»Einmal in diese Gegend vorgedrungen, wird die Schönheit der Welt ein Teil meines Seins.«
Japanische Kulturkonzeptionen des Meeres als fūdo in Catherine Meurisses La jeune femme et la mer1
David Höwelkröger (Kiel)
»Décliné en une belle palette de couleurs, sensible, touchant, dessiné avec humour et à propos, La jeune femme et la mer n’est pas simplement un carnet de voyage, c’est aussi une manière - quasi philosophique - de renouer avec le monde qui nous entoure« (Salin, o.S.).1
Wasser bildet für Menschen aus kulturwissenschaftlicher Sicht »ein Reservoir kultureller Symbolwelten« (Böhme, 13). Comics können auf ihre medienspezifische Weise auf dieses Symbolreservoir abheben, indem sie, nach Scott McCloud, durch Abstrahierungen im Zeichenstil von Objekten und Personen universaler zu lesen seien, sodass bestimmte Details und Bedeutungen dadurch hervorgehoben würden (vgl. 1994, 30-31). Ein Beispiel für symbolische Darstellungen des Meeres ist Catherine Meurisses Bande Desinée La jeune femme et la mer (JFM) [deutscher Titel: Nami und das Meer], wo die Erfahrungen einer namenlosen französischen Zeichnerin mit der japanischen Natur und Kultur im Vordergrund stehen. Konkret möchte ich in diesem Artikel JFM aus der Perspektive des vom japanischen Philosophen Testurō Watsuji (1889–1960) 1935 etablierten philosophischen Konzepts des fūdo (風土, zusammengesetzt aus den Kanji für ›Wind‹ und ›Boden‹) lesen. Es beschreibt die gegenseitige Bedingtheit von Menschen und Natur, welche Watsuji als ›Klima‹ bezeichnet, wobei die Wahrnehmung von Naturphänomenen zu einer Form von Selbsterkenntnis führe (vgl. Watsuji 1997, 8–10). Obwohl sich der Comic auf verschiedene kulturelle Konzepte aus Japan bezieht, taucht fūdo als Begriff selbst nie dort auf. Dennoch wird dieser Aufsatz versuchen, bestimmte Szenen, in denen auf das Verhältnis zwischen Menschen und Natur eingegangen wird, durch das Konzept von Watsujis fūdo zu interpretieren. Zudem findet sich die das Selbstverständnis der Menschen fördernde Beziehung zwischen Natur und Mensch auch durch japanische Darstellungskonventionen wie das Prinzip ma (間), das Innehalten, auf der ästhetischen Ebene im Comic wieder.
Wie der Titel bereits impliziert, spielt in der Naturwahrnehmung das Meer eine besondere Rolle im Comic: Denn während die Zeichnerin in einer nicht näher bezeichneten Gegenwart durch Japan reist, um die Natur des Landes bildlich festzuhalten, begegnen ihr Menschen, die der animistisch geprägten Auffassung sind, das Meer sei belebt. Dadurch nimmt es für diese die widersprüchliche Rolle sowohl des Lebensspenders, als auch des Zerstörers ein, was die japanische Bevölkerung den Beobachtungen der Zeichnerin im Comic nach jedoch akzeptiert und normalisiert. Hier wird also auf etablierte kulturelle Konstrukte abgehoben, die Wasser als ein gegensätzlich konnotiertes Element ansehen (vgl. Ohnmacht, 33). Daran anschließend hebt Tina Ohnmacht hervor, dass sich die Mannigfaltigkeit der kulturell dem Meer zugeschriebenen Bedeutungen auch in den »stofflich-materiellen Qualitäten« von Wasser selbst wiederfinden würde – etwa in Farbe, Konsistenz, Geschmack usw., die im Comic ebenfalls betont werden (ebd., 60–61). So treffen hier etwa die materiellen Eigenschaften von Wasser als Meer und die damit verbundenen kulturellen Zuschreibungen aufeinander, wenn wiederholt Katsuhika Hokusais Unter der großen Welle im Meer von Kanagawa (1831) thematisiert wird (JFM 62-63; 75; 90-94).2 Dabei wird sowohl auf die Klassifizierung des Bildes als Ukiyo-e-Gemälde (浮世絵), also Abbildung einer ›fließenden vergänglichen Welt‹, abgehoben als auchauf die Darstellung der Welle als Naturkatastrophe, welche laut Comic durch die Imagination des Malers im Bild bezeugt würde (vgl. JFM, 94). Durch diesen Kontrast ermöglicht La jeune femme et la mer einen malerisch vermittelten Blick auf die japanische Meereskonzeption und Wege, dem Meer als Naturentität zu begegnen.
Es ist bei der Lektüre des Comics davon auszugehen, dass es sich bei der Protagonistin um eine Art ›Stellvertreterfigur‹ der Autorin handelt, da Catherine Meurisse selbst Japan besucht hat, um diesen Comic dort zu zeichnen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Werk somit explizit autobiografisch zu lesen sei, anders, als ihr 2016 erschienener Comic La Légèreté [Die Leichtigkeit], in dem sie durch Reisen verarbeitet, dem Attentat auf die Redaktion des Magazins Charlie Hebdo in 2015 entkommen zu sein. In La jeune femme et la mer reist diese Figur nun nach Japan und begegnet dort einem alten Haiku-Dichter, einheimischen Hobby-Malern und, im Stile des wortwörtlich fabelhaften Magischen Realismus, einem sprechenden Tanuki – die Bezeichnung für in Japan anzutreffende Marderhunde – sowie der in der deutschen Ausgabe titelgebenden Nami, der Gastwirtin der Stätte, in der die Zeichnerin für eine Weile unterkommt. Wie sich im Verlauf des Comics herausstellt, besitzt Nami eine besondere spirituelle Verbindung zum Meer. Denn wie die Zeichnerin durch den Tanuki erfährt, hat Nami den Tsunami überlebt, der in Katsuhika Hokusais oben bereits angesprochenem Farbholzschnitt abgebildet wird. Auch hier greifen Genrekonventionen des Magischen Realismus, da Nami über die Fähigkeit verfügt, das Meer so zu lesen, dass es sie vor nahenden Naturkatastrophen in Japan warnt (vgl. Siskind, 26). Dabei wird stark impliziert, dass es sich bei ihr um Benten (弁天), die Göttin des Wassers handelt, ebenso wie des Glücks, der Liebe und der Kunst (vgl. Rambelli 2018, 191). So schickt die Frau ihre über die Zeit zahlreichen zu leisten. All dies nehmen Leser_innen aus der touristischen Perspektive der namenlosen Zeichnerin wahr, die eine Fremde in einem für sie fremden Land ist, wie auch immer wieder von Einheimischen und insbesondere dem Tanuki betont wird (vgl. JFM, 12, 18). Dementsprechend wird durch den Comic thematisiert, wie sie als Europäerin Zugang zur Kultur des Landes finden kann, was unter dem Aspekt des interkulturellen Vergleichs auch von Kritikerinnen und Kritikern besprochen worden ist (vgl. auch Weißmüller 2022; Ufer/Westhoff 2022; Clausse 2022).3 Die Rolle der Interkulturalität wird auch in neueren Auslegungen von fūdo relevant, wenn es darum geht, wie die Selbstkonstitution von Personen verläuft, die normalerweise ein anderes ›Klima‹ gewohnt sind und somit ein anderes Selbstverständnis von sich haben.
Vorannahmen: fūdo als Form menschlicher Selbsterkenntnis in der Natur
Für diesen Artikel wird neben Watsujis Primärtext, Fūdo - Wind und Erde: Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur (1997 [1992]) auch David W. Johnsons Lesart zu Watsujis Konzept von fūdo herangezogen, der dieses Konzept, im Sinne der ›Selbstkonstitution‹ durch das Klima, mit Rückgriff auf Martin Heideggers Konzept des ›Daseins‹ schärft und es im Hinblick auf transnationale Identitäten erweitert (vgl. Johnson 2016; 2018, 1148–1149; 2019, 191–192). Dies ist, wie oben bereits angedeutet, relevant, da wir/Betrachter_innen die japanische Natur und Kultur stets durch die Augen der französischen Zeichnerin sehen.4 Von fūdo existiert keine gute einheitliche begriffliche Übersetzung, weswegen ich hier Johnson folgen möchte, und den Begriff für diesen Aufsatz unübersetzt lasse. Übersetzt wurde er bisher sowohl mit dem Begriff ›Klima‹, als auch mit ›Klima und Kultur‹ oder ›Milieu‹, während für die deutsche Übersetzung von Watsujis Primärwerk anfangs die wörtliche Übersetzung von ›Wind und Erde‹ gewählt wurde und für weitere Erklärungen schlicht von ›Klima‹ gesprochen wird (vgl. Watsuji 1997, 6). Jedoch treffe kein Begriff davon nach Johnson den eigentlichen Kern von fūdo, bei dem Watsuji die Natur als zentral für das Verständnis des eigenen ›Selbst‹ setzt (vgl Johnson 2018, 1151, Fn. 1). Auch für die Zwecke dieses Artikels wäre es entsprechend nicht sinnvoll, eine der hier genannten Übersetzungen zu wählen. Ebenso wird in Watsujis eigenen Ausführungen nicht klar, inwiefern er genau zwischen den Begriffen ›Klima‹ und ›Natur‹ unterscheidet, weshalb sie – für die Zwecke dieses Artikels – synonym gebraucht werden (vgl. dazu auch Liederbach 2000-2001, 161-162, Fn. 5 und Johnson 2019, 34–39).
