Building Stories, Building Methods: Eine neue Perspektive auf Wahrnehmungsweisen des Comics

Comics begreifen: Ästhetische Erfahrung durch visuell-taktiles Erzählen in Chris Wares Building Stories rezensiert von Laura Glötter

Nina Eckhoff-Heindl präsentiert in ihrer Dissertation einen innovativen Ansatz zur Analyse von Comics als narrative Artefakte. Sie entwickelt ein Modell ästhetischer Erfahrung, das visuelle, materielle und handhabungsbezogene Aspekte berücksichtigt und das dialogische Verhältnis zwischen Comic und Rezipierenden in den Mittelpunkt stellt. Anhand einer detaillierten Fallstudie zu Chris Wares Building Stories demonstriert Eckhoff-Heindl die Anwendbarkeit ihrer Methode und eröffnet damit neue Perspektiven für die Comicforschung.

Dass die kunstwissenschaftliche Forschung sich bislang äußerst zögerlich mit Comics auseinandergesetzt hat, wurde wiederholt konstatiert (vgl. u.a. Ammerer/Oppolzer 2022, Roeder 2008, Sommerland/Wictorin 2017). Während die Sprachwissenschaft häufig die Rezeption ausgewählter Comics und deren vermeintlich primär sprachlichen Inhalt untersucht, hinterfragt die Kunstwissenschaft kontinuierlich ihr eigenes Kunstverständnis und die damit verbundene Kunsthaftigkeit von Comics. Diese Herangehensweise führt dazu, dass die Kunstwissenschaft in ihrer Auseinandersetzung mit Comics stagniert und deren bildliche Elemente in akademischen Kontexten weiterhin oft lediglich als ergänzendes Beiwerk zum Text betrachtet werden. Nina Eckhoff-Heindl positioniert sich mit ihrer Dissertation nicht nur innerhalb dieses Diskurses, sondern präsentiert auch einen Lösungsansatz: Da aus ihrer Sicht die Bewertung von Comics als Kunst oder Nicht-Kunst die Forschung einschränkt, konzeptualisiert sie Comics als »Artefakte«. Diesen Begriff möchte Eckhoff-Heindl im etymologischen Sinne, als Zusammensetzung der lateinischen Worte »ars« (Fertigkeit, Kunst, Handwerk) und »facere« (herstellen, machen), als dinghafte menschliche Erzeugnisse, ebenso wie als speziell künstlerisch Gefertigtes verstanden wissen (36), sodass die verschiedenen Facetten von Comics berücksichtig werden, ohne dass eine Evaluation oder gar Hierarchisierung hinsichtlich der Kunsthaftigkeit entsteht.

