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Tradition und Innovation: ErzÀhlen in der Graphic Novel

Bild ist Text ist Bild rezensiert von Kerstin Howaldt

Der Sammelband Bild ist Text ist Bild vereint 13 BeitrĂ€ge, die das Genre aus unterschiedlichen Perspektiven und Disziplinen in den Blick nehmen. Konkret wird in den einzelnen AufsĂ€tzen danach gefragt, ob wir eine Abgrenzung der Graphic Novel zu dem als â€șpopulĂ€res Genreâ€č bewerteten Comic brauchen, inwiefern narratologische Kategorien wie â€șFokalisatorâ€č und â€șErzĂ€hlerâ€č auf Bildgeschichten anwendbar sind, sowie nach der kulturwissenschaftlichen Relevanz der Werke.

Der auf einer gleichnamigen Tagung basierende Band, ediert von Susanne Hochreiter und Ursula Klingenböck, gliedert sich in drei Bereiche: Bild-Fiktionen, (Körper‐)Zeichen und Redepositionen sowie Narration und Ästhetik im Comic. WĂ€hrend die ersten beiden Teile aus wissenschaftlichen AufsĂ€tzen bestehen, bietet der dritte Abschnitt kurze Bildgeschichten der Comic-Zeichner_innen Ilse Kilic, Nicolas Mahler und Verena Weißenböck, die zentrale Themen des Bandes wiederaufnehmen und kommentieren: Text-Bild-VerhĂ€ltnisse, die Verortung des Comics zwischen Hoch- und PopulĂ€rkultur sowie die Trennung zwischen Fiktion und RealitĂ€t. Insbesondere mit Blick auf die zentrale Zielsetzung der Publikation, die Besonderheiten bildlichen ErzĂ€hlens herauszustellen, bieten diese Bildgeschichten eine gelungene ErgĂ€nzung zu den AufsĂ€tzen und zeigen zugleich, wie hochgradig selbstreflexiv das Genre der Graphic Novel ist.

Einer begrifflichen Definition der Graphic Novel widmen sich insbesondere die BeitrĂ€ge von Dietrich GrĂŒnewald, Ole Frahm und Bernd Dolle-Weinkauf. FĂŒr GrĂŒnewald ist sie »eine von vielen möglichen Variationen und Formen der â€șLiteratur in Bildernâ€č« (19), die er – im Gegensatz zur Endlosserie – als eine eigenstĂ€ndige und in sich abgeschlossene BildererzĂ€hlung versteht. Die Bildgeschichte, so der Autor, unterscheidet sich dabei von der illustrativen Kunst durch ihre »narrative Autonomie«, d. h. sie ist also auch fĂŒr Betrachter_innen ohne Vorwissen verstĂ€ndlich. Der Grundsatz der abgeschlossenen Handlung als konstitutives Genre-Merkmal beschĂ€ftigt auch Bernd Dolle-Weinkauf, der zwischen der Graphic Novel als â€șComic-Romanâ€č und dem seriellen Comic unterscheidet. Er kommt zu dem Ergebnis, dass SerialitĂ€t weder ein QualitĂ€ts- noch ein Distinktionsmerkmal sein kann. Ole Frahm, der zur »Fiktion des graphischen Romans« arbeitet, bemerkt, dass Graphic Novels »mit der Tradition der â€șSchundliteraturâ€č und deren Ă€sthetischen Kategorien« (54) brechen. Er geht der Frage nach, welche Kritik Graphic Novels an den gesellschaftlichen VerhĂ€ltnissen artikulieren, und erlĂ€utert ausgehend von Eisners A Contract with God (1978) an drei zeitgenössischen Werken, wie diese die Gesellschaft mit eben jenen »verworfenen Momenten der Schundliteratur« (74) konfrontieren. Alle diese BeitrĂ€ge stellen die Trennung zwischen dem Comic als Manifestation der PopulĂ€rkultur und der Graphic Novel als deren hochkulturellem GegenstĂŒck in Frage und zeigen zugleich den Bedarf nach einer neuen Terminologie auf.