Obwohl aus Watsujis umfassendem Werk gesammelter Schriften (an der Zahl 27-bändig) nur insgesamt drei Werke auf deutsch übersetzt wurden (darunter, neben seine Klimatologie [Watsuji 1997 (1992)], Vorbemerkungen zu Watujis größerem Werk zu Ethik [2005]; und seiner Rezeption Johann Gottfried Herders [2012]), findet man Auseinandersetzungen mit ihm – wenn auch nur in drei deutschsprachigen monographischen Sekundärquellen konkret im Titel benannt (Liederbach, 2001; Boteva-Richter, 2009; Heise, 2023) – in diversen Publikationen zum Thema japanischer Philosophie- und Ideengeschichte (vgl. z.B. Pörtner/Heise 1995, 365–374) und dem Einfluss von europäischer Philosophie auf solche aus dem ostasiatischen bRaum (z.B. Kasahara 2014). Watsujis Name taucht ebenfalls häufig auf, wenn es um die Selbstbeschreibung Japans geht (vgl. Heise 1989, 84–88). Im englischsprachigen Raum werden seine Thesen ebenfalls aktuell diskutiert (vgl. z.B. Johnson 2019; Mayeda 2020; konkret zur Frage des Klimawandels Janz 2011).
Fūdo beschreibt die zusammenhängende und gegenseitig voneinander abhängige Beziehung zwischen Natur und menschlicher Kultur an bestimmten Orten, an denen Menschen leben (vgl. Hecht, 166; Johnson 2018, 1134):
it is intended to express the way in which the natural and the cultural are interwoven in a setting which is partly constitutive of, and partly constituted and opened up by, a group of people inhabiting a particular place. Such metaphysical commitments will mean that we will need to somehow think nature together with culture and the self as what belongs to, emerges from, and shapes this matrix (Johnson 2016, 217).
Genauer versteht Watsuji »klimatische[…] Phänomene als Ausdruck der subjektiven menschlichen Existenz und nicht als die der natürlichen Umgebung« (1997, 4). So konstituiert Watsuji eine Ablehnung der Unterscheidung zwischen dem Menschen als Subjekt und Klima bzw. Natur als Objekt, sondern sieht beide als Einheit an: Er erklärt dies am Beispiel von Kälte:
Das Gefühl, »Kälte zu empfinden« ist kein »Punkt«, von dem aus das Subjekt eine auf die Kälte gerichtete Beziehung herstellt, sondern ist als Empfindung von etwas bereits eine Beziehung, und genau in dieser Beziehung nehmen wir die Kälte erst wahr. […] Wenn wir Kälte verspüren, dann nicht als ein »Empfinden« von Kälte, sondern als »Kälte der Außenluft« eben unmittelbar als Kälte. […] So kann gesagt werden, daß eine intentionale Beziehung, wie in der Erfahrung von Kälte, sich bereits auf die Kälte der Außenluft bezieht. Kälte als etwas transzendent Existierendes wird erst in dieser Intentionalität möglich. […] In dem Augenblick, in dem wir Kälte verspüren, sind wir ja schon der kalten Luft ausgesetzt. In Beziehung zur Kälte geraten heißt nichts anderes, als daß wir selber schon in die Kälte hinausgetreten sind. (Watsuji, 1997, 7-8)
Dieses Empfinden koppelt Watsuji im Anschluss daran an eine bestimmte Form von ›Selbsterkenntnis‹ unter Rückbezug zu Martin Heideggers ›Ex-istere‹-Begriff:
Wir sagen also, daß wir als diejenigen, die hinausgetreten sind, uns selbst gegenüberstehen. Auch wenn wir uns nicht reflektiv oder introspektiv selbst begegnen, ist unser Selbst durch unser Selbst aufgedeckt. Reflexion ist lediglich eine Weise des Sich-selbst-Begreifens und überdies kein primärer Modus der Selbstaufdeckung. (Wenn »Reflektieren« jedoch im visuellen Sinn verstanden wird, nämlich als Anstoßen und Zurückgeworfenwerden [sic] und als etwas in diesem Zurückgeworfenwerden sich Zeigendes, dann könnte man wohl sagen, daß sich hier die Weise ausdrückt, in der unser Selbst sich uns ent-deckt [sic].) […] Indem wir Kälte empfinden, entdecken wir uns selbst in der Kälte selbst. Dies besagt aber nicht, daß wir uns in die Kälte versetzen, um uns dann als solchermaßen Hinausversetzte zu entdecken. Denn in dem Augenblick, in dem Kälte zum ersten mal wahrgenommen wird, sind wir ja schon in die Kälte hinausgetreten. Deshalb ist das »draußen Seiende« seinem Wesen nach kein Ding oder Objekt, genannt »Kälte«, sondern wir selbst sind dieses »draußen Seiende«. »Ex-sistere«, das Hinaustreten, ist das Grundprinzip unseres Daseins […]. Kälte empfinden ist eine […] Erfahrung in der wir uns selbst als bereits in die Kälte Hinausgetretene erkennen. (ebd., 8)
Die hier angesprochene Rolle der Reflexion soll gerade dann noch einmal relevant werden, wenn es um die spiegelnde, also reflektierende Rolle des Wassers, konkret, dem so genannten Spiegelteich im Comic geht (vgl. JFM, 97). Das Selbstverständnis ginge aber noch über das Subjekt selbst hinaus und verweise so sowohl »auf [die] individuelle[…] [als auch] […] gesellschaftliche[…] Ebene«, wo Maßnahmen ergriffen würden, um, von menschlicher Seite aus, die Bedingungen des Klimas zu bewältigen (z. B. das Anziehen warmer Kleidung) (Watsuji 1997, 10). Johnson präzisiert noch einmal, dass fūdo durch das so genannte fūdosei (風土性) (auf deutsch übersetzt als »das Klimatische« [Watsuji 1997, 3]) zustande käme, also die jeweils gelebte Erfahrung in der ersten Person, bestehend aus den jeweiligen Eigenschaften, Qualitäten und Werten eines bestimmten Bereichs in der Natur, welche aus dem oben beschriebenen Umstand des ›Heraustretens‹ entstünden (Watsuji 1997, 6-9, Johnson 2018, 1137). Auf diesen Zusammenhang zwischen den jeweiligen Erfahrungen von Menschen und den jeweils zugeschriebenen Eigenheiten wird auch in Bezug auf Wasser und das Meer genauer einzugehen sein (vgl. auch Böhme, 17 und Ohmacht, 59).5 Mit fūdosei könnten z. B. die wahrnehmbaren affektiven Gefühle und Reaktionen auf die wahrnehmbaren Eigenschaften der Natur gemeint sein, »(e.g., qualities and values such as beauty, gracefulness, ugliness, serenity, danger, sublimity,etc.) that depend on a subject to experience them« (Johnson 2018, 1137). Diese entstünden im Menschen und gäbe so der Natur erst ihre Qualitäten: »Weil der Mensch Wind besitzt, gibt es Wind. Weil der Mensch diesen Wind als etwas still Empfundenes besitzt, ist der Wind still. Oder weil der Mensch Wind besitzt, indem er ihn als Wind hervorhebt, ist der Wind eben Wind«. (Watsuji 2005, 123).6
Diese oben angesprochene Wahrnehmung in und durch die Natur als ein ›Selbst‹, welches im »Hinaustreten« in die Natur entstünde, werde darüber hinaus ermöglicht durch das so genannte aidagara (間 柄), von Johnson übersetzt als »being-in-relation-to-others« (2016, 238, Fn 2).7 Dies bezeichnet sowohl eine Form der individuellen Selbsterkenntnis innerhalb eines bestimmten Klimas, als auch die Realisierung, dass man zugleich mit anderen Menschen in Beziehung stünde. Laut Watsuji könne dies etwa durch kulturell tradiertes und geschichtlich etabliertes geteiltes Vokabular, das die Beschreibung von Naturphänomenen ermögliche, geschehen, ebenso, wie verschiedene von ihm exemplarisch benannte Praktiken, mit denen sich Menschen gegen klimatische Bedingungen schützen (vgl. Watsuji 1997, 9–10; Johnson 2016, 233; 2018, 1143; Liederbach 2000–2001, 179).
