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Comics schreiben Kunstgeschichte

Pioniere des Comic rezensiert von Marcus Schotte

Der opulent ausgestattete Katalog Pioniere des Comic zur gleichnamigen Ausstellung in der Schirn Kunsthalle Frankfurt (2016) dokumentiert Comic-Arbeiten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die das populärkulturelle Medium mit ihrer Innovationskraft und Experimentierfreude nachhaltig prägten. Das Überblickswerk präsentiert Comics als Teil der zeitgenössischen künstlerischen Avantgarde.

Anders als die ebenfalls von Alexander Braun für das Bielefelder Museum Huelsmann verantwortete Schau Jahrhundert der Comics. Die Zeitungs-Strip-Jahre (2008/09) konzentriert sich die neue Ausstellung nun auf das Œuvre einiger weniger, für die Geschichte des künstlerischen Comics entscheidender Wegbereiter. Von der Einbettung der für US-amerikanische Zeitungen gestalteten Strips, Comic-Seiten und seltenen Originalzeichnungen »in kunsthistorische sowie sozial-historische Kontexte« versprechen sich die Herausgeber den »Anfang [...] für eine grundsätzliche Revision des Mediums im selbstverständlichen Nebeneinander aller künstlerischen Gattungen« (9). Der Begegnung mit Winsor McCay (1869–1934), Lyonel Feininger (1871–1956), Charles Forbell (1885–1946), Cliff Sterrett (1883–1964), George Herriman (1880–1944) und Frank King (1883–1969) geht eine instruktive Einführung voraus. Zum einen zeichnet Braun darin die Entstehung des Comics im traditionellen Printmedium Zeitung nach: Richard F. Outcault (1863–1928) erneuert zwischen 1894 und 1897 die bekannten Formen der Bilderzählung, indem er serielles und sequentielles Erzählen miteinander kombiniert und Schrift konsequent in das Bild integriert. Zum anderen skizziert Braun die Anfänge der semiotischen (U. Eco) und kunsthistorischen (W. Hofmann) Comic-Forschung und gibt einen Abriss über internationale Comic-Ausstellungen seit den 1960er Jahren: Weder Universitäten noch Museen etablieren eine Tradition des vorurteilsfreien Umgangs mit Comics, da sie an der strikten Trennung von ernster und Unterhaltungskultur festhalten und Comics von ihren Diskursen weitgehend ausschließen. Zum dritten plädiert Braun für die Öffnung der Museen gegenüber der Comic-Kunst: Nur wenn Comics nicht wie bisher überwiegend privat, sondern institutionell gesammelt und bewahrt werden, wenn sie mit bildanalytischem, ikonografischem und ikonologischem Instrumentarium erschlossen und publikumswirksam präsentiert werden, besteht die Chance, sie als kulturhistorisches Zeugnis dauerhaft zu erhalten.

Im Hauptteil ist jedem der sechs Comic-Künstler ein eigenes Kapitel gewidmet, das neben biografischen Informationen auch kunsthistorische Analysen der gezeigten Werkausschnitte enthält. Dadurch entsteht im Wechsel zwischen der (Re-)Lektüre bekannter und der (Wieder-)Entdeckung vergessener Strips die Geschichte einer anderen Avantgarde, die unbestritten mit Little Nemo in Slumberland (1905–1914) beginnt. Winsor McCay erkundet mit den Traumreisen Nemos inhaltlich das Unbewusste und formal das ästhetische Potenzial der Sonntagsseite, die er in immer neuen Experimenten mit dem Layout als Gesamtkomposition anlegt. Sein komplexes »Spiel mit der Wahrnehmung von Realität, verschränkten Illusionsebenen und Paradoxien« (62) weist ihn als Künstler aus, der die Bildsprache des Surrealismus vorwegnimmt.

Lyonel Feininger entwirft seinen gleichsam von der japanischen Kunst wie vom Jugendstil beeinflussten Comic The Kin-der-Kids (1906–1907) über die abenteuerliche Weltreise dreier Jungen erstmals konsequent als Fortsetzungsgeschichte mit zwei über größere Zeiträume parallel geführten Erzählsträngen – eine literarisch ambitionierte Innovation, die Feiningers Frühwerk rehabilitiert, ohne dessen Schwächen bei der Charakterzeichnung, auf der Handlungs- und sprachlichen Ebene zu leugnen.