Basierend auf dieser Prämisse untersucht Eckhoff-Heindl, wie Comics durch die Darstellung von Sinneswahrnehmungen Erfahrungen vermitteln und Bedeutungen erzeugen können. Dafür entwickelt sie einen innovativen Ansatz, der Comics als narrative Artefakte charakterisiert und deren Wahrnehmung nicht allein als visuell, sondern als visuell-taktil begreift und analysiert. Mit welcher Präzision und Systematik Eckhoff-Heindl dabei vorgeht, zeigt sich unter anderem in ihrer Wahl der Bezeichnung für die Rezipierenden des Mediums: Mit dem Begriff »lesend Betrachtende« schlägt Eckhoff-Heindl eine terminologische Brücke zwischen verschiedenen disziplinären Analyseansätzen, die sich mit Comics befassen. Während in der Sprachwissenschaft traditionell der Fokus auf dem »Lesen« von Comics lag und die Bildwissenschaft sich vorrangig auf die Betrachtung der Bilder konzentrierte, betont dieser Begriff die integrative Wahrnehmung von Text und Bild im Comic. Eckhoff-Heindl greift damit aktuelle Entwicklungen in Forschungsfeldern wie der multimodalen Linguistik oder Bildnarratologie auf, die bereits eine Verschmelzung dieser Perspektiven vollziehen und Comics als komplexe visuelle und textuelle Gefüge verstehen. Eckhoff-Heindl belässt es jedoch nicht bei dieser Synergie. Stattdessen argumentiert sie überzeugend, dass bisherige Forschungsansätze zu Comics, die sich primär auf das Verhältnis von Bild und Text konzentrieren, zu kurz greifen. Sie bezieht sich dabei insbesondere auf dominante Ansätze in der Comicforschung, die Comics als »Bild-Text-Hybride« oder »Bild-Bild-Gefüge« definieren (35). Eckhoff-Heindl plädiert stattdessen für eine Perspektive, die das dialogische Verhältnis zwischen Comic und Rezipierenden in den Mittelpunkt stellt und dabei visuelle, materielle sowie handhabungsbezogene Aspekte mitberücksichtigt. Damit bezieht sie sich auf die die Beobachtung Maurice Merleau-Pontys, der erklärt, »dass die enge Verschränkung von Visualität und Taktilität auch für die Handhabung einbezogen werden muss« (52). Auf dem phänomenologischen Ansatz Merleau-Pontys aufbauend, entwickelt Eckhoff-Heindl zunächst ein Modell ästhetischer Erfahrung für Comics, das sie dann an einem konkreten Beispiel erprobt und verfeinert: Mittels einer detaillierten Fallstudie zu Chris Wares Building Stories (2012) demonstriert sie, wie ästhetische Erfahrung in Comics auf kognitiver, leiblicher und affektiver Ebene entsteht. Dabei gelingt es ihr, die komplexen Wechselwirkungen zwischen visuellen, materiellen und handhabungsbezogenen Mechanismen in Comics herauszuarbeiten und deren Bedeutung für die Narration aufzuzeigen. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist ihre Analyse der großen Faltblatt-Doppelseite, die Eckhoff-Heindl bereits im Rahmen der Einleitung leistet: So argumentiert sie, dass die lebensgroße Darstellung eines schlafenden Kleinkinds in der Seitenmitte, die von einer Vielzahl von Panels flankiert ist, bereits eine komplexe Narration ergebe, jedoch ohne Berücksichtigung der »Irritationsmomente […], welche mit der Visualität, Materialität und Handhabung des großen Faltblatts einhergehen« unvollständig sei (11f). Nach Eckhoff-Heindl trage die Taktilität des Faltblattes entscheidend zur »Generation von Bedeutung« bei (12), indem die Leserschaft aufgrund der lebensgroßen Darstellung des Kleinkinds und der begleitenden Panels in ihrer Handhabung zwischen Nah- und Fernsicht wechseln müsse. Zugleich erfahre sie durch die Größe der Kinderillustration einen Realitätsbezug sowie eine »emotionale Affizierung« begleitet von einer persönlichen Adressierung, die mit einer Aufforderung eigene familiäre Beziehungen zu bedenken einhergehe (12).

Um ein umfassendes Verständnis von Building Stories sowie dessen Handhabung und Lesart zu ermöglichen, erscheint es an dieser Stelle sinnvoll, das Werk knapp zu charakterisieren: Wares multimediales Werk besteht aus 14 verschiedenen Publikationsformaten – darunter beispielsweise Zeitungsseiten im Broadsheet-Format sowie Leporellos und ein Spielbrett – die in einem Stülpdeckelkarton gesammelt sind, der selbst ein integraler Bestandteil des Werks ist. Es erzählt die über Jahre hinweg verwobenen Lebensgeschichten mehrerer Charaktere eines Chicagoer Mietshauses, wobei der Fokus auf der weiblich gelesenen Hauptfigur liegt. Ihre Geschichte wird aus unterschiedlichen Perspektiven präsentiert. Durch die unkonventionelle Struktur ohne vorgegebene Lesereihenfolge fordert der Comic die Rezipierenden heraus, die Erzählung, ganz der Mehrdeutigkeit des Comictitels folgend, selbst zu bauen und dabei sowohl visuelle und narrative als auch materielle sowie haptische Aspekte zu erkunden.

Wie inzwischen deutlich geworden sein dürfte, besticht die Studie zum einen durch ihre interdisziplinäre Herangehensweise, die Erkenntnisse aus Kunstwissenschaft, Literaturwissenschaft und Philosophie produktiv zusammenführt, zum anderen durch die gelungene Verbindung von theoretischer Modellbildung und anschaulicher Analyse. Methodisch innovativ ist insbesondere, dass Eckhoff-Heindl den, für die Kunstwissenschaft eher klassischen, rezeptionsästhetischen Ansatz durch einen phänomenologisch-hermeneutischen Zugang erweitert und mittels einer emanzipatorischen und feministischen Standpunkttheorie abrundet, für die sie sich hauptsächlich auf Sandra Harding und Nancy Hartsock bezieht. Dieses Vorgehen erweist sich als äußerst fruchtbar. Es ermöglicht nicht nur die zuvor erläuterte Herausarbeitung komplexer Wechselwirkungen des Comics, sondern auch eine kritische Reflexion der Situiertheit des lesend betrachtenden Subjekts und eröffnet darüber hinaus eine post-androzentrische Perspektive. Diese beinhaltet die gleichberechtigte Einbeziehung vielfältiger Geschlechteridentitäten und Erfahrungen und überwindet somit die Annahme, dass männliche Erfahrungen und Sichtweisen als universelle Norm gelten sollten.

