PDF

KörperZeitenBilder: Verkörperte Darstellungen ›anderen‹ Zeiterlebens im Comic

Ãœber diese Ausgabe

Irmela Marei Krüger-Fürhoff (Berlin)

Comics und Literatur sind auf je spezifische Weise ›Zeitkünste‹, die Handlungen entfalten, Erzählzeit und erzählte Zeit kontrastieren und zeitliche Abläufe narrativ – im Comic zusätzlich visuell-räumlich – darstellen können. Dabei sind sie keiner einfachen Chronologie unterworfen, sondern können Analepsen und Prolepsen einsetzen und Fragmentierungen, Überlagerungen und Gleichzeitigkeiten evozieren. Vor allem bei der Darstellung ›ungewöhnlicher‹, als ›anders‹ wahrgenommener Erfahrungen wie derjenigen von Krankheit oder Behinderung spielen Zeitwahrnehmungen, die von einer ›normalen‹ chronometrischen (oder chrononormativen) Zeit abweichen, eine zentrale Rolle: Angesichts tiefgreifender körperlicher oder psychischer Veränderungen sowie existentieller Bedrohungen kann Zeit sich subjektiv dehnen oder zusammenziehen, Vergangenes gewaltsam in die Gegenwart einbrechen oder die Endlichkeit des Lebens in den Blick geraten. Eine subjektiv erlebte Krankheits-Zeit, die mit Schmerzen oder Warten verbunden ist, erfordert ebenso spezifische Darstellungsweisen wie das Zeitempfinden, das mit chronischem Leiden, degenerativen Erkrankungen und Traumatisierungen einhergeht oder als crip time (Kafer 2013, 25–27) bezeichnet werden kann, also als veränderte – aus der Perspektive der clock time einer ableistischen Gesellschaft verlängerte – Zeit für die Bewältigung von Alltagsaktivitäten unter erschwerten Bedingungen.

Die Beiträge im Themenheft »KörperZeitenBilder: Verkörperte Darstellungen ›anderen‹ Zeiterlebens im Comic« untersuchen Comics unterschiedlicher Genres (Autobiographie, Reportage, (historische) Fiktion); drei der sieben Aufsätze berücksichtigen zudem vergleichend literarische Texte verschiedener Gattungen (Lyrik, Drama, Prosa). Obgleich das Spektrum der behandelten Phänomene groß ist und so unterschiedliche Erfahrungen wie das Leben mit psychischen Krankheiten, die Sterbebegleitung vertrauter Menschen und das Erleiden medizinischer Menschenversuche oder Folter umspannt, fragen alle Beiträge nach den ästhetischen und gesellschaftspolitischen Bedeutungen individueller ›KörperZeiten‹, die als ›ZeitenBilder‹ in Form graphischer und literarischer Narrationen eine breite Öffentlichkeit adressieren.

Nancy Pedri untersucht in ihrem Beitrag »Manipulating Time across the Body: Subjectivity in Graphic Illness Narratives«, auf welche Weise autobiographische Comics die Darstellung des Zeiterlebens erkrankter Figuren variieren, um subjektive Unterbrechungen und Verzögerungen des Zeitflusses (suspended time), Gleichzeitigkeiten und Überlagerungen (layered time) oder das Erleben von Zerstörung und Auflösung (fractured time) zu vermitteln. Pedris Lektüren arbeiten heraus, wie britische, französische, kanadische und US-amerikanische Comics die Verletzlichkeit ihrer Protagonist_innen durch eine Verbindung von Körper- und Zeitgestaltung verdeutlichen und damit auch Gegenerzählungen zu medizinischen Deutungen erproben.

