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Literalismus und Vieldeutigkeit

Mary Wept Over the Feet of Jesus rezensiert von Jakob Kibala

Chester Brown tritt an, das christliche Verständnis von Prostitution und Frömmigkeit zu bestimmen. Sein Comic ist eine arbeitsame Lektüre. Leser_innen müssen sich selbst einen Reim darauf machen, welche Moral er formuliert. Erst zum Schluss gibt Brown die richtige Lesart preis. Bedauerlicherweise entpuppt er sich dabei als unflexibler Denker.

Mary Wept Over the Feet of Jesus besteht – von einer Ausnahme abgesehen – aus Adaptionen biblischer Episoden. Darin spürt Chester Brown dem Verhältnis von »Prostitution and religious obedience in the Bible« nach, wie der Untertitel des Buches programmatisch formuliert. Jedoch lassen die einzelnen Geschichten in Mary Wept sich nicht immer klar auf die übergeordnete Fragestellung beziehen.

Bereits das erste Kapitel führt eine paradigmatische Unbestimmbarkeit vor Augen. »Cain and Abel« dreht sich ganz um Männer-, nämlich Vater-Sohn-Beziehungen. Zentral ist die Frage nach Autorität und Gehorsam: Abel rebelliert gegen seinen Vater Adam, der wiederum den Zorn des Schöpfergottes Jahwe fürchtet, während Kain weder Adams noch Gottes Liebe gewinnt. »Cain and Abel«, wie Mary Wept als Ganzes, ist reich an ikonografischen und literarischen Vieldeutigkeiten: Adam schlägt Kain auf den Hinterkopf, Kain wiederum erschlägt seinen Bruder von hinten. Lässt der Mord sich deshalb als falsch verstandene Liebestat lesen? Immerhin ist Gewalt die einzige Zuwendung, die Browns Kain je erfährt. Demnach vollzöge er die Perspektive seines gefühlskalten Vaters nach, dessen Emotionen begleitet werden von Übergriffen gegen die Kinder.

Aber auch Abel kommt Kain in seiner Bluttat nahe. Denn er tötet den Bruder gerade so, wie dieser zuvor Schafe schlachtete, um sie Gott als Opfer darzubringen. Vielleicht kann Kain deshalb nicht begreifen, dass Gott den Brudermord nicht loben mag, während Abels Tiertötungen ihn rührten. Allein eine biblische Position zu Sexarbeit lässt sich hieraus nicht ableiten. In Adams Ackerbau kann man eine Metapher für ehelichen Sex erkennen (»After you’ve plowed the field, you plant the seeds in the furrows«, 1); in Abels Fleischkonsum eine triebhafte Lust. Explizite Bezüge zur menschlichen Sexualität, von Prostitution ganz zu schweigen, stellt das Kapitel jedoch nicht her.

Brown meint mit Prostitution vielfältige Handlungen: Die Frauen in Mary Wept sind Ehebrecherinnen, Kinderprostituierte, ›Edelhuren‹ oder solche, die aus wirtschaftlicher Not sexuelle Dienste anbieten. Deshalb bezieht der Comic keine eindeutige Stellung zur (Un-)Moral biblischer Sexarbeit. Allerdings ist allen sexuellen ›Umtrieben‹ gemeinsam, dass sie Gesetze und Traditionen unterlaufen. Schleichend zersetzen Browns Sexarbeiterinnen das Patriarchat. Dies berührt denn auch die Vereinbarkeit von Prostitution mit religious obedience, dem Gehorsam gegen den ultimativen Patriarchen: Gott. Wie Widerstand und Ergebenheit miteinander versöhnt werden können, lässt Brown, der Freier und Christ, lange offen.

Offenheit und Uneindeutigkeit prägen Browns Erzählstil: Die Dialoge ermangeln jeder poetischen Qualität. Sie treiben vor allem den Plot voran, insbesondere dort, wo Brown das Geschehen rafft und mit großen Auslassungen schildert. So reiht er Situationen aneinander, die sich gegenseitig nicht immer ausreichend motivieren. Oft mutet das Geschehen schicksalhaft – vielleicht von Gott gelenkt – an, und lädt Leser_innen dazu ein, über die Logik hinter solchem fremden Willen zu spekulieren. Browns Buch verlangt scheinbar danach, interpretiert zu werden. Ganz so, wie die Bibel sich bekanntlich nicht von selbst erschließt.

