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Der Traum von Freiheit

Der Boxer und Der Traum von Olympia rezensiert von Anastasia Blinzov, Christian Tischer und Anna Beckmann (Arbeitskreis Comic Berlin)

Reinhard Kleist erzählt in seinen beiden biografisch angelehnten Comics von den traumatischen Schicksalen des Hertzko Haft und der Samia Yusuf Omar. Es ist die Geschichte eines Mannes, der von den Nazis deportiert und zum Kämpfen gezwungen wird, und die einer jungen Frau, die sich auf eine gefährliche Flucht begibt, um sich und ihrer Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Beide Geschichten basieren auf Erlebnissen real existierender Personen. Während Der Boxer jedoch eindringlich und detailliert erzählt wird, verweilt Der Traum von Olympia auf der Oberfläche.

In Der Boxer erfahren wir die Geschichte von Hertzko Haft. Der jüdische Haft wird von den Nazis aus seiner polnischen Heimatstadt Belchatow deportiert und in verschiedenen Konzentrationslagern gezwungen, gegen andere Häftlinge zu boxen. Nur so kann er überleben. Nach dem Zweiten Weltkrieg kämpft er als Profiboxer in den USA. Der Comic ist durch zwei Erzählstränge strukturiert: In der Rahmenerzählung sehen wir den erwachsenen Haft mit seiner Familie in den USA, aus der Perspektive des Sohns erleben wir Haft als verschlossenen und brutalen Vater. Erst als der Vater zu erzählen beginnt und sich die Binnenerzählung öffnet, erfahren die Leser_innen die wahre Geschichte des Hertzko Haft. Die detaillierten, schwarz-weißen Zeichnungen machen auf den eng bedruckten Seiten die Grausamkeit der Gefangenschaft und den Kampf ums Überleben in den Konzentrationslagern bedrückend deutlich. Immer wieder tauchen surrealistische Elemente auf, welche die Träume und Erinnerungen des Protagonisten widerspiegeln. Es erscheinen die Gesichter seiner Eltern, seiner Geschwister wie auch seiner Jugendliebe und schweben wie Rauchschwaden über ihm. Die Hoffnung, seine Lieben wiederzusehen, prägt die surrealistischen Zeichnungen, die zu den ergreifendsten des Comics gehören. Sie erlauben den Leser_innen einen Blick in die innere Gefühls- und Gedankenwelt des Protagonisten eines im dokumentarischen Stil erzählten Comics.

Der Traum von Olympia beschreibt eine sehr aktuelle Thematik. Es geht um die Flucht einer jungen Sportlerin aus Somalia, die ihr Leben riskiert und am Ende verliert. Samia ist Läuferin. Sie trainiert jeden Tag, um ihren Traum von einer Sportkarriere, die ihr und ihrer Familie ein besseres Leben ermöglichen würde, zu erfüllen. Doch der Bürgerkrieg zwischen regierungstreuen Truppen und der Al-Shabaab-Miliz zerstört Samias Hoffnung, in ihrer Heimat professionell trainieren zu können. So entscheidet sie sich für die Flucht. Durch Facebook-Nachrichten an ihre Freund_innen und Familie erzählt Samia von ihren Erfahrungen auf der Flucht. Die Innenperspektive, die im Boxer noch durch die surrealistischen Zeichnungen aufgezeigt wird, entwickelt Kleist weniger effektvoll im Traum von Olympia durch Darstellung der Facebook-Nachrichten Samias.

In beiden Comics steht die Lebensgeschichte einer Einzelperson für das Schicksal von vielen. Dokumen­tarische und fiktive Aspekte werden von Kleist gemischt, um authentische wie eindrückliche Geschichten zu erzählen. Die Legitimation und Authentizität dieser Geschichten holt sich Kleist über Interviews mit Verwandten, Medienberichte und eigene Beobachtungen. Während er den Comic über Hertzko Haft auf einem Buch von dessen Sohn aufbaut, spricht er für Der Traum von Olympia mit Samias Schwester. Während der Untertitel bei Der Boxer die Wahrheit der Geschichte verspricht, muss Samias Geschichte ohne dieses Attribut auskommen – sie verliert ihr Leben, bevor sie ihre Geschichte erzählen kann. Der biografisch-reportagenhafte Charakter, der beiden Comics inhärent ist, muss in ihrem Fall durch Recherche ergänzt werden.

Wie ähnlich der Ansatz sein mag, Der Boxer ist doch das gelungenere Werk. Die Geschichte des Hertzko Haft wird sowohl auf der Text- als auch auf der Bildebene dichter erzählt. Intensiver und detaillierter gezeichnet, vermag Der Boxer mehr zu fesseln und die Angst der von den Nationalsozialisten Verfolgten und Misshandelten zu vermitteln. In Der Traum von Olympia bleiben viele Seiten leer. Vielleicht ist es die Sprachlosigkeit vor der Aktualität der Grausamkeiten, die eine Fluchtgeschichte mit sich bringt, die Kleist schweigen lässt. Doch die Brüche in der Kontinuität der Erzählung können die Leser_innen nicht aufrütteln oder schockieren. Die leeren Seiten hätten eine Möglichkeit sein können, die Leser_innen nach markanten Szenen mit dem Gesehenen allein zu lassen. Sie bleiben aber an der gewählten Stelle in ihrer Funktion als Unterteilung der Geschichte in verschiedene zeitliche Ebenen stehen. Es sind beides bewegende und eindrückliche Geschichten, doch der Eindruck, den Der Boxer hinterlässt, wiegt schwerer, sehr viel schwerer.

 

Der Boxer
Die wahre Geschichte des Hertzko Haft
Reinhard Kleist (A)
Hamburg: Carlsen, 2012
200 S., 16,90 Euro
ISBN 978-3-551-78697-5

Der Traum von Olympia
Die Geschichte von Samia Yusuf Omar
Reinhard Kleist (A)
Hamburg: Carlsen, 2015
152 S., 17,90 Euro
ISBN 978-3-551-73639-0