbole der historischen Zeit auch eine Anschlussfähigkeit für das familiäre Erinnern fremder Familien(geschichten) und kann damit als familiär-erschließbares Vergleichswerk taugen, das Fragen zur eigenen Familie anzuregen vermag.

Familiäres Lückenfüllen: Kreation und Integration neuer (Erinnerungs-)Objekte

Doch Weyhes Arbeit geht über die einfache Rekonstruktion der eigenen Familiengeschichte noch deutlich hinaus, denn sie hat – so macht sie in der einleitenden Episode von Im Himmel ist Jahrmarkt in einem Panel, das sie am Schreibtisch zeigt und das damit den Produktionsprozess der (Familien-)Geschichte offenlegt, deutlich – das Offenbleibende, »den Rest dazu erfunden« (ebd., 16). Die mit dem Verweis auf das eigene ›Dazu-Erfinden‹ erfolgte Offenlegung der eigenen Arbeitsform und der eigenen Position zum Thema bildet als eine Art Prolog den Einstieg in Im Himmel ist Jahrmarkt. Diese durch die Reflektion des eigenen Vorgehens geschaffene Transparenz erinnert dabei an ethnologische Forderungen nach der Offenlegungen der eigenen Position zur besseren Einordnung von Verzerrungen für die Leser_innen (Sluka / Robben, 2). In einem Workshop erklärt Weyhe, dass das ›Dazu-Erfinden‹ von Elementen zur erzählten Familiengeschichte nicht einfach frei der Fantasie entspringt, sondern auf intensiver Recherchearbeit beruht, die weit über den familiären Rahmen hinausgeht (Weyhe, Workshop 02.06.16). Die Suche nach der eigenen Familiengeschichte wird damit zugleich zur historischen Arbeit. Diese Adaptionen gehen, wie die Autorin im Workshop berichtet, so weit, dass fehlende Familienfotos von ausgewählten Mitgliedern, über die wenig erhalten geblieben ist, durch Bildvorlagen in Form von auf dem Flohmarkt gefundenen alten Fotografien ersetzt werden. Auch andere historische Vorlagen, etwa aus zeitgenössischen Kinderbüchern, werden eingearbeitet. All diese Fundstücke finden sich jedoch später nicht eins zu eins im Comic, sondern werden von der Autorin zeichnerisch aufgenommen, aber dabei auch verändert und für die eigene Geschichte und ihre Protagonist_innen adaptiert. Im Comic werden die Übergänge zwischen ›authentischem‹ und gefundenem Material weder zeichnerisch oder textuell markiert, das Vorgehen unterstreicht aber die aktive ›Stiftungsarbeit‹ der Autorin, die damit über eine einfache Rekonstruktion von Familienarchiven weit hinausgeht. Deutlich wird damit eine fast bricolagierende, bastelnd-erfinderische Suchbewegung, die historisches Material sowie auf dem Flohmarkt gefundene Fotografien zusammenführt und mit eigenen wie recherchierten Familienerinnerungen und Mythen zu einer neuen Geschichte verwebt. Statt zu behaupten, eine möglichst ›authentische‹ oder gar ›wahre‹ Familiengeschichte zu rekonstruieren, wird also von der Autorin bewusst an und mit den Leerstellen gearbeitet: Sie werden aktiv mit anderen Bildern gefüllt, ergänzt oder konterkariert. Dieses Verweben von familiärem und historischem Bildmaterial und Wissensfragmenten lässt sich an einem Panel verdeutlichen, das Weyhes Großmutter Marianne und ihre Schwester Lea im November 1918 mit anderen Kindern beim Laternespiel zeigt (Weyhe, 38): Das Bild der Laterne laufenden Kinder hat Weyhe einer historisch-zeitgenössischen Zeitschrift entliehen (Weyhe, Workshop 02.06.16). Sie ersetzt für ihre Geschichte zwei Kinderfiguren durch eigene familiäre Protagonistinnen und macht es damit zu einem Familienbild. Während dieses entleihende ›Verwandtmachen‹ im Comic selbst unreflektiert bleibt, das hier vor sich gehende doing family also an dieser Stelle den Leser_innen gar nicht vorgeführt wird, werden andere Bild-Kombinationen deutlich markiert: So lässt die Autorin die Kinder nicht mehr einfach auf einer normalen Straße gehen, sondern der vermeintlich sichere Boden unter ihnen wird von ihr durchsetzt mit Totenschädeln und mit der Zeitangabe »November 1918« versehen.

Abb. 7: Laternelauf und Geschichte (Weyhe, 38).

Durch das Zusammenspiel von zeitgenössischer Motivik, historisierender Jahreszahl, Todessymbolik und kindlicher familiärer Protagonist_innen im Laternelauf wird ein Fragment von Familiengeschichte erzeugt, das sowohl dazu erfunden als auch historisch verdichtet ist. Die so ähnlich immer wieder in Im Himmel ist Jahrmarkt stattfindenden Ergänzungen, Erfindungen und Neuanordnungen von familiärem und historischem Material lassen sich damit als weiterer Aspekt des aktiven familiären (Wieder-)Herstellungsprozesses, als »doing family« (Schier / Jurczyk, o. S.) lesen. Nicht nur anhand von ›familiären‹ Dingen, sondern auch von ›familiarisierten‹ entsteht eine Geschichte darüber, wie die Familie zu dem ›wurde‹, was sie nun ›ist‹ (Bohnenkamp, 74). Dafür müssen Vorstellungen des Familie-Seins und Familie-Werdens kommunikativ wie assoziativ verhandelt werden, denn doing family umfasst »praktische […] und symbolische […] Verschränkungsleistungen individueller Lebensführungen im Kontext von Familie«, die die Familie erst als »zusammengehörige Gruppe« definieren und inszenieren (Schier / Jurczyk, o. S.). Verwandtschaft erscheint damit nicht als etwas Essentialistisches, sondern vielmehr als »kontingente soziale Praxis« (Butler, 255). »Erst durch unsere Phantasie – unsere Bilder, Mythen und Rituale – erhält Familie ihre Bedeutung.« (Gillis, 13) Dabei gibt es laut Gillis häufig ein Bemühen, »ideale Familien zu konstruieren und aufrechtzuerhalten« (ebd., 12). Dieses Bemühen habe dazu geführt, »Wohnzimmer in Familienporträtgalerien« und »Speicher in Archive« zu verwandeln (ebd.). »Unsere Häuser sind Minimuseen voller Erb- und Erinnerungstücke der Familie.« (ebd.) Auf eben dieses – zum Teil verbliebene, zum Teil um ›erfundene‹ Fundstücke ergänzte – Sammelsurium des familiären Erinnerns greift Weyhe für ihre Bildergeschichte gestalterisch zurück. Dabei passiert in einer reflektierten Form, was bei der Aneignung von Geschichten der Eltern und Großeltern durch die Kinder und Enkelkinder fast zwangsläufig geschieht: Die Geschichten werden »nicht nur auf ihre eigene Weise interpretier[t], sondern auch völlig neu gestalte[t], ergänz[t] oder entstell[t]« (Welzer et al. 2003, 19).12 Auch im alltäglichen familiären Miteinander vollziehen sich solche Neu- und Nachgestaltungen, dann allerdings als Teil eines gemeinsamen intergenerationellen Verfertigens von Geschichten, etwa in Form des Wieder- und Wieder-Erzählens (ebd.). Die Wiederholung und Einübung ist dabei von besonderer Bedeutung, denn gerade weil die (groben) Geschichten allen bereits bekannt sind, wirken sie kollektivierend und damit traditions- und familienkonstituierend (ebd., 19f.). Dass es dabei in der Rezeption, Aneignung und Wiedergabe zum Teil zu eklatanten Verzerrungen und Umdeutungen kommt, negiert die Vorstellung des geteilten Kollektivs nicht, weil es ja gerade um die Bestätigung einer gemeinsamen Geschichte geht (Welzer et al 2003, 196; Welzer / Lenz 2007, 7–10). Familie wird auch darin als »kollektives Konstruktionsprinzip kollektiver Realität« (Bourdieu, 128) sichtbar, die sich über viele Ebenen verwirklichen kann. Eine wichtige Orientierung bietet dafür die Einbindung von historischen wie familiären Ereignissen.

