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Die Sphinx im Somarausch

Tonto #15: Once Upon rezensiert von Sandro Esquivel

Das Künstlerkollektiv Tonto um die beiden Grazer Edda Strobl und Helmut Kaplan beschert uns nach #12: Nordpol und #13: Noise mit seiner 2014 bei avant erschienenen Anthologie Once Upon (A Time) erneut einen Augenschmaus, der dieses Mal besonders traumartig und enigmatisch daherkommt. Dieser Eindruck entsteht zum einen durch Schauplätze wie unterirdische Höhlen, düstere Wälder und unerforschte Planeten, weit stärker jedoch durch die vielschichtige strukturelle und inhaltliche Verflechtung der gesammelten Beiträge.

Auch wenn seit der letzten größeren Ausgabe von Tonto Comics knapp zwei Jahre vergangen sind, ist die Gruppe ihrem Konzept treu geblieben. Das seit Tonto #12: Nordpol etablierte Format – zwei haptisch hochwertige Hefte, die in einer gemeinsamen Klappenbroschur elegant zu einem Dyptichon verbunden sind – findet sich auch hier wieder. Die Auswahl der Beiträge bietet, wie bei Tonto üblich, ein breites Spektrum von surrealen Illustrationen über kurze, albern-anarchische Witze bis hin zu eher klassisch erzählten Geschichten. Die Sammlung umfasst insgesamt 16 Arbeiten, wobei neben den Tontisten weitere Künstler_innen als Gäste vertreten sind – darunter so renommierte Namen wie Anke Feuchtenberger, Professorin für Zeichnen und Medienillustration an der HAW Hamburg. Wie schon in den vorigen Bänden werden die einzelnen Beiträge nicht sequentiell montiert, sondern sind inhaltlichen und formalen Motiven folgend ineinander geschachtelt, die es beim Lesen zu dechiffrieren gilt. Formal gerahmt wird das Werk durch die Arbeiten von Michael Jordan, die sich sowohl auf dem Umschlag finden als auch in der Mitte quasi als ›Intermezzo‹ den Erzählfluss unterbrechen.

Die mit jeweils über 20 Seiten deutlich umfangreichsten Geschichten, die den Innenteil dominieren, sind zum einen »Prairie Sex Sketches!«, in der Edda Strobl in einer Variation der autobiografisch gefärbten Schlüsselgeschichte von Nordpol den Road Trip zweier junger Frauen in die Südstaaten der USA thematisiert, sowie »Sex on Mars«, in der Kaplan drei Astronauten in Manier extraterrestrischer Wandervögel Abenteuer auf dem Roten Planeten erleben lässt. Die Handlungen dieser beiden Geschichten lösen sich gegenseitig etappenweise ab und werden darüber hinaus mehrmals durch weitere kürzere Beiträge unterbrochen, was den Eindruck erweckt, man würde im Fernsehen durchs Nachtprogramm zappen. Wie geschickt dabei mit den Erwartungen der Leser_innen gespielt wird, lässt sich zum Beispiel anhand der Art und Weise nachzeichnen, in der beide Geschichten auf das Thema ›Sex‹ eingehen, welches durch die Titel zunächst das gemeinsame Hauptmotiv zu sein scheint. Funktionalisiert wird es dann jedoch in völlig unterschiedlicher Art und Weise: zum einen explizit narrativ – die Heldinnen der ersten Story werden auf ihrer Reise mit einem latent pädophilen Grabscher konfrontiert, zum anderen implizit und symbolisch, lassen sich doch im zweiten Comic von den kondomartigen Helmen der Hauptfiguren bis hin zu ejakulierenden Riesenblumen diverse schlüpfrige Anspielungen ausmachen. Nicht ohne Grund ist das Tableau eines kopulierenden Schneckenpaares (»Der große Kuss«) in diesen Handlungsstrang eingestreut. Beim wiederholten Lesen eröffnen sich weitere, subtilere Überschneidungen der Inhalte: So halluziniert zum Beispiel eine der Protagonistinnen von »Prairie Sex Sketches!«, während sie in einem Whirlpool mit zweifelhafter Hygiene eindöst, eine Haeckel’eske Menagerie von Mikroorganismen – von den Autor_innen als »präkambrisches Leben« bezeichnet – was an das Forschen nach außerirdischem Leben in »Sex on Mars« erinnert. Auch das durch ein altes Schulschaubild einer Wanze inspirierte Coverbild1 greift dieses Motiv auf und verleiht dem Titel Once Upon (A Time) neben der naheliegenden Märcheneröffnung eine weitere, fundamentalere Lesart.

