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Dath wie Tiramisu wie

Mensch wie Gras wie rezensiert von Gerrit Lembke

Als ich zuletzt in einem Restaurant zu Abend aß, servierte die Kellnerin als Vorspeise eine gut gewürzte Rindfleischterrine, als Hauptspeise eine zartrosa Entenbrust mit frischem Gemüse und zum Abschluss ein hausgemachtes Tiramisu. Und was für eines: Traurig schwamm das Löffelbiscuit in Mascarpone-Ersatz. Notabene: Schlechter Nachtisch verdirbt das Essen. Am Ende von Mensch wie Gras wie von Dietmar Dath und Oliver Scheibler gibt es Tiramisu. Hausgemacht.

Die Handlung dreht sich um die Biologin Elin, die ein verlockendes Jobangebot bei einer ominösen japanischen Firma annimmt und dafür ihren homosexuellen Jugendfreund Martin, bzw. die transsexuelle Martina, verlassen muss – Dath mag’s halt kompliziert. Ungeachtet aller Schubladen lieben die beiden einander, und als Elin nach Japan geht, ist der Abschied schmerzhaft. Dass sie sich dort dem konventio­nellen Mathematiker Thomas zuwendet, ist ein Zeichen ihres Neuanfangs. In der Firma des dubiosen Unternehmers Farczády beginnt Elin, als Genetikerin an der Modifizierung von Pflanzen zu arbeiten, um deren Resistenz zu erhöhen und einen Beitrag zur Lösung des globalen Ernährungsproblems zu leisten. So unklar die Motive Farczádys, der diese Forschungen finanziert, bleiben, selbstlos handelt er ganz offen­sichtlich nicht. Als seine Pläne entdeckt werden (den Leser_innen bleiben sie verborgen), verbünden sich Elin, Thomas und Martin/a gegen Farczády. Elin tötet ihn schließlich und verteilt die genmanipulierten Grassamen, die sie für das Unternehmen hergestellt hatte, über die ganze Welt. Am Ende ist Gras. Überall. Und was bleibt, ist die unsterbliche Liebe zwischen Elin und der toten Martin/a. Soweit die Geschichte.

Dietmar Dath ist durch seine diskursbeschwerten Romane und seine Artikel im FAZ-Feuilleton bekannt geworden. Und nun ein Comic? Zusammen mit dem Zeichner Oliver Scheibler hat der trivialitätsaverse Dath sich an eine ambitionierte Text-Bild-Erzählung über eine unglückliche Beziehung, das Verhältnis von Wissenschaft und Markt sowie an eine anspielungsreiche Parabel über Ausgrenzung und Vereinnahmung gewagt. Der Comic lässt kein großes Thema aus: Es geht um miserable Arbeitsverhältnisse ebenso wie um die Frage geschlechtlicher Identität, um die Hoffnung oder den Schrecken der Gentechnologie. Und nun fragt man natürlich: kein 9/11? Kein Fukushima? Doch, doch. Darunter macht Dath es nicht. Anne Will inklusive. Aber neben solchen punktuellen Realitätssplittern wiegt eine Reihe von Leitmotiven schwerer: das japanische Brettspiel Go, die spinnennetzspinnenden Spinnen und das titelgebende Gras. Diese spielen schon in dem elfseitigen Prolog eine Rolle und machen diesen zu einer schmackhaften Vorspeise: Wir sehen die junge Elin, die weder als Mitspielerin auf dem Fußballfeld noch als Figur im Panelrahmen erwünscht ist. Und während die Kinder mit großem Eifer dem Ball hinterherjagen, baut eine Spinne völlig unbeachtet im Winkel des Fußballtores ihr Netz. Dem interesselosen Spiel der Bolzplatzkicker steht daraufhin das Stadion­spektakel mit hauptberuflichen Fußballerinnen entgegen, denen das Spiel zur Arbeit gerät. So auch beim ›Big Player‹ Farczády. Er ist die ›Spinne im Netz‹ und zugleich der Hobbes’sche Wolfsmensch, der Go nicht zum Vergnügen spielt (wie Elin und Martin/a), sondern es nur als Metapher seiner wirtschaftlich-ideologischen Strategie versteht:

Ich bin etwas Älteres, Ähnliches: Spieler. / Und ich möchte ein neues Spiel eröffnen. / … Eins, das man nicht aggressiv spielt, sondern / … defensiv. Nicht wie Mühle, sondern / sondern wie Go. [54-56]

Die Strichzeichnungen von Oliver Scheibler sind alles andere als gefällig: Sie ignorieren die anatomischen Proportionen der Figuren, und dennoch sind diese ausgesprochen eintönig und austauschbar. Aber hierin entspricht ihre grafische Gestaltung auch ganz ihrer fehlenden psychologischen Tiefe. Sie erweisen sich eher als oberflächliche Spielfiguren denn als spielende Figuren. Die Auftritte von Sahra Wagenknecht und Anne Will kommen als bemühte Versuche daher, die Comic-Welt als wiedererkennbares Abbild unserer Realität zu gestalten. Wirklich beeindruckend werden die Panels dort, wo sie die Figuren als Wölfe und Spinnen zeigen, nicht Konkretes darstellen, sondern den Raum des Symbolischen ausloten.

