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Lesbare Bilder – die Geburt des Comics aus der Kunst der Linie

The Origins of Comics rezensiert von Jan Roidner

Thierry Smolderen untersucht in The Origins of Comics die Entwicklung hybrider narrativer Konzepte bei William Hogarth und Rodolphe Töpffer. Ausgehend von moralischen Bilderzyklen und der anti-klassizistischen Ästhetik des komischen Romans bilden sie, inspiriert von der modernen illustrierten Bildpresse, die Grundlage für die Geburt des modernen Comic-Strips um 1900.

Thierry Smolderens The Origins of Comics liefert einen wichtigen Beitrag zur Vor- und Frühgeschichte des abendländischen Comics. Die französische Originalausgabe Naissances de la bande dessinée erschien bereits 2009. Durch die englische Übersetzung dürfte die Studie nun auch bei einem breiteren Publikum Beachtung finden. Smolderen ist als Szenarist zeitgenössischer frankobelgischer Comics (Gipsy, McCay, Ghost Money) und Lehrstuhlinhaber an der École européenne supérieure de l’image in Angoulême (EESI) dem Medium als Macher wie auch als Theoretiker verbunden.

Wie der Untertitel der Publikation signalisiert, behandelt sie in insgesamt acht Kapiteln einen Zeitabschnitt vom frühen 18. Jh., über die für das neue Medium bahnbrechenden Arbeiten von Rodolphe Töpffer, die Entwicklung der Massenpresse im 19. Jh., bis zu den Anfängen des sogenannten Platinum Age of Comics. Smolderen untersucht die grafischen Bildzyklen von William Hogarth, das Phänomen Graffiti und Strichmännchen als Ausdruck anti-klassizistischer Kunst um 1800, die Bildergeschichten Töpffers, die Rolle des Genres im entstehenden Zeitungsmarkt ab 1850, chronofotografische Experimente von A. B. Frost, die Entwicklung der Sprechblase und schließlich die amerikanischen Sonntagszeitungsstrips wie Yellow Kid von Richard F. Outcault und Little Nemo von Winsor McCay. Obwohl die Kapitel chronologisch angeordnet sind und der Autor immer wieder beziehungsreiche Querverweise liefert, lässt sich jedes einzelne mit großem Erkenntnisgewinn auch als Einzelfallstudie rezipieren.

Der Anfang von Smolderens Untersuchung ist nicht zufällig gewählt: »By returning to Hogarth’s work, we can observe the defining moment when the prehistoric of comics intersected with that of literature and the modern press« (3). Damit ist der Ansatz der Studie skizziert: Smolderen lokalisiert die Quellen des modernen abendländischen Comics im Zwischenfeld des komischen englischen Romans (Sterne, Fielding, Thackeray), des moralischen Bilderzyklus’ und der Entwicklung der modernen illustrierten Bildpresse – maßgebliche Magazine waren The Graphic, Illustrated London News, Harper’s Weekly oder L’Illustration.

In den fünf Bildzyklen des Malers und Grafikers William Hogarth – genauer werden A Harlot’s Progress (1732) und A Rake’s Progress (1735) analysiert – erkennt Smolderen die Konstituierung eines für die damalige Zeit neuartigen narrativen Konzepts. Im Unterschied zu bisherigen Auffassungen über die Anfänge des abendländischen Comics datiert er damit die wesentliche Pionierleistung für den modernen Comic bereits ins frühe 18. Jh. Im Gegensatz zu der in der Forschung nicht unumstrittenen, aber vielfach rezipierten Definition von Scott McCloud, der in der Folge von Will Eisner die Sequenzialität des Comics als charakteristische Eigenschaft des Mediums ausmacht, begreift Smolderen in der Folge von Roland Barthes alles Gezeichnete zunächst als eine Art écriture, deren spezifische Grammatik und Rhetorik es in einem Akt des Lesens – wozu für ihn auch das Betrachten von Bildern zählt – zu dechiffrieren gilt. Dieser vielfach verschlüsselten écriture nähert er sich, inspiriert vom new historicism (Stephen Greenblatt) und den cultural studies (Clifford Geertz), mit der Methode des close reading. Im Zusammenhang mit den grafischen Bildzyklen Hogarths, die er medienspezifisch als erste Form der novel in prints versteht, spricht Smolderen von readable images. Diese Zyklen sind hinsichtlich der Gesten ihrer Figuren an tableaux vivants angelehnt und gleichen aufgrund der Komplexität der Bildereignisse modernen Wimmelbildern. Sie produzieren einen ›swarming effect‹, der den Betrachter ins Bild hineinzieht, wirken also immersiv. Als Hybrid zwischen Literatur und Presse bilden die vielfach reproduzierten moralischen Bilderzählungen die entscheidende Wurzel für die Entstehung des modernen Comics. Der Autor weist auf die enorme Bedeutung einer vom Geschmack des Klassizismus befreiten anti-akademischen Linienführung – von Hogarth line of beauty genannt – hin, deren Einfluss vermittelt über Töpffer noch in den Arbeiten Outcaults und McCays vorzufinden ist. Die Handhabung der freien Linie bildet die conditio sine qua non des Comics als Strichkunst. Theoretisch findet sich dieses Konzept in Hogarths Abhandlung The Analysis of Beauty (1753) niedergelegt, die es für eine noch zu schreibende Geschichte der Ästhetik des Comics zu entdecken gilt.