Familiäre (Erinnerungs-)Objekte und historische wie familiäre Erzählzeit

In dem bereits beschriebenen Panel mit den Laterneläufer_innen (Abb. 7) gibt Weyhe die Jahreszahl »1918« an, zusammen mit den Totenschädeln wird so der Schrecken und das große Sterben des Ersten Weltkrieges angerufen. Gleichzeitig sieht man die Laterneläufer_innen. Als Dritte läuft Marianne, die ältere Schwester (Weyhes Großmutter), mit runder Laterne, wie sie die anderen Kinder auch haben. Lea, ihre kleinere Schwester, läuft unzufrieden mit ihrer kleinen eckigen Laterne hinterher, von einer ebenfalls runden Laterne träumend (Abb. 2; Weyhe, 38). Die ›große‹ Geschichte des Ersten Weltkriegs und die Beziehung der Schwestern wird so in einem Panel verhandelt, Familiengeschichte in einen gesellschaftlichen Bezugsrahmen eingeordnet. Es wird also eine doppelte Anbindung und Markierung des Geschehens vorgenommen: Zum einen innerhalb einer familiären Erzählung und damit innerhalb einer familiären Zeitrechnung, die sich im Comic unter anderem an Orten, Geburtstags- und Sterbejahren sowie Schlüsselereignissen orientiert, zum anderen in der ›historischen‹ Zeit und ihren Zäsuren. Wie bei der familiären Erinnerung werden damit zwei ›Alben‹ zusammengebracht: Ein ›Familienalbum‹, das u. a. familiäre Ereignisse, Erinnerungen und Konflikte festhält, und das »wissensbasierte ›Lexikon‹« bzw. Geschichtsbuch, das eine Chronologie historischer Ereignisse dokumentiert, ordnet und beurteilt (Welzer et al 2003, 10). Beide ›Alben‹ stehen im gemeinsamen ›Familienschrank‹13, werden aber im Alltag häufig schwerlich zusammengebracht, insofern es zu Deutungskonflikten zwischen beiden Narrationen kommen kann (ebd., 10f.). Erzählerische Leerstellen, Unterschlagungen und Übertreibungen ebenso wie fehlende Passgenauigkeit sind hierfür typisch. Doch wie das Panel mit den Laternen zeigt, sind individuelles, kollektives und familiäres Erinnern notwendig aufs Engste verbunden, verspinnt sich das gelebte Leben doch stets zwischen historischer Teilhabe und privatem Mikrokosmos (Welzer 2008, 218). Für Im Himmel ist Jahrmarkt ebenso wie für Liebe schaut weg ist deshalb auch die Gestaltung eines historisierenden Settings entscheidend, in dem Kleidung und Accessoires ebenso wie Atmosphäre und Ereignisse einen Zeitraum kreieren, in dem die Protagonist_innen in ihrer Zeitgenossenschaft sowie ihrer Familienzugehörigkeit glaubhaft werden. Durch die Hinzugabe von zeit- wie plotrelevanten Informationen und der konzisen Abbildung und Einbindung von ›Dingen‹ als Erinnerungsobjekte werden beide Graphic Novels als ›Familienalben‹ mit den ›Geschichtsbüchern‹ ›ihrer‹ Zeit eng verknüpft. Dies kann für die Geschichte des Zweiten Weltkrieges auch komplexe familiäre Aushandlungen erfordern, wie Line Hovens Liebe schaut weg zeigt.

Verdächtige Dokumente – Herausfordernde familiäre (Erinnerungs-)Objekte in Liebe schaut weg

Hovens aus Schabkarton herausgekratzte Familiengeschichte Liebe schaut weg erinnert schon allein in der spröden Materialität der Kratz-Technik an alte Familienalben. Ihre Panels zeigen neben den Protagonist_innen der Geschichte familiäre wie zeitgebundene, fast dokumentarisch erscheinende Erinnerungstücke: eine Waschmaschinenrechnung, Fotoalben, Radios, Zeitschriften (Hoven 2008, 45; 20f., 42f., 62f., 53).14 Neben der deutsch-amerikanischen Familiengeschichte, die sukzessive verknüpft wird, wird ein ebenfalls fragmentarisch bleibendes Zeitporträt vom Vorabend des Zweiten Weltkrieges bis in die 1970er Jahre hinein entworfen. Das familiäre Gewordensein und Werden in der Zusammenkunft der deutschen wie der amerikanischen Familien, um die es im Comic geht, wird auch hier als familiäres Werden und Finden reflektiert, das episodenhaft historisch lange Zeiträume zu verbinden vermag. Vor allem über Gegenstände wird dabei Episode für Episode nicht nur eine Einbindung in eine historisch-markierte Zeit geschaffen, sondern die sehr genau in Szene gesetzten Dinge bieten auch Anhaltspunkte, was die Protagonistinnen der (Familien-)Geschichte(n) beschäftigt, was sie charakterisiert und wovon sie träumen. Die in den Episoden als ›Familienobjekte‹ gekennzeichneten Gegenstände werden zu ›Zeitkapseln‹, die als Erinnerungsobjekte Fragmente der familiären wie historischen Zeit speichern. Jeder Episode, ob in Deutschland oder Amerika angesiedelt, wird dabei jeweils ein Erinnerungsstück vorweggestellt (Hoven 2008, 7; 23; 45; 65; 89). Die Dinge gehen damit ihren Protagonist_innen voraus bzw. werden markiert als das, was (als Erinnerungsanlass und familiäre Quelle) bleibt: So führt zum Beispiel ein Ausweis der Hitler-Jugend in die erste Familienepisode um Hovens Großvater Erich ein (ebd., 7). Der von der Autorin aus dem schwarzen Schabkarton herausgearbeitete Ausweis wird links auf einer schwarzen Doppelseite, die der eigentlichen Geschichte voransteht, platziert und damit fast wie ein Ausstellungsstück oder Beweisstück präsentiert.

Abb. 8: Hitler-Jugend-Ausweis von Erich Hoven (Hoven 2008, 7).

