Die Jagd nach authentischen Adoleszenzerzählungen
Graphisches Erzählen von Adoleszenz rezensiert von Philipp Schmerheim
Während kinder- und jugendliterarische Adoleszenzerzählungen bereits im Fokus der Forschung stehen, galt dies für den Comic bis vor Kurzem nicht. Felix Giesas systematische und gut geschriebene Monografie Graphisches Erzählen von Adoleszenz schließt diese Lücke mit einer – wie der Untertitel vermerkt – Untersuchung von »Deutschsprachige[n] Autorencomics nach 2000«, die vorbildlich die Leistungsstärke einer systematischen Comicanalyse vorführt, aber auf eine darüber hinausgehende Perspektivierung verzichtet.
Ausgehend von einem historischen Überblick über Adoleszenzdarstellungen im Comic arbeitet Giesa methodisch mustergültig anhand von sechs Fallanalysen Verfahren des zeitgenössischen grafischen Erzählens von Adoleszenz heraus. Er argumentiert, dass sich die von ihm untersuchten deutschsprachigen Comics im Vergleich zu den »historischen und transnationalen Adoleszenzerzählungen [...] als eigenständige Bilderzählungen« (12) präsentieren, die ein psychologisch »differenzierte[s] (Selbst-)Bild der adoleszenten Figuren [entfalten] [...], das sich deutlich von dem in soziologischen und publizistischen Diskursen gezeichneten Bild von Jugend und Adoleszenz unterscheidet.« (ebd.)
Die auf Giesas 2014 an der Universität Köln vorgelegten Dissertation beruhende Monografie legt die begrifflichen und methodischen Grundlagen der Arbeit durch eine fundierte kritische Reflexion des Forschungsstands zur Comicanalyse (Kap. 2), ergänzt durch eine Auswertung jugendsoziologischer Untersuchungen, die nachvollziehbar die Entscheidung für den Begriff der Adoleszenz gegenüber dem Begriff der Jugend begründet (Kap. 3, vgl. 60–61). Den Kern der Arbeit bilden ein kompaktes und klar gegliedertes Überblickskapitel zu »Adoleszenz in den Comics: Von 1900 bis 2000« (Kap. 4) sowie die Einzelanalyse von sechs repräsentativen zeitgenössischen deutschsprachigen Comics (Kap. 5), abgerundet durch Schlussbetrachtungen (Kap. 6).
Der transnational angelegte, repräsentative Überblick der Adoleszenzdarstellung in Comics des 20. Jahrhunderts legt den Fokus auf US-amerikanische, franko-belgische und deutsche Comics. Demzufolge legen frühe Comic-Inszenierungen junger Menschen keinen Wert auf die (authentische) Schilderung adoleszenter Lebenswirklichkeiten, sondern verwenden diese »aus einer erwachsenen Erzählhaltung heraus« (293) lediglich zu humoristischen Zwecken. Erst ab den 1960er Jahren weiten sich »jugendliche Freiräume immer stärker aus [...]« (293), infolgedessen präsentieren auch Comics zunehmend »Adoleszenz als eigenständige [...] Lebensphase« (293) – insbesondere die Comics des amerikanischen Underground, der Alternative Comics und des französischen Autorenkollektivs L’Association. Letztere beeinflussen in der Folge auch den deutschsprachigen Comic, dem Giesa erst ab den 1970er Jahren »nennenswerte Inszenierungen von Adoleszenz« (294) attestiert.
Die sechs im fünften Kapitel analysierten Comics, deren Auswahl Giesa nur anhand ihres Erscheinungsdatums begründet (13–14), ordnet er zwei unterschiedlichen Kategorien zu: Bei Mawils Wir können ja Freunde bleiben (2003), sag was von Flix (2004) und Jetzt kommt später von Kati Rickenbach (2011) handelt es sich um »autobiographische Adoleszenzcomics« (159), in denen die Autor_innen, in der Regel gespiegelt in der Hauptfigur des Comics, eigenes Adoleszenzerleben in fiktionalisierter Form reflektieren bzw. verarbeiten. Naomi Fearns Dirt Girl (2004), Arne Bellstorfs acht, neun, zehn (2005) und Aisha Franz’ Alien (2011) hingegen sind »freie Adoleszenzcomics« (237), die ohne einen solchen expliziten Rückbezug auf das Autor_innenerleben Geschichten mit adoleszenten Protagonist_innen erzählen. Seltsamerweise verzichtet Giesa darauf, die für seine Arbeit zentralen Begriffe des autobiografischen vs. freien Adoleszenzcomics explizit zu definieren bzw. zu erläutern.