Die nächsten beiden Aufsätze widmen sich den vielschichtigen Zeiterfahrungen im Zusammenhang mit Sterbebegleitung, Tod und Trauer, wie sie sich in literarischen Erinnerungen, autobiographischen und fiktionalen Comics niederschlagen. Nina Schmidt analysiert in »›So I took some photos.‹ Time, Photography and the Materialization of Memory in Graphic Narratives of Bereavement« den Einsatz von Fotos in Comics, die den Verlust naher Angehöriger thematisieren. Anders Nilsens Don’t Go Where I Can’t Follow, Roz Chasts Can’t We Talk about Something More Pleasant? und Antonia Kühns Lichtung, so Schmidts These, integrieren ›echte‹ und ›gezeichnete‹ Fotos nicht nur, um Verstorbene zu vergegenwärtigen, sondern auch um die Grenzen des Darstellbaren auszuhandeln und die Möglichkeiten einer Überführung ›privater‹ Erfahrungen in öffentlich zugängliche Kunstwerke zu reflektieren.

Sucharita Sarkar thematisiert in ihrem Beitrag »Repairing Time out of Joint: Narratives of Caring for Mothers with Cancer« das ›andere‹ Zeiterleben eines Sohnes und einer Tochter bei der Begleitung ihrer an Krebs erkrankten Mütter. In der vergleichenden Lektüre von Brian Fies Comic Mom’s Cancer und Ariel Gores autobiographischem Text The End of Eve greift Sarkar auf Scott McClouds Vorstellung von Zeit im Comic als »Seil« (McCloud 2001, 104) zurück und rekonstruiert die unterschiedlichen Darstellungen sich ausdehnender, verknotender oder zusammenschnurrender Zeit, mit denen die Protagonist_innen das Trauma des Krebstods verarbeiten.

Besitzt die Nacht für Menschen mit psychischer Erkrankung, hohem Alter, Krebs oder Traumatisierung in erster Linie bedrohliche Eigenschaften oder eröffnet sie im Kontext von Klinik und häuslicher Umgebung auch Möglichkeiten zu ›anderen‹, neuen Erfahrungen? Anne Rüggemeier verfolgt in ihrem Essay »Krankheit, Tod und Sterblichkeit: Die ›arthrologische‹ Gestaltung von Nacht-Zeiten in Drama, Lyrik und Comic am Beispiel von Sarah Kane, Philip Larkin und David Small« diese Frage aus einer medienvergleichenden Perspektive und untersucht, mit welchen sprachlichen und visuellen Verfahren die ausgewählten Werke experimentieren, um die Ambivalenz dieser besonderen Zeit darzustellen.

Die nächsten beiden Essays wenden sich historischen bzw. gegenwärtigen Leid- und Zeiterfahrungen durch Menschenexperimente, Folter und Gefangenschaft zu, und zwar aus fiktionaler bzw. dokumentarischer Perspektive. Marina Rauchenbacher untersucht unter dem Titel »Körper-Zeit-Körper. Zeitkonzepte in Ulli Lusts und Marcel Beyers Flughunde«, welche Bedeutung der Roman und seine Comic-Adaption Stimmen und akustischen Phänomenen vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus zuweisen und wie deren Wirkung auf individuelle und kollektive Körper medienspezifisch vermittelt wird. Rauchenbacher arbeitet heraus, auf welche Weise beide Werke Körper als Einschreibeflächen und zeithistorische ›Gedächtnisorte‹ entwerfen, an denen sich die Spuren politischer Propaganda, chirurgischer Menschenexperimente und tödlicher Gewalt ablesen lassen.

In seinem Beitrag »Zeitlichkeiten von Folter und Zeugenschaft in Sarah Mirks dokumentarischer Comic-Anthologie Guantánamo Voices« analysiert Sebastian Köthe am Beispiel eines der umstrittensten Internierungslager der US-amerikanischen Gegenwart die Verfahren der sogenannten ›sauberen‹ Folter, die unter anderem auf die Zerstörung ›normaler‹ und berechenbarer Zeiterfahrung zielen. An ausgewählten Comics aus Sarah Mirks preisgekrönter Anthologie arbeitet Köthe die Strategien der ›Re-Temporalisierung‹ heraus, die einzelne Gefangene verwenden, um sich angesichts des nicht absehbaren Endes ihrer Lagerhaft ein Minimum an Körpererfahrung, persönlicher Identität und individueller Erinnerung zu bewahren. Unter Rückgriff auf Nina Mickwitz’ Studie Documentary Comics (2016) zeigt er, welche Darstellungsweisen die Comics einsetzen, um die Zeiterfahrungen der Insassen plastisch zu vermitteln ohne dabei aufdringlich, voyeuristisch oder menschenverachtend zu werden.