Fūdo sei dabei als eine Art »realm of potentiality« zu verstehen, welches sich in fūdosei verwirkliche (Johnson 2018, 1137). Dies geschehe als bzw. in einem Akt der Welterschließung vermittelt durch drei von Johnson aufgezählte Modi: erstens, durch Sprache (im konkreten Benennen der Qualitäten von Natur und der Kommunikation mit anderen Menschen untereinander über diese), zweitens, durch Affektivität (im Wahrnehmen von qualitativen und bewertbaren Eigenschaften von Natur) und drittens, durch (kulturelle) Praktiken, die von fūdo überhaupt erst ausgelöst würden (vgl. Watsuji 1997, 11–12). So soll später noch gezeigt werden, wie die Malerei als kulturelle Praktik auch eine Form von aidagara offenlegen kann, die verdeutlicht, wie Menschen in Beziehung zueinander und zum japanischen fūdo stehen.
Das Konzept von fūdo wurde, gerade in Japan, auch nicht unkritisch rezipiert (vgl. dazu überblickshaft Liederbach 2000-2001, 159–163). Dies liegt insbesondere an der Rolle, die Watsujis Thesen zur Legitimation von Japans Nationalismus spielten (vgl. Bellah 1965; Bernier 2006). Kenneth Henshall wirft Watsuji derweil vor, eine Form von Kulturdeterminismus zu betreiben, im Glauben, »that every individual was determined by his or her nation, which was in turn determined by geo-climatic factors« (191; vgl. auch Liederbach 2021, 244 und für eine Lesart für sowohl deterministische, als auch nicht-essentialistische Aspekte, siehe Mayeda, 85–124). Den Kulturdeterminismus weicht Johnson, mehr als 80 Jahre nach Watsujis ursprünglicher Veröffentlichung des Konzepts, auf, indem er die Ausführungen Watsujis so interpretiert, dass Kultur weniger Ausdruck von klimatischen Bedingungen sei, sondern vielmehr »a creative response to them, and it is in this transformative reception of environmental conditions that he locates something like human freedom or transcendence«, worauf auch im Nachfolgenden eingegangen werden soll (Johnson 2016, 235; 2018, 1147, vgl. auch 1148–1149; 2019, 44, 186).
Eine genauere Erklärung, wie sich die Beziehung zwischen Mensch und Natur, insbesondere zum Meer, im Comic ausgestaltet, erfolgt weiter unten anhand von Analysen verschiedener Szenen, die auf dieses Thema im Comic abheben und die Perspektive der Protagonistin auf diese Aspekte thematisieren. So beschäftigt sich der nachfolgende Abschnitt mit der Konstitution des Selbstverständnisses der französischen Zeichnerin: Nimmt sie sich zunächst als außenstehend wahr, wird ihr über die Zeit hinweg klar, wie die Qualitäten des japanischen fūdo sie langsam zu einem Verständnis von Japans Natur führen. Sie fühlt sich somit als sei sie »von hier [Japan]« (JFM, 98). Dabei wird ihr ›Selbst‹, wie weiter unten ausgeführt wird, jedoch nicht komplett davon eingenommen, sondern vielmehr bereichert diese Naturwanderung die früheren Erfahrungen ihres französischen fūdos (vgl. Johnson 2016, 236; 2018, 1148–1149; 2019, 191–192). Anschließend geht es um die Vermittlung des japanischen fūdo durch die Praktik der Malerei. Durch die Konversation mit japanischen Malern an der Küste verdeutlicht der Comic implizit die Beziehung zwischen der Zeichnerin als einzelner Person und der Gruppe, die sich alle in einem gemeinsamen fūdo befinden. Im letzten Teil des Aufsatzes soll genauer auf die formale Ebene eingegangen werden und gezeigt werden, wie die Zeichnungen in Verbindung zum Thema der Umweltverbundenheit und konkret zur durch Naturkatastrophen verursachten Vergänglichkeit der Landschaft stehen. So ist es nicht der Anspruch dieses Comics, eine wie auch immer geartete ›objektive‹ Sichtweise auf die japanische Natur und eine ›japanische‹ Auffassung des Meeres zu liefern. Dies gilt ebenso wenig für eine Art von ›heuristischer‹ Darstellung über das Wesen der Einheimischen (des so genannten nihonjinron, [日本人論, grob: ›Diskurs über Japan‹ bzw. »theory of the Japanese national character« (Starrs, 9)] als dessen konzeptioneller »founding father[…]« Watsuji auch bezeichnet wird [Sakai, 115]) und wie diese kulturdeterministisch bzw. -essentialistisch mit Naturkatastrophen umgehen (vgl. auch Suter, 218; Yoshino, 9–38; Arnold-Kanamori, 9–35).8 Vielmehr geht es dem Comic darum, aufzuzeigen, wie gerade aus einem ›Nicht-japanischen‹ Blick sich die Landschafts- und Naturästhetik von Japan eröffnen kann und sich so das Selbstverständnis und die Selbstkonstitution vom Menschen in der Natur durch sie verändert. (vgl. Ufer/Westhoff 2022).
»Sie sind nicht von hier, beginnen aber dazuzugehören«: Die transkulturelle Erfahrung von fūdo durch fūdosei
La jeune femme et la mer beginnt damit, dass die namenlose Zeichnerin schon ganz zu Anfang davon spricht, »ihr viel zu westliches Bildarchiv auffrischen« zu wollen (JFM, 6). Es geht also um eine Form der Bereicherung. Hier wird bereits eine sprachliche Dichotomie zwischen dem ›Westen‹ und Japan eröffnet, indem die Zeichnerin sich selbst als außenstehend markiert. Später wandert die Zeichnerin dann, in einer Sequenz, die nach meiner Lesart das Prinzip fūdosei verdeutlicht, über mehrere Seiten hinweg durch die Natur und vergleicht ihre Eindrücke der japanischen Landschaft bzw. das fūdo auf sprachlicher und affektiver Ebene mit ihrer bekannten französischen, respektive dessen fūdo: »[d]ie sanften Hügel, die Vielfalt der Bäume, die Moose, das Grün der Teeplantagen … / Die Formen, die Linien, die Düfte… / […] Das sollte leicht zu malen sein!« (JFM, 41–42). So erscheinen ihr Elemente der Landschaft gleichzeitig bekannt, und doch immer wieder in einem für sie unbekannten Kontext, wie etwa »[e]in Kohlfeld am Rande eines Vulkans« oder auf spezielle Art getrockneter Weizen (JFM, 42–44). Hier erlebt die Zeichnerin fūdo also als eine Abfolge von »responses, desires, […] meanings, and possibilities for action«, wie das Zeichnen dieser Natur, welche nach Watsuji sowohl auf das Selbst als Individuum, als auch darüber hinaus auf menschliche Beziehungen untereinander verwiesen (vgl. Johnson 2016, S. 233-234; 2018, 1144; 2019, 149). Denn alle hier aufgezählten Beispiele zeigen auch auf, wie diese Wahrnehmung der kulturellen Praktiken, wie pflanzlicher Anbau, die Menschen in und mit der – hier japanischen – Natur durchführen, die von der Zeichnerin benannten Qualitäten auslösen, dass wir nach Watsuji durch aidagara in Beziehung zueinander stehen. (Johnson 2018, 1148). Indem sie die Qualitäten entsprechend wahrnimmt, ist sie bereits nach Watsuji ein Teil von Japan – sie hat also die Subjekt-Objekt Dichotomie überwunden. Diese Grunderkenntnis der Verbindung mit der Natur, in der sich die Zeichnerin ab jetzt befindet, ist grundlegend für den Fortlauf des Comics, beeinflusst dieses Wissen doch, wie sie ab jetzt über die Natur und den Platz der Menschen darin nachdenken wird. Genau dies bemerkt auch der Dichter, den sie in einem Gasthaus trifft: »Das Seltsame an unserem Land wird Ihnen langsam vertraut. / Sie sind nicht von hier, beginnen aber dazuzugehören, seit Sie es betreten haben. […] Einmal in diese Gegend vorgedrungen, wird die Schönheit der Welt ein Teil meines Seins.« (JFM, 80, Herv. v. DH). Als die Zeichnerin dann am Ende des Comics schlussendlich dazu kommt, die Landschaft zu malen, sinniert sie: »Immer diese vertraute Fremdheit… / Die Düfte kenne ich nun, die Kamelienblüten, die Kontur des Vulkans… / Vielleicht bin ich mir nichts, dir nichts wirklich ›von hier‹« (JFM, 98). Letztendlich artikuliert sie hier ihr eigenes Selbstverständnis, legt final ihre Außenperspektive ab und öffnet sich dem japanischen fūdo (vgl. Johnson 2016, 220, 2018, 1148).