Bei Rodolphe Töpffer entwickelt sich nach Smolderen eine zweite Form der novel in prints. In diese seien in Erweiterung des Hogarth’schen Erzählkonzepts mit ihrer ironisch-satirisch ins Bild gesetzten Technikund Fortschrittskritik frühe Erfahrungen der industriellen Revolution, ästhetisch vor allem aber die Kunstauffassung der Romantik, mit ihrer Präferenz des Ursprünglich-Primitiven und des Arabesk-Grotesken, sowie der Triumph der englischen Karikatur (Cruikshank, Rowlandson) maßgeblich eingeflossen. Smolderen bezeichnet diesen Typus auch als »arabesque novel«. Neben dem in der Forschung geläufigen Hinweis auf den Einfluss von Lessings Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) zum Verhältnis von Bild- und Schriftkunst entdeckt Smolderen die Bedeutung der Abhandlung Ideen zu einer Mimik (1785) des Berliner Aufklärungsphilosophen Johann Jakob Engel im Rahmen von Töpffers Semiotik der Körpersprache. Töpffers satirische Bildgeschichten distanzieren sich kritisch von Lessings Verdikt, die Poesie sei der Malerei letztlich aufgrund ihrer Möglichkeit, fortschreitende Handlungen in der Zeit darzustellen, überlegen. Töpffer habe in seinen Geschichten den Begriff der fortschreitenden Handlung (action) aufs Vielfältigste karikiert, was von Smolderen zugleich als eine Kritik an der Fortschrittsmetapher des 19. Jh. gelesen wird. In seinen arabesque novels habe Töpffer gängige Ausdrucksmittel des modernen Comics bereits vorweggenommen und nebenbei an seinen grotesken Charakteren noch eine explizite Theorie der Stupidität (»sequential stupidity«, 82) mit Langzeitwirkung auf den Comic und das Kino (Krazy Kat, Jimmy Corrigan, Buster Keaton) konzipiert.

Der dritte Typus der novels in print – repräsentiert durch die Form der deutschen Bildgeschichte (Fliegende Blätter), wie etwa bei Wilhelm Busch – wird leider nur kurz gestreift, vermutlich weil er durch seine Abhängigkeit von Kinderreimen, Legenden, Märchen und Volkssagen für Smolderen weniger auf lesbare Bildkonzeptionen und -traditionen, sondern orale Erzählformen zurückgeführt wird.