Der in Bonn ausgestellte Ausweis zeigt einen ernst blickenden Jugendlichen als Mitglied der nationalsozialistischen Jugendorganisation. Noch bevor die dem folgende Geschichte den Hitlerjungen Erich Hoven als Radiobastler vorstellt, der zumindest kurzzeitig vom unerwarteten Genuss einer Symphonie des jüdischen Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy auf einem ›Feindsender‹ erschreckt scheint (ebd., 16f.), wird mit dem Ausweis darauf angespielt, was potentielle Familienarchive über eine Teilhabe des Großvaters am NS-Regime enthalten haben. Dabei ist die Geschichte hinter dem ›Fundstück‹ – ob tatsächlich familiär tradiert und dokumentiert oder von Hoven erfunden oder ergänzt – komplexer als der HJ-Ausweis zunächst suggeriert. Der Ausweis aber bietet einen greifbaren Erzähl- und Erinnerungsanlass, um diese Komplexität auch erzählerisch zu entwickeln, und eignet sich damit auch familientheoretisch überzeugend zum Einstieg in Erichs Geschichte. Diese ist ohne tradierende wie tradierte Gegenstände gar nicht denkbar, erst durch ihre symbolhafte Verdichtung in einzelnen Erinnerungsobjekten ruft die Familiengeschichte Erinnerungen an, werden diese sichtbar und sinngebend verdichtet: Neben den Protagonist_innen (Erich Hoven, seine Freunde und seine Eltern) und dem für die Episode zentralen HJ-Ausweis, mit dem als Dokument der NS-Zeit Fragen von Schuld und Verwicklung markiert werden, werden zudem auch Erichs Radio und die Komposition (»Overture 7« (ebd.)) als Verkörperungen anderer Einflüsse – und vielleicht eines familiären Wunsches nach Entschuldigung – in der ersten Episode der Geschichte handlungsrelevant. Die Radioszene selbst ist dabei vieldeutig, weil Erichs Erschrecken als Reaktion auf das Hören der Komposition vielfältigen Spekulationen Raum lässt. So kann man die Geschichte unter anderem als Geschichte einer Irritation lesen, in der Erichs Selbstbild durch den Genuss der Musik des jüdischen Komponisten kurzzeitig ins Wanken gerät, insofern damit die erlernte NS-Ideologie in Frage gestellt wird. Man kann sein Erschrecken aber auch allein als Angst, etwas falsch gemacht zu haben, lesen, denn der empfangene englische (Fremd-)Sender ist verboten. Selbst die Körperhaltung des Jungen, wenn er mit hängenden Schultern nach der Radioszene das nächste Mal zur Hitlerjugend geht (ebd., 18), lässt sich nicht eindeutig als Betroffenheit deuten, geht er doch zu Beginn der Episode fast ebenso gebeugt zur Schule (ebd., 9). Die Kraft von Hovens Geschichte liegt genau darin, dass sie deutungsoffen bleibt – für Interpretationen der Familie, aber auch der Leser_innen. Gleichzeitig erscheint die Geschichte über Mendelsson15 als familiär erzählbar auch noch nach dem Krieg, erlaubt sie doch – wird sie wohlwollend gedeutet – einen Moment der Identifikation mit dem als überfordert interpretierbaren jugendlichen Großvater zwischen Anpassungsbedürfnis, Liebe zur Musik und (technischer) Revolution. Hier sei an Welzers (2003) Studie zur Tradierung des Holocaust im Familiengedächtnis erinnert, die zeigt, wie es familiären Sinnstiftungsprozesse gelingt, die Täterschaft im Familiengedächtnis zu relativieren oder sogar in Widerstand umzudeuten, weil man die Bilder der eigenen Verwandten nicht mit dem historischen Wissen über Täterschaft und Massenmord zusammenzubringen vermag.

Abb. 9: Leerstellen im familiären Fotoalbum (Hoven 2008, 20).

Die Geschichte um den noch jungen Erich Hoven endet mit einem weiteren Dokument aus der ›Familienschatzkiste‹, wie bei Weyhe handelt es sich dabei um eine Familienfotografie: Eine Doppelseite aus dem familiären Fotoalbum schließt diese erste Episode der sich entspinnenden deutsch-amerikanischen Familiengeschichte ab und gibt wiederum Aufschluss über familiäres (Nicht-)Erinnern und seine Bindung an Dinge (Hoven 2008, 20f.). Das Fotoalbum bezeugt also auch hier wieder mehr, als es auf den ersten Blick zeigt: (Un-)Sagbarkeiten, Abnutzungen, Anordnungen. Ohne viele Zusatzinformationen wird auf der Doppelseite des Fotoalbums Auskunft über weitere Entwicklungen in Erichs Leben und die Erweiterung der Familie um neue Mitglieder (seine spätere Frau und seine Kinder) gegeben. Die Fotos zeigen damit die weitere familiäre Entwicklung im Zeitraffer – inklusive der Hervorhebung von ›Leerstellen‹.16 Deutlich nicht zu sehen ist auf der ersten Doppelseite ein fehlendes, aber handschriftlich kommentiertes Foto des Kennenlernens von Erich und Irmgard, Erichs späterer Frau, in einem »Sommerlager der Hitlerjugend« (ebd., 20). Durch das fehlende Foto wird eine mögliche retrospektive Zensur bzw. Leerstelle in der familiären Erzählung angedeutet. Gleichzeitig findet sich ein Foto von Erich als Angehörigem der Luftwaffe neben dem seiner Frau. Die kommentierende Handschrift des Albums kennzeichnet beide Fotos mit dem Hinweis auf den – offenbar aufgrund der Kriegswirren getrennt verbrachten – ersten Hochzeitstag (ebd.). Auch auf den Fotos sind es die Dinge, hier die Uniform, die mehr verraten als die abgelichteten Gesichter. Die in den Fotos angelegte NS- und Kriegsgeschichte bleibt auch hier gerade in der ausbleibenden Kommentierung höchst präsent in ihrer Abwesenheit. Diese (Nicht-)Erzählung wird später wiederaufgenommen, wenn Charlotte – die amerikanische Freundin des Sohnes Reinhard – angesichts des bei seinen Eltern noch im Flur hängenden Soldatenportraits des Vaters nach deren Kennenlernen fragen wird (ebd., 75). Der Sohn bleibt passiv in seiner Antwort: Die Eltern redeten nicht über diese Zeit (ebd.). Mit der Wiederaufnahme von familiären Bildern in unterschiedlichen Kontexten wird damit – wie zuvor bei der von Weyhe reflektierten Aneignung von Fotos durch die Nachgeborenen – ein jeweils neuer interkultureller wie intergenerationell wechselnder Deutungskontext sichtbar: Je nach Einbindung und Betrachter werden die Bilder der Vorgänger den Nachgeborenen fremd oder – wie hier im Rahmen der Verbrechen des Zweiten Weltkrieges – sogar verdächtig. Zuvor noch als selbstverständlich Geltendes wird in Frage gestellt, zum Teil sogar zensiert. Auch das Ringen um das Familiengedächtnis und seine Grenzen und Leerstellen lässt sich also als Teil des doing family lesen: Eine erzählbare Familiengeschichte wird kreiert, zensiert und wo nötig neu angeordnet oder eben, etwa aus Sicht der Nachgeborenen – im Comic durch Charlotte, Hovens Mutter –, wieder zu entschlüsseln, aufzudecken und nach eigenen, neuen Sinnstiftungsbedürfnissen zu ordnen versucht. Am Schweigen von Reinhard als Sohn, aber zeigt sich: Auch bei hartnäckigem Schweigen und großen Leerstellen ist der Impuls, das gemeinsame Familiensein prozessual zu gestalten und aufrechtzuerhalten, stark.

Wer genau im Fotoalbum die Information zu den Fotos in Form der familiären Kommentierung festhält oder die nicht mehr zeitkonformen, verdächtig gewordenen Bilder möglicherweise verschwinden lässt, bleibt unklar. Die genaue Autorenschaft des ›Familienalbums‹ ist damit – wie häufig bei familiären Fotoalben – unbekannt und kann nur von Eingeweihten noch entziffert und (etwa anhand von vertrauten ›Handschriften‹) zugeordnet werden. Es lässt sich jedoch vermuten, dass im Fall der Hovens, Erichs Eltern, wahrscheinlich die Mutter, als ›Hüter(in) der Familiengeschichte‹17 das Album führte und damit die Vorgängergeneration die frühe Familienerinnerung lenkte bzw. diese sinnstiftend in Bilder und Schrift – selbst eine Art Bildergeschichte wie der Comic, der sie nun zeigt – sortierte. Gleichzeitig sind die abgebildeten Seiten der Fotoalben immer auch Auswahl und Zusammenstellung der Autorin und familiären Akteurin Line Hoven selbst, die darin als Ordnungsinstanz und übergreifende Erzählerin – wie es auch der Klappentext des Buches beschreibt – bildlich ihre Familiengeschichte verdichtet und bestehende Bilder neu zusammenführt. Dabei gibt es – auch dies wie im ›außerfiktionalen‹ Leben – verschiedene ›Fotoalben‹, die nebeneinander bestehen und unterschiedliche Handlungsstränge abbilden. Nicht nur die Familienerinnerungen und Einordnungen von Hovens deutscher Herkunftsfamilie, auch die des amerikanischen Familienteils werden aufgenommen (ebd., 42f.). Die Alben werden durch verschiedene Handschriften voneinander abgegrenzt und als vielfältige familiäre Quellen markiert, die erst sukzessive und durch die familiäre Weiterführung durch die Enkelin Hoven zu einem neuen Buch werden. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie mit einer zensierten (und nicht lediglich verlorenen) Geschichte umzugehen ist, beziehungsweise wie sich auftuende Lücken – und hier zeigt Hoven einen Weg – offenzulegen sind, und sei es nur als Moment des Verdachts.18