Als sie dann die Landschaft am Spiegelsee malen möchte, sieht sie dort »die Landschaft […] [ihrer] Heimat« am gegenüberliegenden Ufer erscheinen (JFM, 100). Mit Johnson gesprochen, kann das ›Selbst‹, also die eigene Identität mit ihren Vorerfahrungen, nie ganz vom jeweilig wahrgenommenen fūdo ausgeschlossen werden, sondern sickert auch durch Konzepte wie ›Heimat‹ immer bereits dort mit hinein (vgl. Johnson 2018, 1147). fūdosei äußere sich nach Johnson auch in einer Offenheit und Empfänglichkeit für unsere Umgebung, die es uns erlaube, »[to] understand ourselves as rooted in the specificity of a region of nature« (Johnson 2018, 1141).9 So könnten auch neue Erfahrungen innerhalb eines anderen fūdo mit in ein eigenes Selbstverständnis integriert werden und so frühere – wie ihr zu Anfang dieses Abschnitts erwähnte Bildarchiv – bereichern (vgl. Johnson 2016, 236; 2018, 1149, 2019, 192). So sieht sich die Zeichnerin im Comic über die Zeit hinweg auch als Teil des japanischen fūdos, nimmt also die Eigenschaften von Japan wahr, blendet dabei in ihrem Selbstverständnis jedoch nicht aus, dass sie sich immer noch als Französin identifiziert, da sie die Ähnlichkeiten der japanischen zur französischen Natur schon am Anfang, wie oben dargestellt, verglichen hat. Johnson führt aus:
What seems to be decisive […] is the way in which one thing rather than another strikes the imagination, prompting one to bring some […] sense in one’s environment closer to the self rather than others. Hence the strong identification with one aspect of one’s milieu rather than another shows that the self is much more than the simple expression of its fūdo. (vgl. Johnson 2019, 191–192).
In diesem Sinne zeigt der Comic auf, wie das eigene Selbstverständnis komplex durch Natur geprägt werden kann. Dies als grundlegendes Verständnis vorausgesetzt, soll es im nachfolgenden Abschnitt darum gehen, wie dieses das ›Selbst‹ prägende Verständnis des übergangslosen Zusammenhangs in der Beziehung zwischen Mensch und Natur in der Praktik der Kunst vermittelt wird.
Malerei und die Erschaffung eines medialen Abbilds als eine sich fūdo erschließende Praktik
Auf der Handlungsebene erlebt die Zeichnerin das fūdo der japanischen Landschaft auf eine interkulturell bereichernde Weise. Wie es derweil medial transportiert und reflektiert wird, trägt maßgeblich zur Ausformung der Beziehung zwischen Mensch und Natur im und als fūdo bei. Weiter oben ist ja bereits angeklungen, dass sich fūdosei als gelebte Erfahrung der durch Menschen wahrgenommenen Eigenschaften von Natur u .a. durch Affekte und (mediatisierte kulturelle) Praktiken äußere: »the affectivity […], in conjunction with […] a web of practices, discloses the intelligible entities and structures of a shared world«, also auch das fūdo eines bestimmten Ortes (Johnson 2018, 1140–1141). Anfänglich kommentiert sie noch gegenüber dem Tanuki: »Was ich sehe, überfordert mich ein wenig. / Es ist zu groß, um gemalt zu werden. / Ich weiß nicht mehr, wo ich den Horizont setzen, welche Fluchtlinien ich ziehen soll« (JFM, 51). Später wandelt sich ihre Auffassung der Naturmalerei jedoch in einer Szene, in der die Zeichnerin einer Gruppe Malern an der Küste begegnet, die Bäume an der gegenüberliegenden Seite malt (vgl. ebd., 46–49). Die Protagonistin wundert sich im Gespräch mit den Malern:
Aber… diese große Betonwand da mittendrin, die malen Sie nicht? / – Die? Ach, nein! Die sind wir so gewohnt, die sehen wir schon gar nicht mehr. / – Die Natur, die wir abbilden, ist idealisiert, nicht modernisiert. / – Da jungfräuliche Natur immer seltener wird … / – …erlauben wir uns einige Retuschen! // – […] ›Natsukashii‹, [懐かしい, DH] japanisch für Nostalgie, bezeichnet schöne Erinnerungen, die man mit Freunden heraufbeschwört./ – Das ist eine sehnsuchtsvolle Empfindung! (JFM, 47–48).
Hier wird also illustriert wie explizit eine subjektivistische Perspektive von den malenden Einwohnern eingenommen wird, welche sich auf ihre vorherigen Lebenserfahrungen im fūdo beziehen, um diese und ihre Empfindungen damit (fudōsei) in Kunst festzuhalten: Auch hier tritt das ›Selbst‹ nach Watsuji aus sich heraus, »insofar as it finds itself thrown into an inherited past, which it takes up in a present world of concerns for the sake of future possibilities and projects« (Johnson 2016, 220). Die hier angesprochene ›geerbte Vergangenheit‹ wird durch die Darstellung im Gemälde materiell, indem eine Landschaft ohne Betonwand gemalt wird – und fügt dem Comic Watsujis Verständnis von fūdo hinzu, das sich auch immer über die Zeit hinweg entwickelt und historisch geprägt ist (vgl. Liederbach 2000-2001, 178–179; vgl. Mayeda, 73; Johnson 2019, 188). Die Maler ergänzen sich in ihren Worten sogar gegenseitig und nehmen sich so im Sinne von aidagara als Teil einer sozialen Struktur wahr – in ihrer Rolle der Naturdarstellenden (vgl. Johnson 2016, 220–221).
Zudem werden diese Erfahrungen mit anderen sozial geteilt und es wird so eine gemeinsame Beziehung aufgebaut, indem die Maler gemeinsam die japanische Landschaft als unberührt von menschlichem Einfluss abbilden und mit der Zeichnerin darüber ins Gespräch kommen (vgl. Johnson 2016, 220–223; 2018, 1143–1144).10 Die Zeichnerin irritiert dies jedoch zunächst, da Malerei in ihrer Vorstellung die Natur realitätsgetreu abbilden müsse. Nach Johnson entspreche dies jedoch nicht dem Prinzip des fūdosei:
Yet this process of mediation does not entail that what is experienced within a particular fūdo, namely fūdosei, is merely a cultural interpretation of, or the projection of meaning onto, an otherwise »bare« nature; a fūdosei just is what it appears to us to be, namely an environing space of nature charged with significance and richly textured with qualities and values (Johnson 2016, 233; 2018, 1142; 2019, 51).
Die Maler bilden hier die Natur so ab, wie sie sich ihr durch ihre Qualitäten ausgesetzt sehen: Laut Watsuji gäbe es auch einen »klimabedingte[n] Charakter der Kunst«, der dieser Form der Bedeutungsgebung der Maler entspreche (Watsuji 1997, 151). Diesen charakterisiert er konkret für Japan als geprägt durch die »Sublimierung und Idealisierung der Schönheit der Natur«, ebenso, wie einen »harmonischen Zusammenhang« der einzelnen abgebildeten Objekte in der Natur (ebd., 166, 168, Herv. i.O.). Er schreibt:
Will man die Natur mit künstlichen Mitteln ordnen, darf man das Natürliche nicht durch Künstliches überdecken, vielmehr muß das Künstliche sich der Natur unterordnen. […] [D]ie Besonderheiten des »Ortes« […] bezeichnen auch die besonderen Merkmale der Kunst und somit der Einbildungskraft des Künstlers. Künstlerische Kreativität, als etwas zum Wesen des Menschen Gehörendes, ist zweifellos nicht an einen »Ort« gebunden, aber insofern sie sich konkret als die eines bestimmten Künstlers an einem bestimmten »Ort« zeigt, muß sie sich die Besonderheit dieses »Ortes« zu eigen machen. (Watsuji 1997, 167, 178).
So bezieht sich »das Künstliche« hier, im Falle des Comics, auf die Betonwand, welche sich in der künstlerischen Darstellung der Natur unterordnen müsse, um die Besonderheit des jeweiligen Ortes, also in diesem Falle ihre Idealisierung und Schönheit hervorzuheben.