Künstlerisch besonders hervorzuheben sind Anke Feuchtenbergers düster-phantastische Kohlezeichnungen, die jeweils eine Einzel- oder Doppelseite einnehmen und in starkem inhaltlichen wie gestalterischen Kontrast etwa zu den eher skizzenhaften Comics von Simon Häußle und David Hughes stehen, sowie die holzschnittartigen Arbeiten von Michael Jordan. Gerade diese Beiträge bieten in ihrer surrealen Motivik und volatilen Montage große Interpretationsspielräume. »Wo kommen all die Frauen her? Sind verbotene Substanzen im Spiel? [...] Ist das eine Prüfung?« Schon der Klappentext legt die Intention der Autor_innen offen, einer Sphinx gleich Fragen aufwerfen zu wollen.

Dabei sind es aber die überwiegend chthonischen – also mit erdnahen mythologischen Themen wie Unterwelt, aber auch Fruchtbarkeit konnotierten – Handlungsorte und Bildelemente, zum Beispiel die oft nackten Frauengestalten im Gestus von Erdgöttinnen, die in Once Upon dominieren und eine gemeinsame übergeordnete Sichtweise ermöglichen. Selbst die humoristischen Gastbeiträge wie Willems »Non«, »The Joke, continued ...« von David Hughes und Aisha Franz mit »Waldimbiss« passen sich in dieses Konzept ein, indem bei aller vordergründigen Unbedarftheit existenzielle Motive wie Scham und Tod behandelt werden.

Erscheinen also einzelne Arbeiten auf den ersten Blick eher heterogen und separat betrachtet recht lakonisch, entfalten sie ihre besondere Wirkung im Gesamtkonzept durch Bezug und Kontrast zueinander. Alles scheint in traumartiger Logik vernetzt, ineinander diffundierend und aneinander anknüpfend – so lassen sich etwa Jordans Arbeiten nicht nur untereinander zu verschiedenen Plots verbinden, sondern auch als Fortsetzung der abrupt endenden Handlung von »Sex on Mars« lesen.

Sind nun also doch verbotene Substanzen im Spiel? Tatsächlich beschleicht einen beim Lesen und Betrachten manchmal das Gefühl, die Autor_innen hätten vom Soma genascht, dem mythischen Rausch- und Traumgetränk. Oder gar man selbst? Dieser Eindruck trügt jedoch: Die sich mal mehr und mal weniger subtil zeigende Wechselbezüglichkeit der zahlreichen unterschiedlichen Beiträge zeugt davon, dass die Autor_innen hier nichts dem Zufall überlassen, sondern vielmehr mit künstlerischer Akribie das Gesamt­konstrukt Once Upon konzipiert haben.

Alles in allem muss man feststellen, dass es Tonto auch dieses Mal gelungen ist, einen Sammelband herauszubringen, der sowohl Comic- als auch Kunstband ist. Umso deutlicher tritt dies hervor, wenn man den größeren Rahmen bedenkt, in dem die Autor_innen sich bewegen. So wurde die Veröffentlichung von Once Upon durch eine Ausstellung vom 6. Juni bis 3. Juli 2014 im Grazer Forum Stadtpark ergänzt,2 in der die Inhalte in Wandgemälden, Skulpturen und Performances aufgegriffen wurden und auf diese Weise die Grenzen des Mediums Comic transzendieren.

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Tonto #15: Once Upon (A Time)
Edda Strobl, Helmut Kaplan, Simon Häußle, Anke Feuchtenberger, Aisha Franz, Norbert Gmeindl, Igor Hofbauer, David Hughes, Michael Jordan und Willem
Berlin: Avant, 2014
80 S. + Beiheft 16 S., 19,95 Euro
ISBN 978-3-939080-95-4