Räumliche Erinnerungsobjekte – ›Historische‹ Ausstattung, Raumbeziehung und Zuhause

Neben den Familienalben – die wir bei Weyhe in ganz ähnlicher Form als Einleitung der Lebensbiografien der Großelterngeneration finden19 – und der einführenden Darstellung von Erinnerungsstücken aus den ›Familienarchiven‹ fallenbei Hoven vor allem die Präzision der Darstellung, Anordnung und Zeichnung der historischen Objekte in allen dargestellten familiären Episoden auf. Ereignisse (z. B. festgehalten in Filmbildern (ebd., 58f.), zeitgenössische Zeitschriften (»Constanze«; Hoven 2008, 52f.), Mobiliar (z. B. Mid Century Design; ebd.; Abb. 1) aber auch Kleidung (z. B. Schlaghosen; ebd., 94), verweisen auf Zeitspuren, die sich zurückverfolgen lassen und geben mit etwas Recherche Hinweise auf den historischen Zeitpunkt, an dem die Erzählung jeweils angesiedelt ist. Plastisch wird dies etwa an der Episode »Flucht in die Zukunft«, die ihren Titel schon der frühesten westdeutschen Science-Fiction-Heftromanreihe – namens »Utopia« – entleiht, die zwischen 1953 und 1968 in 596 Ausgaben beim Erich Pabel Verlag erschien (ebd., 46; Lutteroth 2008, o. S.). Sie widmet sich einem kurzen Abschnitt aus der Jugend von Hovens Vater Reinhard. Dieser wird mit seiner Mutter von einer Menschenversammlung in der Straße angelockt und verfolgt dann zufällig auf einem in einem Schaufenster der Bonner Innenstadt stehenden Fernseher den Start einer Rakete (ebd., 58f.). Spätestens anhand der kurz danach folgenden Weihnachtsbilder aus dem familiären Fotoalbum von 1958 verstärkt sich die Gewissheit, dass der raumfahrtbegeisterte Reinhard zuvor mit dem Start der Rakete zugleich das frühe Wettrüsten in den Kosmos der beiden Großmächte Amerika und Sowjetunion erlebt, vermittelt durch das in Deutschland noch neue Bildmedium Fernsehen. Die Geschichte bekommt damit einmal mehr auch eine historische Rahmung. Es lässt sich annehmen, dass ohne solche oder ähnlich chronologisierende Verweise auf das ›Geschichtsbuch‹ der Familienerzählung der Kontext fehlte, der die familialen Protagonist_innen auch als Zeitzeug_innen markiert.

Über die Entstehung des Comics und die familiären Verknüpfungen, die wiederum in die Gegenwart der zeichnenden Autorin hereinragen, erfährt man als Leser_in von Liebe schaut weg nichts. Hoven selbst tritt – wie sich allerdings nur aufgrund der Namen und des Klappentextes vermuten lässt – in der Geschichte erst zum Schluss als Kind in Erscheinung. Die Familiengeschichte endet in den 1970er Jahren mit einem Aufbruch und einer Heimkehr: Die kleine Tochter macht sich mit den deutsch-amerikanischen Eltern von Amerika auf nach Deutschland (ebd., 92). Wie auf Cover und Eingangsbild sehen wir wieder ein Gebäude: Die Mutter steht mit der Tochter vor dem (un-)bekannten Haus der Großeltern in Bonn und auf die Frage der Tochter, wann sie nach Hause gehen, antwortet sie: »We are at home, honey.« (ebd., 94) Das letzte Panel des Buches zeigt die Fassade des neuen Zuhauses; was hinter den Fenstern passiert, bleibt im Verborgenen (ebd.).

Abb. 10: Eingangsbild von Liebe schaut weg (Hoven 2008, 4f.).

Mit dieser Ankunft in einem noch (un-)bekannten Zuhause wird verdeutlicht, dass das Zuhause nicht immer als ein (noch) realer Ort verstanden werden muss, sondern auch etwas bereits Verlorenes symbolisieren kann. ›Zuhause‹ erscheint dann – und das trifft wieder für beide Comics zu – eher als Erinnerung denn als tatsächlicher Ort (Gillis, 1). Dazu passt die von mir bereits in der Einleitung zitierte Eingangsszene aus Liebe schaut weg, das Zimmer mit den abgedeckten Möbeln.

Dem Bild beigefügt findet sich ein Woody Allen Zitat: »I wonder if a memory is something you have or something you lost...« (zit. n. Hoven 2008, 5). Erinnerungen an ›Zuhause‹ zeigen sich damit auch in Liebe schaut weg an mehr Bedürfnisse geknüpft als der »tatsächliche Bestand an Wohnungen und Häusern [...] befriedigen kann.« (Gillis, 186) Die Idee des Zuhauses oder auch von konkreten Häusern wird also wesentlich für die Idee, eine Familie mit einem eigenen und distinkten Ort und einer ebenso besonderen Identität zu sein. Für Hovens Comic, in dem Architektur eine wesentliche Rolle spielt, da sie in der Mehrzahl der Panels in zahlreichen Innen- wie Außenansichten inszeniert wird (u. a. Hoven 2008, 5f.; 8; 11; 14f.; 18; 24; 32f.; 40f.; 48; 56; 58; 62f.; 72; 84f.; 94), bilden Häuser, (Innen-)Räume von Häusern sowie Autos und Städte als materielle Erinnerungsorte bzw. -objekte nicht einfach nur Kulissen, sondern verhandeln stets auch Bindungen. Familiär markierte ›Behausungen‹ und Verräumlichungen zeigen jeweils variierend Vertrautheit, Enge, Gesellschaft und Gemeinschaft an. Die Protagonist_innen agieren dabei stets innerhalb der Möglichkeitsräume einer (oft bedrückenden) familiären Architektur der Nachkriegszeit. Selbst auf den ersten Blick nicht familiäre Räume wie eine Kirche, ein Zeitungsladen oder ein Brauhaus stehen dabei für familiäre Haltungen und verhandeln individuelle Freiheiten und Beengungen. In einem kirchlichen Raum mit seiner vorgegebenen Sitzordnung in Bonn 1958 tritt das erste Mal die Mutter von Reinhard aus der zweiten Familiengeneration aktiv mit ihren strikten Regeln auf (ebd., 47–49): Beim sonntäglichen Gottesdienst wird Reinhard von ihr beim Lesen des Science-Fiction-Hefts Utopia erwischt (ebd.).