Somit kann natsukashii ebenfalls als eine Form der Vorstellungskraft interpretiert werden, mit der Natur aufgeladen werden kann. Als die Zeichnerin wenig später den Tanuki in einem Tempel wiederfindet, bestätigt er, dass diese Art der malerischen Darstellung diesem Verständnis nach keine verfälschende, bzw., wie die Malerin befürchtet, zensierende Art der Projektion sei, sondern, im Gegenteil, Qualitäten vielmehr erhalte: »Maler nehmen sich alles heraus, ohne je etwas zu zerstören« (JFM, 52). Dass hier ausgerechnet das Wort ›Zerstörung‹ genutzt wird, ist gerade im Hinblick auf den nächsten Abschnitt zu Naturkatastrophen relevant, wenn es darum geht, wie die Einheimischen, auf welche die Zeichnerin im Comic trifft, sich zu Naturkatastrophen verhalten. Das ›In-Beziehung zueinander-treten‹ (aidagara) erfüllt sich etwa in der Malerei auch dadurch, wenn Watsuji ausführt, inwiefern Menschen durch diese Praktik eine Beziehung zwischen ihnen und der Umwelt eingehen: Denn Malerei ist natürlich nicht möglich, ohne von der Natur zu Verfügung gestellte Materialien wie Haare für Pinsel, Farben oder klimatische Bedingungen wie genügend Licht der Sonne (vgl. Watsuji 1997, 10; Johnson 2018, 1146, 1148; 2019 154–155). Jedoch lege dies Menschen nicht auf ihre Beziehung zur jeweiligen Umwelt fest. Vielmehr interpretiert Johnson die Möglichkeit, Praktiken in Bezug auf die Umwelt zu schaffen, die das eigene Selbstverständnis prägten, gerade als eine Form von Freiheit (vgl. Johnson 2018, 1148). So kann hier im Comic natsukashii als eine durch die Beschaffenheit der Natur ausgelöste Haltung zur Praktik der Malerei verstanden werden, aber auch als Ausdruck eines die eigene Identität der Maler prägenden Selbstverständnisses.
Später kommt dieser Haltung noch eine metaphysisch-spirituelle Komponente hinzu: Als die Zeichnerin dem Tanuki eine Postkarte von Hokusais Unter der Welle im Meer vor Kanagawa zeigt, erzählt er ihr die Geschichte Namis: Sie war als Kind eine Person auf einem der abgebildeten Fischerboote und hat den Tsunami überlebt, wodurch sie die Fähigkeit erlangt hat, »das Kräuseln des Meeres zu sehen«, um nahende Naturkatastrophen vorhersagen zu können (JFM, 92–93). Das Wasser, das Nami betrachtet, bekommt von Meurisse eine ganze Seite aus Namis Perspektive spendiert und sticht so deutlich heraus (Abb. 1). Obwohl hier nur das kräuselnde Wasser eines Teichs dargestellt wird, der laut Tanuki aufgrund seines salzigen Geschmacks zudem einen Teil eines Meeresarms bildet, wirkt dieser auf malerischer Ebene durch den flüchtigen wie schwungvollen Pinselstrich wie eine weite stürmische See. Hier sind noch nicht einmal Meer und Horizont klar voneinander zu unterscheiden. Im gesamten Comic ist dies vielleicht das abstrakteste und hervorstechendste Bild, was die Relevanz des Meeres für das Thema des Werks betont (vgl. Abb. 1). Durch die Fokalisierung von Namis Blick auf das Meer im rechten Panel werden hier die im fūdosei wahrgenommenen Qualitäten des Wassers deutlich. Meurisse vermittelt diese Qualitäten durch die malerische Praktik. Auf diese Weise lässt sie die Leserinnen und Leser an ihrem durch fūdosei hervorgebrachten Verständnis der Rolle von Wasser in der Selbstkonstitution des Menschen und seiner Umwelt teilhaben.

Abb. 1: Das Kräuseln des Wassers aus Namis Perspektive (JFM, 94–95). Statt Hokusai lässt sich vermuten, dass für das rechte Bild auf S. 95 Utagawa Hiroshiges Die Strudel von Awa (1855) Pate steht (vgl. Schlombs, 40–41). Ebenso wird der Kontrast deutlich, wenn man das Panel auf S. 95 mit dem Bild des ruhigen nächtlichen Meeres auf S. 78 kontrastiert.
Nach Gerard Bachelards L’eau et les rêves. Essai sur l’imagination de la matière (1942), das auch auf die Vorstellung und die Materialität von Wasserbildern eingeht, lässt sich dieses Bild vielleicht als tiefes, trübes und gewalttätiges Wasser kategorisieren (vgl. Bachelard, 62, 191, 204). Da es in seinem Werk eher um literarische Formen der Vorstellung von Wasser geht, versteht er
[u]nter Imagination (vgl. frz. image: Bild) […] Einbildung im wörtlichen Sinn, also die Entstehung innerer Bilder. Dabei unterscheidet er zwischen zwei Aspekten der Imagination, einem formalen und einem stofflichen. […] Beide, Form und Materie der Imagination, operieren zusammen, jedoch geht es Bachelard besonders um den materiellen, stofflichen, Aspekt der Bilder […]. (Ohnmacht, 56)
Ohnmacht resümiert: »Bilder von Wasser, die dem Element eine kulturelle Form geben, sind also nicht zu trennen von den stofflich-materiellen Qualitäten des Wassers, die phänomenologisch wahrnehmbar und körperlich erfahrbar sind« (ebd., 57). So fragt die Zeichnerin den Tanuki während ihres Gesprächs, ob Katsuhika Hokusai die Welle selbst gesehen hätte. Das Tier antwortet: »Nein. / Sein Druck bezeugt ihn durch Vorstellungskraft« (JFM, 94).11 Erneut geht es hier also nicht um eine Projektion auf oder Interpretation von Natur, welche diese als bedeutend darstellt, sondern gerade die Vorstellungskraft wirke hier als eine Bestärkung der Natur, so, wie wir sie durch unsere Empfindungen vorfinden. Mit Bezug auf Johann Gottfried Herder stellt Watsuji fest:
Die Einbildungskraft des Menschen ist klimatisch. [Niemand] […] kann sich einen Begriff oder eine Vorstellung von etwas machen, das [er oder sie] […] in seinem eigenen Land nicht empfindet. [Personen sind] also bei […] [ihrer] Begriffs- und Vorstellungsbildung in hohem Maße klimatisch bestimmt und damit ist auch […] [deren] Einbildungskraft festgelegt. Diese wiederum ist stark von den Kräften der Überlieferung geprägt (1997, 191, Herv. i.O.; vgl. auch Mayeda, 65–66).
Hokusais Bild überliefert hier also dessen Vorstellung des Tsunamis mit den vom Maler durch fūdosei hervorgebrachten Qualitäten der großen Welle.
Dass in diesem Comic Imagination, Kunst und Natur zusammengedacht werden, wird auch durch den Ort des ›Spiegelteichs‹ deutlich, welcher, wie die Zeichnerin bemerkt, ein spiegelndes Abbild von ihr auf der Wasseroberfläche erzeugt, während sie eigentlich gerade ein Abbild erzeugen möchte, indem sie das Gewässer und die ihn umgebende Natur malen möchte: »Eigenartig. / Ich betrachte die Natur, und dabei scheint sie mich zu betrachten« (JFM, 97). An dieser Stelle wird das von Watsuji angesprochene »›Reflektieren‹ […] im visuellen Sinn verstanden […], nämlich als Anstoßen und Zurückgeworfenwerden [sic] und als etwas in diesem Zurückgeworfenwerden sich Zeigendes« (Watsuji 1997, 8). Der Teich zeigt ihr sodann ein Abbild ihrer heimischen Landschaft – also ihres fūdos. Nami erschließt sich derweil anhand des Kräuselns des Wassers, ob eine Naturkatastrophe heraufzieht (vgl. JFM, 103). Da laut Watsuji Menschen und Natur in und durch ihr fūdo miteinander verbunden seien, kann Nami die mit Bedeutung aufgeladene Natur also hier ›lesen‹. Somit thematisiert der Comic auf mehreren Ebenen das Thema des medialen Abbilds, nicht nur als einfache Spiegelung, sondern auch reflexiv als zeichnerisches Abbild einer Spiegelung. Im Falle von Hokusai ist dies dann ein gedanklich überliefertes, sowie durch natsukashii idealisiertes, (Ab)Bild, welches gerade durch die Vorstellungskraft des Malers eine fūdo-affimierende Wirkung habe (vgl. auch Abel, 41–78).