Giesa schreibt in klarer Wissenschaftsprosa und mit profunder Kenntnis sowohl der Comicgeschichte als auch des narratologisch grundierten Diskurses zur Comicanalyse. Methodisch und terminologisch präzise, ist die Untersuchung zudem stringent gegliedert, informative Zwischentitel erleichtern die Orientierung im Text und das konsequent umgesetzte, bei Bedarf modifizierte zehn- bis elfteilige Analyseschema stellt die Vergleichbarkeit der Einzelanalysen sicher: In Inhalt, Thema und Paratexte einführende Abschnitte bereiten die eigentlichen Analysen vor, die sich mit strukturalistischem Impetus, terminologisch Genettes Narratologie verpflichtet, der »Erzähltextanalyse« widmen, bevor verschiedene thematische Aspekte untersucht werden: »Freundschaft und Peergroup«, »Sexuelle Identität«, »Darstellung des anderen Geschlechts«, »(Post-)Adoleszente Freizeit und Mediennutzung«, »Musik« sowie »Intermedialität/-textualität«.
In den unter »Schlussbetrachtungen« kompakt zusammengefassten Analysen ergeben sich für beide Kategorien des Adoleszenzcomics unterschiedliche Lebenswelten, die Giesa zufolge mal mehr, mal weniger in der Traditionslinie der Vorläufer aus den 1990er Jahren auserzählt werden: Während die Protagonist_innen der autobiografischen Adoleszenzcomics als in ihrer Identität weitgehend gefestigt und sich innerhalb tradierter gesellschaftlicher Normen bewegend erscheinen, sind die Protagonist_innen der freien Adoleszenzcomics sexuell und lebensperspektivisch weitgehend desorientiert und versuchen dieses Manko durch einen experimentellen Lebensstil, der oft von oberflächlichen oder flüchtigen Beziehungen und Freundschaften geprägt ist, zu kompensieren (vgl. 300–301). Die Analysen haben dabei nicht nur einen inhaltlichen Blick, sondern arbeiten gründlich die comicspezifischen Erzähl- und Ausdrucksstrategien heraus.
Die methodische Stärke von Giesas Untersuchung bedingt auch ihre Schwäche: Diese narratologisch fundierte Analyse von Adoleszenzerzählungen wird nur sporadisch um einen ausführlicheren Rückbezug auf die in Kap. 2 skizzierten jugendsoziologischen Befunde oder um einen über comichistorische Bezüge hinausgehenden Blick ergänzt. Eine Zusammenschau der disparaten Lebenswelten der Comics findet z. B. nur in den Schlussbetrachtungen knappen Raum (301–303). Dabei drängen sich weiterführende Fragen geradezu auf: Was verraten uns diese Comics über die Bedingungen von und die Reflexion auf zeitgenössische Adoleszenz und den Bezug beider auf den autobiografischen Pakt (vgl. 164–165), den Comicautor_innen im Zuge der künstlerischen, post-adoleszenten Reflexion dieser Lebensphase schließen? Worin begründen sich die Unterschiede zwischen autobiografischem und freiem Erzählen von Adoleszenz, abgesehen davon, dass – wie Giesa selbst einräumt (vgl. 304) – diese überwiegend Figuren im Teenageralter, jene hingegen Figuren im Studentenalter fokussieren?
Wünschenswert wäre auch eine zumindest ergänzende intermediale Perspektive gewesen. Zwar erfassen die Analysen auch intertextuelle und intermediale Bezüge, eine Metaperspektive auf die medialen Bedingungen des Erzählens von Adoleszenz in Medien wie Film, Literatur und Comic aber fehlt.
Gerade Letzteres ist jedoch kein grundlegender Kritikpunkt, sondern eher ein Wunsch nach einer ergänzenden (medienkulturtheoretischen) Perspektivierung, die über die comicimmanente Analyse hinausgeht. Die Fallanalysen und der historische Überblick dieses Bandes machen Graphisches Erzählen von Adoleszenz ebenso zu einem potenziellen Standardwerk für diesen Bereich wie die kritische comicanalytische Methodenreflexion des zweiten Kapitels.
Graphisches Erzählen von Adoleszenz
Deutschsprachige Autorencomics nach 2000
Felix Giesa
(= Kinder- und Jugendkultur, -literatur und -medien, Bd. 97)
Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2015
405 S., 74,95 Euro
ISBN 978-3-631-66454-4
Dieser Artikel erscheint parallel auch auf KinderundJugendmedien.de.