Wo Brown das Geschehen direkt zeigt, bleiben die Motive der Figuren oft unklar. Immer wieder bedürfen sie der textlichen Explikation. Denn die Zeichnungen sind ebenso nüchtern gehalten, wie die Prosa. Die Figuren sind stark vereinfacht gezeichnet. Ihre Gesichter, Körper, Kleidung und Accessoires sind zwar individualisiert, aber ihre Bewegungen zumeist ausdruckslos, das Mienenspiel unpersönlich. Mit schwarzen Punktaugen und im Reden verschlossenen Mündern wirkt das Personal von Mary Wept zumeist erstarrt. Nur selten gesteht Brown seinen Protagonist_innen offene Emotionen zu.

Stoisch fügen die Akteure_innen sich denn auch ihrem Schicksal. Beispielsweise Juda, der die Witwe seines Sohnes töten lassen will: »Tamar, you’re guilty of adultery. The punishment is death. Do you have anything to say before we kill you?« (36). Als Tamar erwidert, mit Juda selbst sei der Ehebruch begangen worden, revidiert der Patriarch sein Urteil: »Let her go. / My sin is greater than hers« (38). Dieser Sinneswandel ist nur bedingt nachvollziehbar. Zuvor hat Juda alle gesetzlichen Ansprüche Tamars ignoriert. Warum er jetzt, innerhalb weniger Panels, zum Verteidiger ihrer Rechte avanciert, ist in Browns Darstellung nicht unmittelbar begreiflich. Hier wie an anderer Stelle agieren Personen aus Gefühlslagen heraus, die für das Publikum schwer nachvollziehbar sind. So sind die Figuren Avatare desselben schicksalhaften oder göttlichen Willens, der auch das äußere Geschehen lenkt.

Besonders deutlich wird dies in »The Prodigal Son«. Hier spricht Gottes Sohn durch die Figur des gütigen Vaters hindurch: »Do you think God wants mindless worshippers who can only follow instructions?« (170). Dabei deutet das Ventil seiner Sprechblase aus dem Panel heraus. Diese Darstellungsweise reserviert Brown ansonsten für das Reden Jesu. In »Prodigal Son« schwebt die Blase jedoch an dem Ort, wo zuvor der Vater stand. Dieser wird zum Medium, durch welches hindurch sich Göttliches artikuliert.

Wieder identifiziert Brown verschiedene Figuren ikonografisch miteinander. Öffnete diese Strategie »Cain and Abel« für unterschiedliche Interpretationen, vereindeutigt »Prodigal Son« die bis dahin unklare Botschaft des Comics: Gott verachtet die Gesetzestreuen. Hier könnte sich der Kreis zur Prostitution schließen, zeigt Mary Wept Sexarbeit doch als aktiven Widerstand gegen Recht und Ordnung. Allerdings müssen Leser_innen diesen Bezug selber herstellen. Denn Brown erklärt am Ende noch, was es seiner Meinung nach mit Prostitution in der Bibel auf sich hat: »All the evidence indicates that Jesus’s mother was a whore« (146). Die »evidence«, welche Brown hier meint, ist eine gefälschte Genealogie Marias, die das Matthäus-Evangelium präsentiert und die in Mary Wept wiederholt wird. Diese Genealogie zeige, dass Maria von jenen Sexarbeiterinnen und Ehebrecherinnen abstammte, die Brown zu seinen Protagonistinnen macht. Dies sei ein Hinweis darauf, dass die Mutter Gottes eine ›Hure‹ war: »For many years, I mused about MATTHEW’s genealogy and what I see as its implication about Jesus’s mother« (174 f.). Weitere Sinnebenen gesteht Brown seinem Comic nicht zu: »Only if Mary was a prostitute could her story connect to the stories of all of the other four women in the genealogy« (174). Insbesondere darin demonstriert der Autor von Mary Wept ein literalistisches Verständnis der ›heiligen Schrift‹, die er als historiografischen Text behandelt und deren Botschaft er konsequent auf seine eigenen zwei Interpretationen verkürzt. Gegen die literarische Gemachtheit der ›heiligen Schrift‹, ihre Polysemie, gibt Brown sich vollständig blind.

 

Mary Wept Over the Feet of Jesus
Prostitution and Religious Obedience in the Bible
Chester Brown
Montreal: Drawn & Quarterly, 2016
280 S., 21,95 US Dollar
ISBN 978-1770462342