Der Comic ist anspielungsreich: Zwischen Spongebob und Magritte zitiert Dath auch die kanadische Punkrockerin Bif Naked und – sich selbst: Martin/as Beerdigung wird von einem Text aus der Zeit 2011 begleitet, in dem Dath über Alan Turings Auseinandersetzung mit seiner Homosexualität geschrieben hatte (Die Zeit, 05.01.2011, 15). Der Titel Mensch wie Gras wie geht auf einen Bibelvers zurück:

Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras / Er blüet wie eine Blume auff dem felde. / Wenn der Wind darüber gehet / so ist sie nimmer da / und ir stete kennet sie nicht mehr. (Ps 103, 15f.)

Aber es geht Dath und Scheibler ganz offensichtlich nicht um des Menschen Vergänglichkeit oder eschato­logische Heilsversprechen, vielleicht aber um den letzten Teilsatz: »ir stete kennet sie nicht mehr«. Denn Elin hat ihre ›Stätte‹ verleugnet, als sie sich von Farczády hat verführen, von Martin/a trennen und von der Spinne einfangen lassen. In den letzten Panels sehen wir Elin, welche die Grassamen verstreut. In ungeheurer Geschwindigkeit verbreiten sie sich über den Planeten, und damit ist Farczádys Projekt einerseits vollendet, andererseits aber zerstört, denn es lässt sich kein Kapital mehr daraus schlagen. Tröstlich, und soweit ganz bekömmlich.

Dath ist wirklich keine leichte Kost, und dennoch haben seine Romane immer wieder die Aufmerksamkeit des Feuilletons erregt. Die Abschaffung der Arten (2007) ist zwar eine diskurslastige Lektürezumutung, aber auch so wunderbar, dass es beinahe für den Deutschen Buchpreis gereicht hätte. An Dirac (2006) kann man sich gut und gern die Zähne ausbeißen, er ist aber ein nachhaltiges Lektüreerlebnis für alle, welche die ersten hundert Seiten überstehen. Überhaupt: Daths umfangreiche Romane leben davon, dass sie sich viel Zeit lassen, ihren wilden Kosmos zu entfalten. Und hier? In Mensch wie Gras wie kommt Daths Giganto­manie nicht zur Geltung, die Figuren geraten nicht zu Charakteren, sondern bleiben oberflächliche Handlungs­träger_innen. Scheiblers rätselhafte Zeichnungen hingegen fordern die Leser_innen immer wieder heraus, und so ist der Comic am stärksten, wo er auf Sprache völlig verzichtet und allein die Bilder erzählen lässt. Diese laden zu einer ganzen Kette von Vergleichen und Analogien ein, ganz wie die grammatisch obskure Titelgestaltung Mensch wie Gras wie es vormacht. Soweit zur Story, zum ›Hauptgang‹ der Lektüre, der mir nicht schlechter gefallen hat als die zartrosa Entenbrust im französischen Restaurant.

Dann legte ich das Besteck beiseite und widmete mich dem Nachwort, eigentlich ein harmloser Vorgang, weil das Nachwort doch oft zum verzichtbaren ›Zubehör‹ eines Buches zählt. Diesmal nicht. Dath (ohne Scheibler) nimmt eine umständlich-ausufernde Selbstdeutung von Mensch wie Gras wie vor, das er nicht »als Illustrationen mehr oder weniger linker Lehrsätze aus Wirtschaft, Politik, Soziologie und Kultur­wissen­schaften« (193) verstanden wissen will, obwohl er darin die Kritische Theorie, Hegel und die Kulturindustrie erwähnt. Er rechnet auch ausführlich mit dem amerikanischen Soziologen Richard Sennett ab, dem Dath 2012 im Rahmen der Münster Lecture Der Sinn der Arbeit begegnet ist: »erstklassige[r] Stuss« (203). Dieses Nachwort hinterlässt Ratlosigkeit: Wozu bedarf es dieser umschweifigen Rechtfertigung, die nicht nur die Zeichnungen Scheiblers in den Hintergrund rückt, sondern auch den Comic selbst? Hier haben zwei Köche sich nicht bestens ergänzt, der zweite hat den gemeinsamen Brei letztlich verdorben. Nach einem appetit­lichen Prolog und einem köstlichen Hauptgang haben sie als Nachtisch etwas serviert, was besser in der Küche geblieben wäre.

Mensch wie Gras wie hätte zwei Rezensionen verdient: eine würdigende Besprechung der Erzählung, deren symbolische Dichte durchaus Freude bereitet und über die mangelnde Figurengestaltung hinwegtröstet, sowie einen Verriss des vermurksten Nachworts. »Darf es noch etwas sein?« – Die Rechnung, bitte.

 

Mensch wie Gras wie
Dietmar Dath (W), Oliver Scheibler (P)
Berlin: Verbrecher, 2014
208 S., 24,00 Euro
ISBN 978-3-943167-76-4