Ukiyo-e-Landschaften in Tradition von Katsuhika Hokusai als Symbol für die Vergänglichkeit der Natur: Die malerischen Hintergründe von La jeune femme et la mer
Wurde sich im vorherigen Abschnitt schon auf die zeichnerische Machart des Comics bezogen, so soll dieser Abschnitt diesen Punkt im Hinblick auf die genaue thematische Rolle von Ukyio-e-Bildern und der Rolle von ›Landschaft‹ noch einmal vertiefen. So rekurriert die bildliche Gestaltung, insbesondere durch die auffälligen Landschaften im Comic, auf die Vergänglichkeit der Natur und unterstreicht so die Qualitäten, welche die Zeichnerin am Anfang als Japan-spezifisches fūdo bemerkt. Die Landschaftszeichnungen nehmen im Comic häufig als Splash page eine gesamte Seite ein, auf denen Figuren im Verhältnis zur sonstigen Umgebung im Bild (fast) gar nicht zu erkennen sind und auch keine weiteren Comicmerkmale wie Sprechblasen präsent sind (vgl. z. B. JFM, 8, 21, 40, 45, 69, 72, 78, 83–85, 95, vgl. Abb. 2 und 3). Dass Landschaften und deren mediale Repräsentation als Konzept und Thema dieses Comics eine wichtige Rolle einnehmen, wird schon gleich am Anfang deutlich, wenn der Tanuki der Zeichnerin das Konzept von shodō (書道) erklärt, der traditionellen japanischen Kalligrafie:
Geben Sie etwas Wasser … / auf den abgeschrägten Teil, man nennt ihn … / …das Meer. / Dann bringen Sie mit Ihrem Tuschestift… / …das Wasser auf die andere Seite, das Land. Reiben Sie mit dem Tuschestift auf dem Land. […] / Jedes geschriebene Wort bildet präzise das Objekt ab, das es beschreibt. //Shodo [sic] vereint Sprache, Auge und Hand mit den tiefsten Gründen des Bewusstseins. (JFM, 11–12)
Hier tauchen alle bisher angesprochenen Themen des Comics auf einmal auf: Erstens wird bereits die Verbindung zwischen den beiden Gegensätzen Land und Meer geschaffen und in der Praktik shodō treffen ›Meer‹ und ›Land‹ aufeinander. Das Wort, welches die Zeichnerin – deren Hand vom Tanuki geführt wird – mit dem Tuschepinsel zu Papier bringt, bedeutet ›Landschaft‹ (山水, ›Sansui‹) und setzt sich aus den Schriftzeichen für ›Berg‹ (山, ›Yama‹) und ›Wasser‹ (水, ›Mizu‹) zusammen. Wie Nami am Ende des Comics behauptet, kreise »zwischen den beiden […] das Leben« (JFM, 109). Zweitens wird die Kalligrafie aufgrund ihrer Praktik (beide nutzen Pinsel und Tusche) und Bildhaftigkeit, die der Tanuki beschreibt, mit bildender Kunst gleichgesetzt. So gesehen malt die Zeichnerin bereits ganz zu Anfang japanische ›Landschaft‹. Drittens geht es darum, wie Kunst durch das Bewusstsein die Wahrnehmung des Gemalten prägt, es sich dabei jedoch nicht um eine Interpretation handelt, sondern um in durch Praktiken, hier der Schriftsprache, wahrgenommene Eigenschaften:
What is disclosed is what […] »shows itself,» or »becomes manifest« in relation to […] language, and overall form of life that constitutes our standpoint. Returning to Watsuji’s claim that things depend on us to be »what« they are, this would mean that a thing is disclosed or appears »as« something or other through the language, practices, and affective possibilities of the world to which we belong (Johnson 2018, 1140).
Die weiter oben durch fūdosei im zweiten Abschnitt beschriebene Ontologie, welche fūdo zugrunde liegt, wird auch vom alten Dichter aufgegriffen: »Ukiyo-Drucke sind Abbilder der Welt, wie sie sich unseren Augen darbieten« (JFM, 75, Herv. v. DH; vgl. Johnson 2018, 1140). ›Ukiyo‹ stehe laut Dichter ungefähr für ›Fließende Welt‹ und symbolisiere laut Comic »die Unbeständigkeit aller Dinge« (JFM, 75), wie sie auch durch Naturkatastrophen befördert wird, was auch noch einmal im nächsten Abschnitt thematisiert werden soll. Dass die einzelnen Panels eher als Abbilder, denn als ›tatsächlich‹ wahrgenommene Darstellungen zu verstehen sind, lässt sich auch an den ›ausgefransten‹ Panelkanten erkennen, wo der Pinselstrich absetzt. Es handelt sich also schon auf der formalen Ebene nicht um die Veranschaulichung, wie die Zeichnerin ihre Reise wahrgenommen hat, sondern um eine malerisch stilisierte Vermittlung dieser. Die auch von den oben aufgeführten Rezensierenden betonte Schönheit der kolorierten Landschaftszeichnungen wird dabei immer wieder durch das großformatige Design (23,3 x 30,0 cm) betont, wodurch häufig Panels ganzseitig und frei stehen können.12
Auf diese Weise ›unterbrechen‹ diese Bilder die Narration des Comics, damit Leserinnen und Leser, wie die Zeichnerin selbst, die Natur (medial vermittelt) in sich aufnehmen und innehalten können. Dieses ›Innehalten‹ bzw. dieser ›Intervall‹ wird in der japanischen Kultur durch das Konzept ma (間) beschrieben. Melissa Croteau gibt mehrere Bedeutungen an, für die dieses Konzept stehen kann:
1) Ma refers to structuring absences; that is, it denotes a type of interval between elements; 2) Ma refers to the confluence or intersection between SPACE and TIME […] and 3) Ma assumes movement rather than stasis, as the pause or interval is considered interstitial space to be traversed as part of a process or journey (Croteau, 48, Herv. i.O.).
Übertragen auf das Medium des Comics lässt dieser ›Intervall‹, den ma darstellt und der über Zeit und Raum hinausgeht, an die Panelübergänge denken, da auch im ›Gutter‹ die Bewegung, die zwischen einzelnen Panels angenommen wird, mit der strukturierenden Abwesenheit im ›Zwischen‹ des Panelübergangs verknüpft ist. Auf der diegetischen Ebene tauchen diese ›Intervalle‹ ebenfalls während der Wanderung der Zeichnerin auf: So sind Personen in den Panels, in denen Landschaft im Fokus steht, häufig nur klein zu sehen, ebenso wird meist auf Sprechblasen verzichtet, sodass die Bilder ganz ›für sich‹ stehen können. Es liegt hier, nach Scott McCloud, eine »Aspect-to-Aspect Transition« vor, eine Art des Panelübergangs, bei dem es darum ginge, die Augen über die Seite wandern zu lassen, um verschiedene Aspekte eines Ortes oder einer Stimmung aufzunehmen (vgl. McCloud 1994, 72, 74). McCloud sieht diese Art des Panel-Übergangs als eine der zentralen Eigenschaften von japanischen Comics an (vgl. ebd., 78–79). Weiter führt er aus, dass die Comics, welche dominant ›Aspect-to-Aspect‹-Panelübergänge nutzten, »so often emphasize being there over getting there« (ebd., 81, Herv. i.O.).13 Somit bildet die Landschaft im Comic eine Art ›Pause‹ sowohl für die Leser_innen als auch für die Protagonistin auf ihrer Reise durch Japan, die das Verweilen in der Landschaft auf den Seiten begünstigt. Dies wird auch an der unten noch weiter beschriebenen Kolorierung von Isabelle Merlet deutlich (vgl. Abb. 2, ebenso wie JFM, 13, zweite Panelreihe; 27, 39–40, 83–85, 111).

Abb. 2: Nami, wie sie durch die japanische Landschaft wandert. Mittig (S. 84) Darstellung der Seerosen in einem einzigen ganzseitigen Panel, welches auf der darauffolgenden Seite als die Perspektive von Nami enthüllt wird (S. 85). Hier ist auch oben das für Ukyio-e-Gemälde typische so genannte ichimonji bokashi (一文 字ぼかし) zu erkennen, die blaue Linie oben, die den Horizont repräsentiert (vgl. Schlombs, 41).
Auf diese Weise bringt Meurisse uns die durch ihre Illustrationen gefilterte Wahrnehmung der Landschaft und somit das japanische fūdo noch näher. Die Statik des unbewegten Bildes, das einen einzigen Moment in der Zeit einfriert, lädt die Augen zum Wahrnehmen der Farbflächen und feinen Schattierungen ein (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Abb. 3: »Ist es die Verbindung mit der Erde, die uns alle vereint?«, philosophiert die Zeichnerin noch im Panel auf S. 44. Das darauffolgende ganzseitige Panel auf S. 45 scheint dies zu bejahen. Die Natur steht hier im Vordergrund, nur klein ist die Zeichnerin in der Landschaft zu erkennen. Besonders dann, wenn die Natur in Dialogen thematisiert wird, taucht kurz danach diese Art von Panels auf (vgl. auch JFM, 111).
fūdosei als Naturkatastrophe: Das Meer als Lebensspender und -nehmer
Vor allem im Zusammenhang mit […] [den] sog. ›Naturgewalten‹ treffen wir rasch gemeinsame Vorkehrungen, die uns Schutz gewähren. Das Sich-selbst-Verstehen, wie es durch das Klima zustande kommt, zeigt sich gerade in der Erfindung solcher Maßnahmen (Watsuji 1997, 10).