Der kirchliche Raum mit seiner strengen wie spartanischen Sitzordnung scheint die Strenge der Mutter noch zu unterstreichen. Figur und Architektur nähern sich so an. Gleichzeitig geht der Blick des von Science-Fiction und Raumfahrt begeisterten Sohnes nach oben, doch da ist nur der hochgespannte Baldachin der Kirche. In einem gut sortierten Kaufmannsladen dagegen bietet der Vater dem Sohn – vor der Mutter verheimlicht – den Kauf eines weiteren »Schundhefts« an (ebd., 54f.). Mit den unterschiedlichen Räumen und den damit assoziierten Dingen wird so jedem Elternteil eine unterschiedliche Haltung zugeschrieben, die sich auch in einer Zwischenszene im 1950-Jahre-Wohnzimmer spiegelt. In dieser Szene plädiert die Mutter für Strenge und wundert sich, wo die unliebsamen Science-Fiction-Hefte immer herkommen. Der Vater wiederum zeigt sich mit Hinweis auf seine eigene Radiobegeisterung in dem Alter seines Sohnes dessen Begeisterung für Science-Fiction-Heften gegenüber offen. Auch das Thema Raumfahrt, das den Sohn fasziniert, begründet eine eigene Raumordnung, verweist es doch auf Ausbruch, Überschreitung und Raumeinnahme (ebd., 46; 58–61).

Abb. 11: Weltraum, Kirchenraum, familiärer Freiraum (Hoven 2008, 48).

Ein neuer Raum wird im Comic aber zunächst nicht von Reinhard, sondern von seiner späteren Frau Charlotte, die als Studentin aus den USA nach Deutschland kommt, entdeckt (ebd., 66–68). Ihr erst folgt Reinhard ins Ausland und wird dort an der Sprache, die er für seinen Beruf als Arzt benötigt, scheitern, so dass Frau und Kind schließlich mit ihm und für ihn nach Deutschland zurückkehren (ebd., 90–92). Angedeutet wird damit ein sich umkehrendes go west, weil Reinhard seine Jugendphantasie vom amerikanischen Aufbruch in die Zukunft hier ebenso aufgibt wie sein Vater seine technisch-futuristisch deutbaren Radiofantasien zuvor. Die neue Raumüberschreitung liegt also bei seiner amerikanischen Frau und bei der noch kleinen Tochter, die sich wiederum das neue Zuhause in Deutschland erst aneignen müssen. Die familiäre Leistung, auch Konflikte und Distanzen zu überbrücken und dennoch und immer wieder neu eine Familie zu werden und gemeinsame Räume zu kreieren und wiederzuerobern, wird hier als Herausforderung, aber auch als Chance sichtbar. Die Räume und das jeweilig dargestellte Zuhause gehen damit über die reinen Familienhäuser weit hinaus.

Die Idee eines gemeinsamen, spezifischen ›Zuhauses‹ wirkt damit familienintern verbindend, denn die Vorstellung eines ›Zuhauses‹ trägt immer auch Vorstellungen von Vergangenheit und Zukunft in sich. In diesem Sinne wird es oft konnotiert mit Ideen von Nostalgie und Wiederkehr (real oder vorgestellt); es gilt als Herkunfts- oder Aufbruchsort (Morgan, 182; Gillis, 189). Was das jeweilige Zuhause ausmacht, wer dort wohnt und an wen man erinnert, kann dabei, wie auf dem Cover von Hovens Buch, repräsentiert werden durch kleine Dinge wie Bilder an der Wand. Das jeweilige Haus wird durch diese nur scheinbaren Details zum ›Zuhause‹, es wird angeeignet und aktiv als Familiensitz markiert. Die Häuser als Trennwände eines ›Innen-‹ und eines ›Außenbereichs‹ erlauben es zudem, die Signifikanz von Verwandtschaft von beiden ›Polen‹ aus zu begreifen. Nach innen finden dort alltägliche Intimitäten statt, wie gemeinsame Mahlzeiten (Carsten, 232), nach außen wird immer wieder die wehrhafte, geschlossene, wenig verhandelbare Fassade gezeigt, die schwer zu durchdringen und gänzlich einzunehmen ist. Das aktive »Einwohnen« (Sloterdijk, 404), wie von Hoven anhand des lesend sich auf einem Sessel ›fläzenden‹ jugendlichen Reinhard dargestellt (Hoven 2008, 61), bleibt von außen ungesehen. Zuhause steht damit für die Intimität, sich gehen lassen zu können, aber auch für strenge Ermahnung und Regelwerk. Gesellschaftliche Tendenzen und Strukturen, wie etwa die eher starre Geschlechterordnung der 1950er Jahre, erscheinen so im häuslichen Bereich der Hovens in ihren Mikrostrukturen und repräsentieren damit beides: die ›große‹ wie die ›kleine‹ Welt. Wie sich anhand der unterschiedlichen Herkunftshäuser des späteren transnationalen Liebespaars Reinhard und Charlotte zeigt (u. a. ebd., 72; 76), lassen sich deshalb auch Makrodebatten um Nation, Gemeinschaft und kulturelle Identitäten daran aufzeigen (Morley, 273). So bleibt der Altbau der Hovens durch alle drei familiären Episoden bis hin zur letzten Szene, der Rückkehr, merkwürdig unverändert und es gibt nur ein Familienhaus (Hoven 2008, 8, 56, 94), während die amerikanische Familienseite architektonisch mit dem Generationenwechsel eine Modernisierungsgeschichte vom kleinen Vororthaus hin zum modernen Bungalow vollzieht (ebd., 34, 40f., 76). Auch in der Darstellung der Ausstattung der Häuser und Räume, des Mobiliars und im deutlichen Einbezug des Automobils, das auf amerikanischer Seite schon in den Kriegsjahren selbst zu einem Handlungsraum wird, werden die genannten Unterschiede deutlich (Hoven 2008, 32–34; 36). Für Weihnachten des Jahres 1958 stellt die Autorin dann sogar direkt die Weihnachtsbilder der Familien auf einer Doppelseite zusammen: Jeweils zwei Familien vor dem Tannenbaum, doch bei der Ausstattung zeigen sich deutliche Unterschiede (ebd., 62f.).

Abb. 12: Weihnachten 1958 auf zwei Kontinenten (Hoven 2008, 62f.).

Die amerikanische Familie inszeniert sich wieder deutlich moderner als die deutsche, hier sind auch alle Familienmitglieder auf dem Bild, während bei den Hovens offenbar der Vater das Foto aufnimmt. Die beiden Familien, die hier gezeigt werden, sollen später noch zusammenfinden, die Bilder geben dafür noch keinen Anhaltspunkt, außer dass sie sich bereits gegenüberstehen und damit die nächste Episode vorbereiten, in der sich das künftige deutsch-amerikanische Paar erstmals treffen wird.

Schon hier wird also der Druck, unter dem die familiäre Neugründung steht, angedeutet: Wie stark um diese gerungen werden muss, zeigt auch das spätere Kennenlernen in deutsch-amerikanischer Familienkonstellation. Alarmiert durch die Hochzeitswünsche der Tochter reisen die amerikanischen Eltern von Charlotte nach Bonn (ebd., 76–81). Wieder spielen familiäre Raumkonstellationen und die Referenz auf Dinge eine wichtige Rolle bei der Familienkreation. Gezeigt wird ausschnittsweise das Zusammentreffen der deutschen und der amerikanischen Eltern. Zunächst ist das Brauhaus ›Im Bären‹ von außen zu sehen, seine beleuchteten Fenster bilden das erste Panel einer Seite (ebd., 82). Nach der Ortsangabe folgt ein Hinweis auf die Zeit, der Nachtisch wird gebracht, man sitzt also schon ein Weilchen, die Stimmung aber ist angespannt. Das nun folgende Doppelpanel ähnelt im Aufbau Leonardo da Vincis Das letzte Abendmahl mit geringerem ›Personal‹ und ohne Zentralfigur (ebd.). An Jesus’ Stelle findet sich die Panelbegrenzung. Gleichzeitig wiederholt der Seitenaufbau den Blick auf das Wirtshausfenster von außen aus dem ersten Panel. Durch das 2×2 Raster und das schwarze Gutter blickt man als Leser_in wie von außen auf die Familienkonstellation. Dieser Eindruck wird noch gestärkt durch die Sprechblase im zweiten Panel, das so ebenfalls nur einen Ausschnitt, wie bei einem Blick durch das Gasthausfenster, abzubilden scheint.