Obwohl sich die Studie durch eine ausgesprochen detailreiche Analyse auszeichnet, vermeidet Eckhoff-Heindl Überinterpretationen, was eine große Stärke der Arbeit darstellt. Ihre Argumentationen basieren nicht auf spekulativen Deutungen, sondern auf plausiblen Schlussfolgerungen, die sich aus den im Werk angelegten Strukturen und deren möglichen Wirkung auf die Rezipierenden ergeben. Eckhoff-Heindl bleibt durchgehend nah am Material und konzentriert sich auf dessen immanente Strukturen sowie deren Einfluss auf die Rezipierenden.

Da Building Stories von Marcel Duchamps La Boîte-en-valise (ab 1935) inspiriert ist und als Assemblage verschiedener Medien eine unkonventionelle Form des Comics darstellt, wäre ein naheliegender Einwand, dass eine anhand dieses Werks entwickelte Analysemethode bei der Anwendung auf traditionellere Comics an Aussagekraft verliert. Eckhoff-Heindl entkräftet diesen potenziellen Kritikpunkt jedoch geschickt, indem sie im Kapitel »Exemplifikationen« ihre Methode auch auf formal konventionellere Comics anwendet und deren Wirksamkeit demonstriert (269–303). Dieser Transfer gelingt Eckhoff-Heindl, indem sie die grundlegenden Prinzipien des visuell-taktilen Erzählens und der ästhetischen Erfahrung, die sie anhand von Building Stories entwickelt hat, auf die spezifischen materiellen und formalen Eigenschaften anderer Comics überträgt und damit unter anderem Seitengestaltung, Panelübergänge, Handhabungsaspekte sowie Cliffhanger analytisch betrachtet. Dabei bedenkt sie mit der Wahl von Hawkeye Vol. 4 (2012–2015), in der Version der digitalen Vertriebsplattform Comixology, auch das Format eines digitalen Comics (271–273) sowie mit Werken wie Krazy Kat (1910–1944) historische Zeitungscomics ab 1900 (279–289).

Es bleibt also festzuhalten, dass Eckhoff-Heindl mit Comics begreifen: Ästhetische Erfahrung durch visuell-taktiles Erzählen in Chris Wares Building Stories eine beeindruckende und wegweisende Studie vorlegt. Der interdisziplinäre und methodisch innovative Ansatz eröffnet neue Perspektiven und Möglichkeiten für die Bildwissenschaft, insbesondere die Comicforschung. Die gelungene Verbindung von theoretischer Modellbildung und detaillierter Fallanalyse macht die Publikation zu einer äußerst gewinnbringenden Lektüre.

Bibliographie

  • Ammerer, Heinrich u. Markus Oppolzer. Was kann der Comic für den Unterricht leisten? Fachdidaktische Perspektiven auf ein subversives Erzählmedium, Waxmann, 2022.
  • Eckhoff-Heindl, Nina: Comics begreifen. Ästhetische Erfahrung durch visuell-taktiles Erzählen in Chris Wares Building Stories, Dietrich Reimer Verlag, 2023.
  • Roeder, Katherine: Looking High and Low at Comic Art. In: American Art 22.1, 2008, 2–8.
  • Sommerland, Ylva u. Margareta Wallin Wictorin: Writing Comics into Art History and Art History into Comics Research. In: Konsthistorisk tidskrift/Journal of Art History 86.1, 2017, 1–5.

 

Comics begreifen. Ästhetische Erfahrung durch visuell-taktiles Erzählen in Chris Wares Building Stories
Nina Eckhoff-Heindl
Berlin: Dietrich Reimer Verlag, 2023
445 S., 89,00 Euro (Hardcover)
ISBN 978-3-496-01685-4