Den Abschluss bildet Natalie Veiths Aufsatz »Diseased Bodies and Notions of Time in Ian Edginton and Davide Fabri’s Comic Book Series Victorian Undead«, der uns in ein fiktionales London des ausgehenden 19. Jahrhunderts versetzt, in dem Sherlock Holmes die Stadt vor infektiösen Untoten schützen soll. Die Comic-Serie entwickelt eine Poetik der Ansteckung, in denen die zwischen Tod und Leben angesiedelten infizierten und infektiösen Gestalten grundsätzliche Zeitkonzepte in Frage stellen. Indem sie London und Königin Victoria als politische Körper deutet, arbeitet Veith die geschichtskritischen Impulse von Victorian Undead heraus, das teleologische Geschichtsnarrative des britischen Empire kritisiert und mit seinen Vampir- und Zombiefiguren chrononormative Konzepte hinterfragt.

 

Das für CLOSURE #10.5 ausgewählte Titelbild von stef lenk variiert einige der in den Beiträgen thematisierten Aspekte auf augenzwinkernde Weise. Im Vordergrund ist ein Skelett zu sehen, das mit erhobenen Armen und einem Ausfallschritt eine Art Tanzbewegung ausführt; im Hintergrund das Schattenbild einer weiblichen (kindlichen?) Figur mit Pagenkopf, die dem Tanz mit vor der Brust verschränkten Armen zuzuschauen scheint. Beide Charaktere sind an den Füßen miteinander verbunden, obgleich sie körperlich nicht zueinander passen. Das Bild zitiert das memento mori traditioneller Totentanz-Darstellungen, doch wirft hier nicht die Anwesenheit des Todes ›mitten im Leben‹ einen bedrohlichen Schatten, sondern die ›fleischlich-menschliche‹ Schattengestalt mit ihrer reserviert wirkenden Körperhaltung. Der Titel The Chaperone lässt an eine humorlose Gouvernante denken, die sich als Wächterin der Konventionen gegen Zeiten ausgelassener Körperlichkeit verwahrt, und sei diese auch angesichts (oder jenseits) des Todes. Mit seiner magisch anmutenden Gleichzeitigkeit von Tod und Leben, Körperfreude und kritischer Betrachtung ermöglicht die farbige Illustration neue Blickwinkel auf KörperZeitenBilder. Weitere Inormationen zur Künstlerin finden sich hier.

Ausgangspunkt der meisten Beiträge dieses Heftes ist ein internationaler Workshop, den die »PathoGraphics«-Forschungsgruppe der Freien Universität Berlin in Kooperation mit der »AG Comicforschung« veranstaltete. Aus der zweisprachigen Online-Veranstaltung im ersten Corona-Sommer ist nun ein deutsch- und englischsprachiges Themenheft geworden. Mit-Herausgeberin Nina Schmidt und ich danken allen Beiträger_innen für ihre inspirierenden Arbeiten und ihre Geduld sowie dem CLOSURE-Team für offene Türen und Unterstützung.

Berlin, Oktober 2024
Irmela Marei Krüger-Fürhoff

_______________________________________________________

Bibliografie

  • Kafer, Alison: Feminist, Queer, Crip. Indiana University Press. Bloomington, Indianapolis: Indiana UP, 2013.
  • Mickwitz, Nina: Documentary Comics. Graphic Truth-Telling in a Skeptical Age. Basingstoke: Palgrave Macmillan, 2016.
  • McCloud, Scott: Comics richtig lesen. Die unsichtbare Kunst. Ãœbers. v. Heinrich Anders. Hamburg: Carlsen, 2001.