Abb. 13: Kennenlernen der Familien (Hoven 2008, 82).

In den beiden unteren Panels sehen wir jeweils eine der Familien sitzen. Die Brautleute in spe sitzen in der Mitte, getrennt durch die Begrenzungen der Panels (ebd.). Eingerahmt werden sie durch die Mütter, die sich um Konversation bemühen. Scheinbar unverfängliche, vereinheitlichende Themen sind die Dinge um sie herum, der Kuchen, das Geschirr. Beeinträchtigt wird die Kommunikation durch Sprachschwierigkeiten, aber auch durch die Passivität sowohl der Kinder als auch der jeweils am äußeren Bildrand sitzenden Väter, deren Begeisterung über die neue Verbindung sich (insbesondere auf amerikanischer Seite) in Grenzen hält (ebd.). Durch die Teilung des Bildes in zwei Panels werden die Bindungen an die jeweiligen Herkunftsfamilien hervorgehoben. Die Beziehung zwischen dem deutsch-amerikanischen Paar erscheint angesichts der so angedeuteten Spannung bedroht. Wieder wird ein Generationenkonflikt angerufen – unterschiedliche Nähen zum Krieg erschweren die Verständigung noch.

Familiäre (Erinnerungs-)Objekt und Machtbeziehungen

Den Krieg als Erlebnis, das die älteren Protagonist_innen der Geschichte prägt, findet sich auch in Im Himmel ist Jahrmarkt wieder. Weyhe stellt Auswirkungen der Kriegsgeschichte der Großelterngeneration und deren Prägungen in den Fokus. Gleichzeitig reflektiert sie ihr eigenes dadurch zum Teil belastetes Verhältnis zu den Großeltern. Besonders deutlich entspinnt sich der Konflikt in Im Himmel ist Jahrmarkt anhand eines neugekauften Schulranzens, den Weyhe als Kind von der sparsamen Großmutter ausgesucht bekommt (Weyhe, 163–165). Das kindliche Alter-Ego der Autorin ist entsetzt ob des hässlichen Ranzens, kann sich allerdings dank der von der Großmutter auch noch gekauften Aufklebebögen wieder motivieren, den Ranzen doch zu mögen, nachdem sie ihn über und über mit den Aufklebern versehen hat (ebd., 164–170).

Abb. 14: Schulranzen als intergenerationelles Aushandlungsobjekt (Weyhe, 171).

Doch es gibt ein böses Erwachen: Der zugleich erziehungs- und kriegsgeschädigte, aus Sicht der kindlichen Protagonistin bösartig agierende Großonkel ›verpetzt‹ die Großenkelin nicht nur, sondern entfernt auch noch heimlich alle Aufkleber vom Ranzen, so dass nur die schäbigen Kleberreste bleiben (ebd., 17–174; Abb. 2). Der Tornister wird so zum Streitpunkt, an dem sich historische Prägungen, Freiheitsdrang und Machtgefälle familiär manifestieren. Wieder sind es Dinge, in denen sich Streitpunkte kristallisieren, aber es sind auch Dinge, die Verständnis erzeugen. So bildet die Liebe zu Winnetou ein emotionales Band der Enkelin zum Großvater mütterlicherseits (ebd., 160), die Aufkleber gleichen als großzügige Geste die ›Gemeinheit‹ der Großmutter aus (ebd., 167) und in der Geschichte des Großonkels schließlich wird anhand eines Gegenstands, einer Puppe, deutlich, was diesen so bitter machte (ebd., 194).20 Gleichzeitig werden geografische Räume, die aber auch familiär markiert werden, bedeutsam, insbesondere weil das Aufwachsen der Autorin in Uganda und die Schwierigkeiten einer Großtante beim Besuch dort thematisiert werden (ebd., 83–87). Halbwachs’ Einschätzung, dass sich das Kind beim Besuch im Haus der Großeltern deren Regelwerk unterwerfen muss und damit neue Raumerfahrungen macht, wird also bei Weyhe einerseits bestätigt, wie am Beispiel des Besuches bei den Großeltern in Deutschland in der Schulranzen-Episode gezeigt, bei dem das kindliche Alter-Ego tatsächlich wenig Gestaltungsspielräume hat (ebd., 173–175). Gleichzeitig betreffen die Veränderungen aber auch schon die Großelterngeneration selbst, die zum Teil voller Sorgen ihre in Afrika lebenden Kinder und Enkel besucht und sich an die für sie fremde Umgebung gewöhnen muss (ebd., 83–87). Von beiden Seiten wird damit neben der räumlichen Erfahrung auch die einer anderen und doch dazugehörigen Welt gemacht (Halbwachs, 48f.). Im Himmel ist Jahrmarkt und Liebe schaut weg zeigen, dass dies nicht nur für Räume, sondern auch für Gegenstände gilt und dass diese Erfahrungen als Teile des doing family keineswegs länger nur eine Generation prägen, sondern in beide Richtung funktionieren können: Familiäre Erinnerungen lassen sich damit von unterschiedlichen Enden aus und in unterschiedlichen Episoden erzählen.

Fazit

In den Graphic Novels Im Himmel ist Jahrmarkt und Liebe schaut weg finden sich verschiedene (Erinnerungs-)Objekte, die helfen, die Comic-Familien als Familien zu etablieren und zu plausibilisieren. Dieses Verwandt-Machen durch als familiär imaginierte (Erinnerungs-)Objekte wird durch die Autorinnen auf unterschiedliche Art und Weise reflektiert: Weyhe lässt ihr Comic-Alter-Ego gleich zu Beginn von Im Himmel ist Jahrmarkt auf die eigene Praxis des doing family, die auch Erfindung offen einschließt, verweisen: Die Familiengeschichte wird damit von vornherein deutlich auch als sinnstiftende Imagination markiert. In Liebe schaut weg bleibt die eigene Position der Autorin als familiäre Erzählerin in der Handlung der Geschichte unreflektiert. Auch hier geben aber die Hervorhebungen bestimmter (Erinnerungs-)Objekte, historische Anspielungen, die symbolische Nutzung von Architekturelementen und die Wahl der Bildausschnitte deutliche Hinweise auf die zwischen Imagination und Recherche stattfindende Konstruktion der Familiengeschichte. In beiden Geschichten fallen dabei zwei Arten von Objekten auf. Erstens deutlich als Erinnerungsmedien und -dokumente markierte Objekte: Fotoalben, Familienportraits und ihre handschriftlichen Kommentierungen, Erinnerungsträger wie Tickets zur Eisbahn, auf der sich die Großeltern kennengelernt haben, das Geschirr der Großmutter, der HJ-Ausweis des Großvaters etc. werden als Teil des Familienerbes zu Beweisstücken und Spuren über die Familie und ihre zum Teil verdächtig gewordene verdrängte Geschichte. Daneben stehen zweitens Alltagsobjekte, die in ihrer Inszenierung ebenfalls Auskunft über die jeweiligen familiären Selbstbilder, ihren Habitus und ihre Selbstinszenierung geben, die sich aber unauffälliger ins Bild fügen: Kleider, Einrichtung oder auch Familienhäuser helfen die historisch-soziale Position der Comicfamilien besser zu verstehen und diese als Teil einer größeren Geschichte, einordnen zu können. Durch diese zusätzlich historisierenden Objekte werden die Comicfamilien nochmals als Akteure der historischen Zeit etabliert, deren Geschichten auch über die enge Erzählung als Teil einer Familie hinaus relevant werden können. Durch die so etablierte Imagination einer familiären Vergangenheit und Zukunft lassen sich die Familiengeschichten auch als Generationengeschichten erzählen. Dabei ist auffällig, dass Prozesse des doing family in beiden Comics nicht allein als harmonische Prozesse beschrieben werden. Erzählungen von Konflikte, Irritationen und Fremdheiten prägen die familiären Spurensuchen ebenso mit. Immer wieder muss aktiv um das Familie-Sein, beziehungsweise – wie im Fall der Verlobung des deutsch-amerikanischen Paars – ums Familie-Werden gerungen werden. Die Dinge werden dabei zu Aushandlungsobjekten, an denen das Familie-Sein immer wieder aufs Neue in Frage gestellt, aber auch bestärkt werden kann.