So wie die Forschung sich mit dem Thema der generischen Abgrenzung beschĂ€ftigt, so rĂŒckt in den letzten Jahren die Frage nach der Anwendbarkeit narratologischer Kategorien in den Vordergrund. Diesem hochaktuellen Forschungsparadigma trĂ€gt auch der vorliegende Sammelband Rechnung, etwa in BeitrĂ€gen von Katharina Serles, Elisabeth Klar, Stephan Packard und Kalina KupczyƄska. Serles zeigt anhand von Werken Marc-Antoine Mathieus und Chris Wares, dass â€șZeitâ€č dort nicht linear verlĂ€uft; stattdessen wird die narrative LinearitĂ€t durch PhĂ€nomene wie â€șzooming timeâ€č und â€șfolding timeâ€č in Frage gestellt (vgl. 81). Elisabeth Klar widmet sich unter anderem dem Körper-Zeichen als »narratives Element« (174) bzw. dem SpannungsverhĂ€ltnis von Bild und Text. In ihrer Analyse von Alfreds und Olivier Kas Pourquoi j’ai tuĂ© Pierre (2007) und Alfreds Je mourrai pas gibier (2009) weist die Autorin nach, wie der gezeichnete Körper von Schriftzeichen â€șĂŒberschriebenâ€č oder mit bildhaften Elementen gefĂŒllt wird. Stephan Packard liefert eine sehr ĂŒberzeugende Analyse von Amazing Spider-Man #698 und zeigt, dass Comics sich zwar konventioneller narrativer Verfahren bedienen, diese jedoch gleichzeitig brechen. Besonders gut gelingt ihm der Nachweis, wie sich unzuverlĂ€ssiges ErzĂ€hlen ĂŒber die Beschaffenheit der Bilder ausdrĂŒckt. Die Leser_innen erfahren erst am Ende der Handlung, dass Doctor Octopus Peter Parkers Körper ĂŒbernommen hat. Packard konstatiert, dass die ErzĂ€hlung sich folglich als revisionsbedĂŒrftig und somit als unzuverlĂ€ssig herausstellt (vgl. 106), und fragt daraufhin, ob es mit der unzuverlĂ€ssigen ErzĂ€hlung automatisch auch einen unzuverlĂ€ssigen ErzĂ€hler gibt. In den darauf folgenden AusfĂŒhrungen wird deutlich, dass eine RelektĂŒre des Comics diverse Hinweise auf die fragliche IdentitĂ€t Peter Parkers liefert, so wird die Figur etwa in einem entscheidenden Moment zunĂ€chst lediglich von hinten gezeigt, so dass den Leser_innen ihre (in diesem Fall verrĂ€terische) Mimik verborgen bleibt (vgl. 114). Packard kommt somit zu dem Schluss, dass die Rezipient_innen gerade nicht von dem homodiegetischen ErzĂ€hler getĂ€uscht werden, sondern allein von dem Arrangement der Bilder. Aus diesem Grund plĂ€diert er dafĂŒr, narratologische Kategorien wie â€șErzĂ€hlerâ€č oder â€șFokalisatorâ€č nur sehr differenziert auf Comics anzuwenden (vgl. 115).