Für die weitere Entwicklung des modernen Comics ist neben der stilistischen Prägung durch Hogarth und Töpffer sowie den narrativen Konzepten der novels in print vor allem die Entwicklung der modernen Massenpresse mit ihrem aus ökonomischen Gründen ständig wachsendem Bedürfnis nach neuen Bildergeschichten entscheidend. In drei aufschlussreichen Kapiteln zeigt Smolderen, wie der Comic zunächst durch den Medienwechsel, d. h. vom arbeitsaufwendigen Stich hin zu einem Massenprodukt der automatisierten Printindustrie, später durch die Rezeption und Modifikation der revolutionären audiovisuellen Techniken gewissermaßen zum ästhetischen Labor der neuen Künste wird. Die neue Form entwickelt sich in zwei verschiedenen Umfeldern: zum einen in den seriösen illustrierten Wochenmagazinen, zum anderen in humoristischen Blättern. Neben dem spezifischen Zeitungsformat sind Serialität und Fortsetzungscharakter lange Zeit prägend für die gedruckten Bildgeschichten. Töpffers Bildsprache war das perfekte Vehikel, um die Notwendigkeiten der Presse und die Bedürfnisse der Leser_innen zusammenzubringen. Inhaltlich finden sich die Spuren seiner satirischen Darstellung der industrialisierten Welt und ihrer Automatisierungsprozesse noch in den Comics von George Herriman, Frank King oder Cliff Sterrett. In der Phase der Konkurrenz der Zeitungskonzerne um die Gunst der Leser_innen werden viele Cartoonist_innen zu regelrechten Stars des Betriebs und sorgen so für eine frühe Anerkennung des neuen Mediums. Hinsichtlich der simulierten Darstellung von Bewegung zeigt Smolderen, wie sich die Rezeption neuer visueller Medien wie Fotografie, Chronofotografie (Eadweard Muybridge) oder des frühen Animationsfilms durch die Zeitungsillustrator_innen auf die Ästhetik des modernen Comics auswirkt, wobei dieser selbst wiederum durch seine symbiotische Beziehung zur Ästhetik des Films zum wichtigen Eckstein der Massenmedienkultur des 20. Jh. wird. Vor allem die in Deutschland bislang kaum gewürdigten Comics von A. B. Frost zeigen nachdrücklich, wie die Darstellung von Handlungsabläufen – bis hinein ins Layout, zum Beispiel die Verwendung gleichförmiger Panelraster – durch die Chronofotografie Muybridges und dessen aufgezeichnete Segmentierung verschiedener Bewegungsphasen inspiriert wird. Die Simulation von Audiovisualität auf Papier untersucht Smolderen an der Entwicklung vom bloß etikettierenden Spruchband hin zur Sprechblase (speech balloon). Erst mit ihr erfindet der Comic eine echte Rede mit Äußerungsakten und Sprechhandlungen, die Figur und Handlung im erzählten Raum beziehungsweise in der Zeit miteinander synchronisieren. Die entscheidende Innovation wird zwar in Outcaults Yellow Kid vorbereitet, findet ihren Durchbruch – von Smolderen als »audiovisual stage on paper« (146) bezeichnet – aber erst um 1900, dreißig Jahre vor der Erfindung des Tonfilms, in den Strips von James Swinnerton und Frederick Burr Opper.

Als größten Meister seiner tour d’horizon des Platinum Age feiert Smolderen Winsor McCay (»The Last Baroque«, 149f.), in dem die heroische Phase des Comics ihren Höhepunkt und Abschluss findet, weil er fundamentale Dichotomien der frühen Comic-Tradition überwindet (»academic versus comic art, creation driven by institution versus creation driven by attraction«, 157). Vor allem sein Little Nemo in Slumberland führe noch einmal eindrucksvoll alle Möglichkeiten beziehungsweise die Formenvielfalt des neuen Mediums vor. Als Pionier des Animationsfilms markiert McCay in persona die enge Wechselwirkung von Comic- und früher Kinoästhetik.

Smolderens opulente Studie – die erlesene Auswahl und die vorzügliche Reproduktion der Bildbeispiele sind besonders hervorzuheben – unternimmt eine eindrucksvolle Neuvermessung der Entstehungsgeschichte des Comics und zeigt zudem ihren großen Einfluss auf die Entwicklung der übrigen modernen Bildkünste. Wer derzeit über Fragen zur Ästhetik, Narratologie, Stilistik, Ökonomie oder Soziologie des aktuellen Comics forscht, muss diesen luzide geschriebenen Band zur Kenntnis nehmen, denn der Comicarchäologe Smolderen fördert Schätze und Einsichten zutage, deren Bedeutung bis hin zu den avancierten Arbeiten zeitgenössischer Künstler wie Chris Ware, Seth, Daniel Clowes oder Joann Sfar und Jason reicht. Der Band ist ein intellektueller und ästhetischer Genuss, der dem hybriden Charakter seines Gegenstands auf Text- und Bildebene jederzeit gerecht wird.

 

The Origins of Comics
From William Hogarth to Winsor McCay
Thierry Smolderen
Ins Engl. ĂĽbers. v. Bart Beaty u. Nick Nguyen
Jackson: University Press of Mississippi, 2014
168 S., 50,00 US-Dollar
ISBN 978-1-61703-149-6 (Hardcover)
ISBN 978-1-61703-909-6 (eBook)