Wird die Natur auf der bildlichen Ebene zwar insgesamt positiv, wenn auch durch den Ukiyo-e-Stil sowohl idealisiert als auch als vergänglich konnotiert, so werden diese Attribute an verschiedenen Stellen im Comic unterschiedlich gewichtet. So wird insbesondere dann ihre Vergänglichkeit betont, wenn auf Naturkatastrophen und deren Auswirkungen eingegangen wird. Wie Nami bereits bemerkt, »leben [die Einheimischen] schon seit langer Zeit mit Naturkatastrophen« (JFM, 82). Diese jedoch überhaupt erst als solche zu bezeichnen, ist ebenfalls ein Ausdruck von fūdo. Um dies zu verdeutlichen, führt Watsuji folgendes Beispiel an: »Der kalte Wind wird […] als der von den Bergen Herabblasende, oder […] als trockener Wind, erlebt. Der Frühlingswind kann der Wind sein, der die Kirschblüten verweht oder die Meereswellen liebkost. Die Sommerhitze ist eine Hitze, die das üppige Grün verdorren läßt, aber auch die Kinder zum Spielen ins Meer lockt.« (Watsuji 1997, 9). Dementsprechend ist es nach diesem Verständnis möglich, dass ein Taifun mit starkem Wind, Erdbeben oder Tsunamis aus menschlicher Sicht als Katastrophe gewertet werden.14 Die Zeichnerin stellt jedoch fest, dass die einheimischen Menschen, denen sie auf ihrer Reise begegnet, eine normalisierende und akzeptierende Haltung gegenüber diesen Katastrophen haben und sie als Teil des Lebens ansehen, da materielle Schäden wiederaufgebaut werden könnten (vgl. JFM, 56, 63).15 Dabei wird Wiederaufbau ebenso mit Leben gleichgesetzt: »Wir schätzen das Vergängliche, das sich in seiner Erneuerung der Ewigkeit nähert«, denn Erneuerung stünde aus Sicht des Tanukis für Wiedergeburt (JFM, 54). »Erneuerung oder Rückbesinnung« müssten kein Gegensatz sein, wenn die Erneuerung von Gebäuden an deren Ursprung erinnert (vgl. JFM, 76). Diese Haltung drückt sich im Comic auch durch die Gestaltung der Hintergründe im Ukiyo-e-Stil aus, welche, wie oben bereits ausgeführt, für Meurisse die Unbeständigkeit der Natur betonen, welche bei Naturkatastrophen besonders deutlich wird.
Ebenfalls kommt im Comic häufiger die Frage auf, inwieweit mit den Auswirkungen von Naturkatastrophen umzugehen ist und wie dies auch das fūdo beeinflusst: Sollen zerstörte Strukturen wieder aufgebaut werden oder Präventivmaßnahmen durch Vorrichtungen getroffen werden, die als (sowohl von der Zeichnerin, als auch von Einheimischen als solche wahrgenommene) ›Fremdkörper‹ in der Landschaft stehen und sowohl die Sicht auf die Natur als auch den Blick auf die ursprünglichen Gebäude versperren (vgl. JFM, 63–64)?16 Im Comic auftretende Figuren tendieren auch deswegen eher zu der Ansicht , Gebäude wieder aufzubauen, da die Schutzmaßnahmen, wie ein Tsunamiwall aus Beton, der Bevölkerung die Ausübung kultureller Praktiken verwehren. Wie auch Watsuji ausführt, würden bestimmte Handlungen der Menschen erst dadurch möglich, dass diese die Natur verändern. Dies führe jedoch auch dazu, dass andere Vorgänge, die Menschen ebenfalls wichtig seien, unterminiert würden (vgl. Watsuji 1997, 10; vgl. Johnson 2018, 1142; 2019, 146). So kommentiert ein Teilnehmer einer Parade »[z]u Ehren der Göttin Benten[,] [d]er Hüterin des Ozeans«, den Tsunamiwall wie folgt:
Sehen Sie, welchen Umweg wir jetzt machen müssen, um die Göttin Benten aufzusuchen? […] / Sehen Sie. Wir sind vom Meer abgeschnitten. / Wie sollen wir mit ihm reden, wenn man es nicht sehen kann? Warum sollen wir die Boote nehmen, wenn wir seine Stimmung nicht erkennen? Wie auf Gefahren reagieren? Ja, wie? / Unsere Reflexe schwinden. Wir rosten ein (JFM, 63, 65).
Durch diese Passage rekurriert der Comic auf animistische Glaubensrichtungen in Japan, welche, vereinfacht, davon ausgehen, dass die Natur durch Götter, so genannte Kami (神), beseelt sei. (vgl. Rambelli 2019, 3, 10).17 Dies gilt entsprechend auch für das Meer, welches in folkloristischen Glauben eingebettet ist, was deutlich wird, als der Tanuki der Zeichnerin eine Legende erzählt, in der Naturkatastrophen ebenfalls mit dem Meer in Verbindung gebracht werden: »So wisset denn, Ihr Ahnungslosen, dass einst die Menschen glaubten, der Gott Kashima halte am Weltengrund einen Riesenwels [namens Ōnamazu, 大鯰, DH] fest. / Als der Gott sich abwandte, bewegte sich der Wels … / … und löste ein Erdbeben aus« (JFM, 55, vgl. Ouewehand, 6, 15, 41, 51, 56; Lévi-Strauss 141).18 Dass Japan jedoch auch dies positiv annimmt, wird deutlich, als die Zeichnerin wenig später an einem Schild auf einer Notfallstraße entlang geht, die im Falle eines Erdbebens als Rettungsstraße genutzt werden kann, auf dem eben jener Fisch als Maskottchen zu sehen ist (vgl. Abb. 4). Aufgrund seiner fröhlichen Erscheinung kommentiert sie sarkastisch: »…Der macht mir Spaß…« (JFM, 58)

Abb. 4: Der Fisch Ōnamazu, der Spaziergänger auf einer Notfallstraße für Erdbeben
begrüßt und laut japanischer Folklore Erdbeben unter Japan verursachen soll. Diese
Schilder gibt es in Japan wirklich (JFM, 58).
So steht auch hier die Ambiguität im Vordergrund, dass in der Folklore der Fisch gefürchtet, in Japan aber zugleich in Form eines Maskottchens geehrt wird (vgl. Ouwehand, 79–80; vgl. Wilde, 16–27). Ähnlich spricht auch eine Souvenirhändlerin davon, dass die Bevölkerung »dem Meer [jedes Jahr] für seine Wohltaten dankt / [...] Es nimmt uns vieles… / doch spendet es uns Leben.« (JFM, 63) Diese Auffassung deckt sich nach Peter Pörtner auch mit der von Literaturwissenschaftler Okada Kikuo:
Das Meer (umi) [bedeutet] für die Japaner schon seit dem Altertum dreierlei: 1. Ein Nahrungsspeicher […] neben dem Reis gleichsamen die andere Hälfte des »›täglichen Brots« 2. Ein Verkehrs- und Transportweg. […] 3. Etwas, das Dinge und Menschen verschlingt[,] […] aber das bedeutet nicht, daß das Meer in dieser Hinsicht nur als Ungeheuer gesehen wird. […] Das japanische Wort, das diese doppel-, wenn nicht gegensinnige Erhabenheit – gerade in bezug [sic] auf das Meer – am deutlichsten bezeichnet, lautet »kashikoshi«. Dieses häufig auftauchende Epitheton für das Meer umfaßt folgende Bedeutungen: schrecken- oder respekteinflößende Macht; das Gefühl des Respekts selbst, das man einer Autorität, einer »erhabenen« Erscheinung überhaupt entgegenbringt; Vorzüglichkeit, Überlegenheit; das Wichtig-Bedeutsame; das Erstrebens- und Wünschenswerte; das Geschickte, die Gewandtheit; das Außerordentliche, Extreme (281).
Dass die Natur gütig ist, wird auch deutlich durch Nami als Verkörperung der Göttin Benten, zu der die Zeichnerin eine Ähnlichkeit feststellt (vgl. JFM, 65). Nami schickt ihre Liebhaber in die von den Katastrophen betroffenen Regionen, um dort Hilfe zu leisten (vgl. ebd., 104).
Zusammengefasst nimmt das Meer im Comic auf der Handlungsebene also drei Funktionen ein: Zum einen wird es als beseelt und lebensspendend verstanden, aber auch zum anderen als, durch Tsunami-Wellen, zerstörerisch. Das fūdo führt hier also zu einer gegenseitigen Beeinflussung von Klima und Kultur: Menschen etablieren durch die Schutzmaßnahmen wie Betonwände, die an der Küste vor Tsunamis schützen sollen, zwar ein sicheres Leben, untergraben so jedoch auch traditionelle Praktiken wie das Anbeten der Kami. Gleichzeitig kann das Meer eine helfende Funktion aufweisen, wenn, wie von einem Paradenteilnehmer angesprochen, die Menschen mit ihm kommunizieren und sich so auf Naturkatastrophen vorbereiten können. Auf diese Weise entsteht der Eindruck, diese würden zu Japans nationaler Identität gehören, wie die Zeichnerin nicht nur durch die Menschen, mit denen sie spricht, sondern auch durch das Kunstwerk von Katsuhika Hokusai erfährt (vgl. auch Suter, 218-219, 229).