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  • Schier, Michaela / Jurczyk, Karin (2007): »Familie als Herstellungsleistung« in Zeiten der Entgrenzung. Das Parlament. <http://www.bundestag.de/dasparlament/2007/34/Beilage/002.html#3>, Letzter Zugriff am 06.06.2009.
  • Schneider, David M.: American Kinship. A Cultural Account. Chicago: University of Chicago Press, 1980.
  • Sloterdijk, Peter: Im Weltinnenraum des Kapitals. FĂĽr eine philosophische Theorie der Globalisierung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2005.
  • Robben, Antonius / Sluka, Jeffry A.: Fieldwork in Cultural Anthropology: An Introduction. In: Dies. (Hg.): Ethnographic Fieldwork. An Anthropological Reader. Malden / Oxford /  West Sussex: Wiley-Blackwell, 2012, S. 1-47.
  • Schmitz-Dräger, Katja: Familiengeschichte mit BrĂĽchen. In: Tagesspiegel.de, <http://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/neuauflage-familiengeschichte-mit-bruechen/1469812.html>. 12.03.2009. Letzter Zugriff am 25.07.2016.
  • Spiegelman, Art: Maus – Die Geschichte eines Ăśberlebenden. Bd.1: Mein Vater kotzt Geschichte aus. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1986.
  • Spiegelman, Art: Maus – Die Geschichte eines Ăśberlebenden. Bd.2: Und hier begann mein UnglĂĽck. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2004.
  • Welzer, Harald / Moller, Sabine/Tschuggnall, Karoline: »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Frankfurt a. M.: Fischer, 2003.
  • Welzer, Harald/Lenz, Claudia: Opa in Europa. Befunde einer vergleichenden Tradierungsforschung. In: Ders. (Hg.): Der Krieg der Erinnerung. Holocaust Kollaboration und Widerstand im europäischen Gedächtnis. Frankfurt a. M.: Fischer, 2007, S. 7–41.
  • Welzer, Harald: Klimakriege. WofĂĽr im 21. Jahrhundert getötet wird. Bonn: Bundeszentrale fĂĽr Politische Bildung, 2008.
  • Weyhe, Birgit: About. Biografie. <http://birgit-weyhe.de/about>. Letzter Zugriff am 25.07.2016.
  • Weyhe, Birgit: Im Himmel ist Jahrmarkt. Berlin: Avant, 2016.
  • Weyhe, Birgit: Ich weiĂź. Hamburg: Mami, 2008.
  • Weyhe, Birgit: Reigen. Berlin: Avant, 2011.
  • Weyhe, Birgit: Im Himmel ist Jahrmarkt. Berlin: Avant, 2013.
  • Weyhe, Birgit: Von Lebensmittelmarken und kalten FĂĽĂźen – Lesung und Workshop, organisiert von Susanne Brandt, Heinrich-Heine-Universität DĂĽsseldorf, 02.06.16.

Abbildungsverzeichnis

  • Abb. 1: Hoven 2008, 52.
  • Abb. 2: Weyhe, 173.
  • Abb. 3: Weyhe, 8.
  • Abb. 4: Weyhe, 9.
  • Abb. 5: Weyhe 2016.
  • Abb. 6: Weyhe, 16.
  • Abb. 7: Weyhe, 38.
  • Abb. 8: Hoven 2008, 7.
  • Abb. 9: Hoven 2008, 20.
  • Abb. 10: Hoven 2008, 4f.
  • Abb. 11: Hoven 2008, 48.
  • Abb. 12: Hoven 2008, 62f.
  • Abb. 13: Hoven 2008, 82.
  • Abb. 14: Weyhe, 171.

 