Damit zeigt sich, dass die vieldiskutierte Frage nach der Anwendbarkeit narratologischer Kategorien auf Bildgeschichten eventuell ebenso wenig einer eindeutigen Antwort bedarf wie die nach der generischen Abgrenzung von Comic und Graphic Novel, da gerade das Hinterfragen und die Variation dieser Kategorien durch die Bildgeschichte fĂŒr die klassische ErzĂ€hlforschung durchaus von Nutzen sein können. Neben dem Beitrag von Stephan Packard ist auch der von Kalina KupczyƄska herauszuheben. Der Autorin gelingt in ihrem Aufsatz »Gendern Comics, wenn sie erzĂ€hlen?« eine interessante VerschrĂ€nkung narratologischer und kulturwissenschaftlicher Fragestelllungen. KupczyƄska kommt zu dem Schluss, dass der Comic die automatische Wahrnehmung der ErzĂ€hlinstanz als â€șmĂ€nnlichâ€č – im Gegensatz zum Roman – in Frage stellt (vgl. 229). Anhand der Comic-Serie Die Hure H wirft den Handschuh (2007) von Anke Feuchtenberger und Katrin de Vries zeigt die Verfasserin, wie diese auf einer Metaebene explizit visuelles ErzĂ€hlen thematisiert (vgl. 220). Die Aufmerksamkeit der Leser_innen verschiebt sich von der Ebene der Figuren auf die Ebene der erzĂ€hlerischen Vermittlung und regt so zu einer Reflexion ĂŒber konventionelle Wahrnehmungen des ErzĂ€hlens an.

Ursula Klingenböck, Barbara Eder und Susanne Hochreiter widmen sich (auto-)biografischen Graphic Novels. In diesen BeitrĂ€gen wird deutlich, dass es dem Genre gelingt, die Assoziation von autobiografischem Schreiben mit â€șRealitĂ€tâ€č zu brechen. Klingenböck zeigt in ihren Â»Ăœberlegungen zum biographischen Narrativ« bei Birgit Weyhe, wie Comics traditionelle biografische Arbeiten subversiv kommentieren, so dass diese als »Meta-Biographics« (144) lesbar werden. Barbara Eder attestiert Alison Bechdels Fun Home (2006) ebenfalls eine klare Fiktionalisierung der Autobiografie. Die episodische ErzĂ€hlweise und metafiktionale Verweise auf Joyce’ Ulysses (1922) unterminieren die Abbildung einer vermeintlich â€șrealenâ€č Lebensgeschichte. Susanne Hochreiters Beitrag widmet sich der Bedeutung des Affekts in Ulli Lusts Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens (2009). Sie konstatiert, dass es der Graphic Novel gelingt, eine kitschige EinfĂŒhlung der Rezipient_innen zu vermeiden. Die Autorin legt ĂŒberzeugend dar, wie Schock und Trauma visuell dargestellt werden, etwa wenn das Bild mit jedem Satz der Protagonistin dĂŒnner wird (vgl. 253).

Zusammenfassend lĂ€sst sich sagen, dass die einzelnen BeitrĂ€ge – bei aller HeterogenitĂ€t ihrer Themen und Herangehensweisen – besonders eine Ă€ußerst positive Gemeinsamkeit haben: Es gelingt allen Autor_innen, ihre Thesen ĂŒberzeugend in einer textnahen Analyse zu belegen. Mit seinen unterschiedlichen Schwerpunkten insbesondere zum ErzĂ€hlen in der Bildgeschichte stellt der Sammelband zudem einen wichtigen Beitrag zur aktuellen Comic-Forschung dar. Dabei wird allerdings auch deutlich, dass weder die Frage nach einer klaren Abgrenzung von Comic und Graphic Novel noch die nach der Anwendbarkeit narratologischer Kategorien auf Bildgeschichten eindeutig zu beantworten sind. WĂ€hrend die Notwendigkeit einer eindeutigen Abgrenzung schon durch die QualitĂ€t der einzelnen BeitrĂ€ge entkrĂ€ftet wird, lĂ€sst der Band keinen Zweifel daran, dass die Positionierung bildlichen ErzĂ€hlens im Feld der Narratologie die Forschung weiterhin beschĂ€ftigen wird.

 

Bild ist Text ist Bild
Narration und Ästhetik in der Graphic Novel
Susanne Hochreiter u. Ursula Klingenböck (Hg.)
Bielefeld: transcript, 2014
281 S., 32,99 Euro
ISBN 978-3-8376-2636-0