Der nahezu unbekannte Grafiker und Illustrator Charles Forbell schafft mit Naughty Pete (1913) einen erst in jüngster Zeit anschlussfähigen comicgeschichtlichen »Quantensprung« (134). In abgeschlossenen, von Woche zu Woche formal veränderten Episoden werden die Missgeschicke eines kleinen Jungen erzählt, die mit hoher Dynamik vor monochromem Hintergrund, in wechselnden Panelformen (z. T. ohne Rahmen) ohne Sprechblasen und mit konstruktivistischer Anmutung dargestellt werden: »Zum ersten Mal wurde hier die Form bedeutender inszeniert als der Inhalt. [...] [D]ie Erzählung hatte sich in eine abstrakte, artifizielle Seitenarchitektur einzufügen.« (134)

Cliff Sterrett thematisiert in seiner Serie Polly and Her Pals (1912–1958) den Weg der Gesellschaft in die Moderne am Typus der ›neuen Frau‹ und bildet diesen Wandel im Generationenkonflikt zwischen seiner Protagonistin und ihrem Vater ab. Seine zunächst konventionellen Zeichnungen verändern sich unter dem Einfluss des expressionistischen Stummfilms, des japanischen Holzschnitts und der abstrakten Malerei »bis an die Grenze der Plausibilität« (171), gelegentlich verzichten sie ganz auf Text und entfalten ihre Geschichte rein bildsprachlich, ehe sie ab Mitte der 1930er Jahre zu einer unspektakulären, »klaren geometrischen Formensprache« (181) finden.

George Herriman kreiert mit Krazy Kat (1913–1944), der immer wieder neu durchgespielten, oft surrealistisch ins Bild gesetzten Dreiecksbeziehung zwischen der gewalttätigen Maus Ignatz, der masochistischen, in die Maus verliebten Katze Krazy und dem in die Katze verliebten Hund Offissa Pupp, ein Stück absurder Literatur: »In seiner Essenz bildet Krazy Kat das ganze Drama der menschlichen Existenz ab, vergebliches Begehren und nicht erfüllte Sehnsüchte, wieder und wieder aufgeführt in einer Spiegelwelt.« (191)

Frank King schließlich entwickelt Gasoline Alley (seit 1918) von einer Sonntagsbeilage über autobegeisterte Männer im ländlichen Amerika zu einem täglichen Strip über einen Junggesellen, der sich eines Findelkinds annimmt (1921) und danach zu einer Frau und zwei weiteren Kindern kommt. In der bis heute über große Handlungsbögen fortgeführten Great American Novel altert das mehrere Generationen umfassende Figurenensemble in Echtzeit, die biografisch inspirierte Familiengeschichte spiegelt ein Jahrhundert amerikanischer Alltagsgeschichte wider. »Die enorme dramaturgische und künstlerische Bandbreite, die der so unscheinbar wirkende Strip in sich vereint, ist erstaunlich« (239): mehrsträngiges Erzählen, Anleihen beim Expressionismus, Kubismus, Orphismus u. a. sowie eine innovative Seitenarchitektur, die die Grenzen von Ganzbild und Einzelbildern auflöst.

Zu seiner vorzüglichen Ausstellung ist dem ausgewiesenen Kurator und Herausgeber Braun ein erkenntnisfördernder Begleitband gelungen, den man aufgrund der zahlreichen, sorgfältig reproduzierten Abbildungen wie einen Comic »lesend anschauen oder anschauend lesen« (258) kann. Nicht-Experten dient er als fundierte Einführung, Kennern dank der ausgewählten Funde und kunstwissenschaftlichen Interpretationen als Vertiefung. Lediglich das Fehlen eines comicsprachlichen Glossars und einer Bibliografie, in der sich die internationale Forschung besser abbildet als in den doch recht spärlichen Fußnoten, ist kritisch anzumerken. Verdienstvoll ist das Unternehmen, weil es zwei Desiderate deutlich werden lässt: Erstens verlangen Comics nach kunsthistorischer Untersuchung, deren Ergebnisse dann Gegenstand eines interdisziplinären Austauschs werden müssen; zweitens erfordert die desolate Überlieferungslage konservatorische und editorische Maßnahmen in weitaus größerem Umfang als bisher. Seine Wirkung entfaltet der Band dadurch, dass er die Wahrnehmung der verschiedenen Formen grafischen Erzählens langfristig ändert: Ohne Berücksichtigung des Comics ist die Geschichte der modernen Kunst künftig nicht mehr denkbar.

 

Pioniere des Comic
Eine andere Avantgarde
Ausst.kat. Schirn Kunsthalle Frankfurt
Alexander Braun, Max Hollein (Hg.)
Ostfildern: Hatje Cantz, 2016
271 S., 35,00 Euro
ISBN 978-3-7757-4110-1