  • 1] Ich nutze im Folgenden die Begriffe ›Comic‹, ›Graphic Novel‹ oder auch ›Bildergeschichte‹ synonym. Die damit pluralisierte Benennung ist eine bewusste Entscheidung, um die Gleichwertigkeit der jeweils durch die Begriffe besonders betonten Aspekte hervorzuheben: Auf der vielleicht abstraktesten Ebene handelt sich zunächst um Bildergeschichten, genauer kann man beide zu BĂĽchern gebundenen Geschichten auch als Teil der »sequenziellen Kunst« (Eisner) oder auch als ›Comics‹ bezeichnen. Inhaltlich handelt es sich um Narrationen, die an groĂźe Familienromane erinnern, weshalb ich den Begriff der Graphic Novel wiederaufnehme.
  • 2] Ich beziehe mich in meinem Text stets auf die Erstausgabe von 2013. Die Neuauflage von 2016, die auch ein anderes Cover hat, wird nur ergänzend herangezogen.
  • 3] Dabei wird auffällig oft nicht einfach ›nur‹ eine Familiengeschichte behandelt, sondern diese auch mit transgenerationellen Aushandlungen von gesellschaftspolitischen Erfahrungen und der Auseinandersetzung mit ihnen verbunden. Hier ist natĂĽrlich Spiegelmans (1986, 2004) geradezu kanonisch gewordene Auseinandersetzung mit der Shoa und »Postmemory« (Hirsch) in Maus zu nennen, aber auch Persepolis (Satrapi), Fun Home – Eine Familie von Gezeichneten (Bechdel), Das Erbe (Modan) oder Das groĂźe Durcheinander (Leavitt) bieten anschauliche Beispiele fĂĽr die Breite der Auseinandersetzung mit dem Thema ›Familie‹.
  • 4] Der Aufsatz lässt sich als Teil eines eher kulturwissenschaftlich-ethnologischen Familien- und Verwandtschaftsdiskurses verstehen, bei dem performative Herstellungsprozesse von Familie und Verwandtschaft besonders in den Fokus treten (u. a. Schneider; Bourdieu; Franklin, Sarah / McKinnon; Butler; Schier / Jurczyk). Es geht um die Untersuchung von »Verwandtschaft als Aktivum«, also als »Ergebnis von Handlungen« (Knecht / Beck / Hess, 8). Im Anschluss an Ecarius nehme ich keine scharfe Trennung von Familie und Verwandtschaft vor, ist doch »[e]ine solche Unterscheidung eher unpräzise, denn schon bei den GroĂźeltern stellt sich die Frage, ob sie zur ›Kernfamilie‹ oder zur Verwandtschaft gehören.« (Ecarius, 221)
  • 5] Ich nutze hier die zweite Auflage. Die Originalausgabe von 2007 ist kleinformatiger, es gibt auch kleinere inhaltliche Abweichungen (Schmitz-Dräger, o. S.).
  • 6] 2008 erhielt Hoven fĂĽr Liebe schaut weg den ICOM-Preis in der Kategorie ›Bester Independent Comic‹ sowie eine Nominierung fĂĽr den Max-und-Moritz-Preis (Hoven o. J.; Schmitz-Dräger 2009).
  • 7] Zum Thema des »Doing Biography am Beispiel von Im Himmel ist Jahrmarkt (Klingenböck, 128) liegt bereits ein Aufsatz von Ursula Klingenböck vor. Eine weitere Veröffentlichung von Anna Joszt zu Weyhes Werk befasst sich mit Reigen (Weyhe 2011).
  • 8] Weyhe wurde 2014 mit Im Himmel ist Jahrmarkt fĂĽr den Max-und-Moritz-Preis nominiert.
  • 9] Sowohl Line Hoven als auch Birgit Weyhe sind Teil der KĂĽnstlerinnengruppe Spring, die unterschiedlichste Arbeiten aus den Bereichen Comic, Illustration und freier Zeichnung versammelt und einmal jährlich eine Anthologie herausgibt (u. a. Hoven et. al. 2014).
  • 10] Zu sehen ist zu diesem Satz die Zeichnung eines Braunkohletagebaus: Eine kleine Person steht auf einem Berg und blickt hinunter in die Grube auf den Schaufelradbagger, der sich bereits dem FuĂź des Berges nähert. Noch steht die Person sicher, aber je mehr der Berg schwindet, umso unsicherer erscheint auch die eigene Position.
  • 11] Tatsächlich berichtet Weyhe in einem Workshop von ersten familiären Bezugnahmen auf Im Himmel ist Jahrmarkt als akzeptierter Chronik der eigenen Familiengeschichte in familialen Tradierungsprozessen, die die Vergangenheit nun trotz des Wissens um ihren Konstruktionscharakter fĂĽr alle anschlussfähig und zitierfähig festhält (Weyhe zit. n. »Von Lebensmittelmarken und kalten FĂĽĂźen – Lesung und Workshop« an der Heinrich-Heine-Universität DĂĽsseldorf, 02.06.16, organisiert von Susanne Brandt. Im Folgenden abgekĂĽrzt als ›Weyhe, Workshop 02.06.16‹). Klingenböck spricht von Im Himmel ist Jahrmarkt ähnlich auch als »Erbe zu Lebzeiten« fĂĽr Weyhes Töchter, das selbst zum »Telling Object« wird (Klingenböck, 136).
  • 12] Dabei ist auch von Belang, wer ĂĽberhaupt portraitiert wird und wer ›im Dunkeln‹ bleibt, wer also aktiver und sichtbarer Teil der ›Comic-Familie‹ wird oder wer bewusst ausgelassen wird.
  • 13] Welzer spricht im Anschluss an Hilberg vom »Wohnzimmerregal«, in dem »›Lexikon‹ und ›Album‹« nebeneinanderstĂĽnden (ebd.); das Bild des ›Familienschrankes‹, der deutlicher auch die Frage des Zugangs ins Bild einbringt, erscheint mir aber noch passender.
  • 14] Da die Seiten des Comics nicht nummeriert sind, habe ich selbst eine Seitenzählung eingefĂĽhrt: Die erste Seite mit der Titelage wäre demnach Seite 1, das eingangs schon beschriebene Bild mit dem leeren Raum findet sich dann auf Seite 4 und 5 (usw.).
  • 15] »Mendelssohn« ist auch der Name des Kapitels (Hoven 2008, 8).
  • 16] McCloud nennt dieses Phänomen, »das Ganze zu erkennen, obwohl wir nur einen Teil davon wahrnehmen«, »Closure« bzw. »Induktion« (McCloud, 71). Er erklärt dieses anhand der Alltagerfahrung induktive SchlĂĽsse zu ziehen, »wenn wir auf Basis unserer Erfahrung im Geiste vervollständigen, was wir unvollständig wahrnehmen.« (ebd.) FĂĽr das fehlende Bild im Fotoalbum zusammen mit der Bildunterschrift lässt sich also mĂĽhelos ein anderes, mögliches Bild im Kopf einsetzen, weshalb die Leerstelle keine LĂĽcke bleibt, sondern gefĂĽllt wird, mit möglichen Bildern. Sowohl Bilder familiärer Schuld als auch Unschuld können so gerade auf der Grundlage von entstandenen oder geschaffenen LĂĽcken des Tradierten aus Alltagswissen abgeleitet werden, was etwa die Schuldanerkennung gegenĂĽber den Taten des liebevollen GroĂźvaters erschweren kann.
  • 17] In der therapeutischen Familienforschung wird davon ausgegangen, dass Frauen in der Regel eher als ›HĂĽterinnen‹ von ›Familiengeheimnissen‹ fungieren und deren Weitergabe oder Verstummen absichern. So pauschalisierend solche Geschlechtszuschreibungen auch häufig sind, so sei doch damit nochmal anhand der autobiographischen Auseinandersetzungen mit Familiengeschichten von zwei Zeichnerinnen (!) auf sozialausgeformte Spezifika und jeweils unterschiedliche Sagbarkeiten auch innerhalb von Familiensystemen, die sich selbstverständlich weiter ausdifferenzieren und genauer beschreiben lassen, verwiesen. Neben der nach dem Geschlecht der ›Erzähler‹ ist, wie ebenfalls angedeutet, auch die Frage nach der (Alters-)Generation einen Blick wert. Zu Geschlecht und »Biographics« vgl. auch Klingenböck, 122f.
  • 18] Die Frage nach Schuld und Verstrickung im Nationalsozialismus greift auch Weyhe auf und zeigt unterschiedliche familiäre Verstrickungen bzw. Widerständigkeiten im Laufe der Geschichte auf (Weyhe, 68f., 146f.)
  • 19] Bei Weyhe bildet jeweils eine Auswahl von biographischen Fotos der Person, um die es gehen wird, den Einstieg in die Geschichten der Einzelnen. Die Fotos bleiben unkommentiert, aber es stehen jeweils – in unterschiedlichen, offenbar auch zeithistorisch angepassten Schriftarten – Name und Geburts- und Sterbedaten darĂĽber (Weyhe, 19; 95; 223; 265). Damit sei auf eine weitere Besonderheit, die die Familienerzählungen von Hoven und Weyhe unterscheidet, hingewiesen: Weyhes Hauptprotagonist_innen leben eindeutig nicht mehr, bei Hoven bleibt das offen, sicher ist nur: das Haus der deutschen (GroĂź-)Eltern steht im ersten Bild, am Anfang der Geschichte, der vermutlich bereits auf Ende verweist, leer (Hoven 2008, 4f.).
  • 20] Die Episode um den GroĂźonkel Carl Friedrich alias »Ititi« und seine Geschichte entwickelt Weyhe wesentlich anhand von dessen Puppe »Charlotte« (Weyhe, 191). Seine kindliche, zunächst von der Mutter als Ausgleich fĂĽr ihren Verlust von Ititis mit fĂĽnf Jahren bereits verstorbenen Schwester beförderte, dann durch den autoritären Vater verbotene Zuneigung zu seinen Puppen fĂĽhrt zu einem massiven Konflikt mit diesem. In der Wut des Vaters auf die Puppen als vermeintliche Spiegelung seines als verweiblicht und schmächtig gedeuteten Sohnes wiederum werden nicht nur familiäre, sondern auch zeithistorische Vorurteile gegenĂĽber abweichenden Geschlechtsbildern dargestellt. Weil er sich selbst die Schuld am Tod des Vaters gibt, wird fĂĽr Ititi die Ablehnung des Vaters später zu einem väterlichen Auftrag zu Männlichkeit umgedeutet (ebd., 218–220). Dies fĂĽhrt zu starken Verstrickungen in den Krieg, schĂĽtzt ihn aber nicht vor einer späteren Verfolgung durch die Nazis als Homosexueller. Weyhe nimmt die familiäre Erzählung um die Puppe hier also zum Anlass, den GroĂźonkel zumindest in einem mehr Verständnis erzeugenden Licht zu präsentieren, insofern er auch als Opfer seiner Zeit und seiner Erziehung gezeigt wird.