Fazit: Die Bedeutungsvielfalt des Meeres in La jeune femme et la mer
Das philosophische Konzept von fūdo ermöglicht eine Beschreibung der Art und Weise, wie Menschen und Natur im Klima miteinander verbunden sind und durch die Wahrnehmung von Qualitäten der Natur zu einer Form der Selbsterkenntnis gelangen. Indem die Hauptfigur in La jeune femme et la mer die Natur in einer Mischung aus für sie bekannten und unbekannten Elementen wahrnimmt, gelangt sie so nicht nur zu einem Verständnis über ihre sich über die Zeit verändernde Position in Japan. Die sie prägenden Erfahrungen ihres heimischen französischen fūdo werden auch mit neuen Bildern bereichert: Sie entwickelt sich von einer Außenstehenden zu einer Künstlerin, die mit der Natur Japans vertraut ist. Ebenso kann sie durch die die Natur prägenden Praktiken des Ackerbaus, die sie zu Anfang des Comics bemerkt, nachvollziehen, wie Menschen dadurch, in der Interaktion mit der Natur, nach aidagara in Verbindung zueinander stehen. Im Gespräch mit japanischen Malern greift der Comic diesen Aspekt noch einmal im Hinblick darauf auf, wie auch kreative Praktiken die Vorstellung über Natur anregen können und nach Watsuji die Vorstellungskraft ebenfalls ein von fūdo beeinflusster Aspekt des menschlichen Selbstverständnisses im ›Heraustreten‹ in die Natur ist. Konkret wird dies auch in Katsuhika Hokusais Die große Welle vor Kanagawa verhandelt, welches als Ukiyo-e-Kunstwerk sowohl auf die Vergänglichkeit der stets im Fluss befindlichen Welt durch Katastrophen wie den abgebildeten Tsunami rekurriert als auch die Rolle der menschlichen Vorstellungskraft im Hinblick auf kulturelle Zuschreibungen des Meeres betont. Denn während die Zeichnerin in Japan auch mit der Frage konfrontiert wird, wie Naturkatastrophen zu begegnen sind und wie mit dem Wiederaufbau von beschädigten Bauwerken umgegangen werden soll, charakterisieren die Japaner, denen sie begegnet, das Meer in animistisch-shintoistischer Tradition auch als gütig. Hierfür stehen stellvertretend Nami als Vermenschlichung der Göttin Benten ein, wie auch der Wels Ōnami, der zwar der Sage nach Tsunamis erst auslöst, aber auch als Maskottchen für Notfallstraßen dient.
Auf formaler Ebene rekurriert der Comic mit Scott McClouds »Aspect-to-Aspect-Transition« auf das japanische Konzept von ma, das als ›Pause‹ bzw. ›Intervall‹ die Leser_innen dazu einlädt, die von Meurisse bildlich vermittelten Qualitäten der Natur mit ihrem Blick über die Seiten wandernd wahrzunehmen und das bildlich vermittelte fūdo selbst nachzuvollziehen. Somit weist der Comic auf gewisse Weise auch immer ein selbstreflexives Moment auf, wenn es darum geht, Natur durch Kunst mit bestimmten Qualitäten darzustellen – ebenso wie es die japanischen Maler tun, denen die Zeichnerin begegnet.
Zuletzt soll noch einmal der Themenkomplex der Zuschreibungen von japanischer Identität angeschnitten werden: So stellt der Comic selbst den Konnex zwischen japanischer Identität und Naturkatastrophen her, ohne diese zu problematisieren. Dies mag daran liegen, dass die Protagonistin als eine Art Beobachterin vor Ort ist. Jedoch bettet auch extradiegetisch Catherine Meurisse Japan hier in etablierte Narrative der Naturverbundenheit ein und bedient so Stereotype des nihonjinron im weiten Sinne: Laut Stephan Köhn lassen sich diese Darstellungen auch als eher romantisiert problematisieren, wenn im Comic ein Bild der nationalen japanischen Identität geschaffen wird, die ein besonders tugendhaftes Zusammenleben mit der Natur betont (vgl. 268). Inwiefern dies zutrifft – auch, wenn der Kontrast zwischen Leben mit dem Meer in Einklang und Zerstörung im Comic immer wieder durch Gespräche mit Einheimischen anekdotisch belegt ist – soll an dieser Stelle nicht beantwortet, aber zumindest als weiterführende Frage aufgeworfen werden (vgl. Pörtner, 281; Hendry 171–172).
Was La jeune femme et la mer letztendlich jedoch leistet und als »Ocean Comic« hervorhebt, ist, wie Wasser und Meer kulturell konnotiert werden. Wie bereits am Anfang dieses Aufsatzes durch Scott McCloud verdeutlicht, zeichnet er sich so auf Bildebene durch eine Art von »universelle[r] Verständlichkeit« aus und kann sich durch die Konventionen des Magischen Realismus »der Wirklichkeit entziehen […] und [gerade in den Momenten, wo nur Natur gezeigt wird] […] ohne Sprache funktionier[en]« (Ohnmacht, 290; vgl. auch Böhme, 11–13, Abel, 41–78, 328). So gilt es, Wasserbilder kulturell durch Medien immer wieder neu zu verhandeln, wenn wir uns weiterhin, mit dem anfänglichen Epigraph von Salin gesprochen, mit der Welt verbinden wollen, die uns umgibt (Salin, o.S.).
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Abbildungsverzeichnis
- Abb. 1: Abb. 1: JFM, S. 94, 95.
- Abb. 2: JFM, S. 83, 84, 85.
- Abb. 3: JFM, S. 44, 45.
- Abb. 4: JFM, S. 58.
- 1] »In einer wunderschönen Farbpalette, einfühlsam, berührend, mit Humor und zum Thema passend gezeichnet, ist ›Nami und das Meer‹ nicht nur ein Reisetagebuch, es ist auch eine – fast philosophische – Möglichkeit, sich wieder mit der Welt zu verbinden, die uns umgibt.« (Salin 2021)
- 2] Einmal wird Unter der Welle im Meer vor Kanagawa von einer einheimischen Souvenirhändlerin sogar als »[s]o etwas wie unsere Mona Lisa« bezeichnet (JFM, 63).
- 3] Im Comic selbst vergleicht die Zeichnerin die Natur zu Anfang auch mit der Darstellung in Filmen des japanischen Regisseurs und Zeichners Hayao Miyazaki, während der Tanuki Bezug nimmt auf den Studio Ghibli-Film HEISEI TANUKI GASSEN POM POKO von Isao Takahta, in dem er selbst mitgespielt habe (JFM, 9). In diesem Film wird ebenfalls die Beziehung zwischen Menschen und Natur thematisiert, indem ein reales Bauprojekt in Japan in den 1960er Jahren als Inspiration für den Film diente, um zu erzählen, wie Tanuki durch dieses ihren natürlichen Lebensraum verlieren.
- 4] Ebenfalls nicht unerwähnt gelassen werden soll der Umstand, dass Watsujis Typologisierungen von verschiedenen Klimaregionen auf Beobachtungen basieren, die er während einer Bootsreise von Japan nach Europa tätigte (vgl. Mayeda, 63).
- 5] So ist auch einmal zu sehen, wie sich die Zeichnerin im Bad an der Hitze des Wassers verbrüht, wobei dies zeichnerisch durch ›Cartooning‹ vermittelt wird, indem ihr die ganze Zeit über die Haare steil zu Berge abstehen. (JFM, 74)
- 6] Im Vorwort zu Watsujis Ethik als Wissenschaft vom Menschen (2005) geht Übersetzer Hans Martin Krämer genauer auf diese orthographische Hervorhebung von ›Mensch‹ als Begriff ein, die darauf zurückzuführen sei, dass Watsuji im japanischen Original zwischen zwei verschiedenen Begriffen von Mensch unterscheide: »Das Japanische kennt zwei, in der Alltagssprache kaum unterschiedene, Wörter, hito und ningen. Watsuji erläutert […], dass ningen für ihn der immer schon gesellschaftlich gedachte Mensch ist. Nachdem dieser Unterschied einmal eingeführt ist, wird […] typographisch zwischen MENSCH (ningen) und Mensch (hito) unterschieden werden« (Watsuji 2005, VII).
- 7] In der deutschen Übersetzung ist derweil – ohne Nennung des japanischen Begriffs – von ›Dazwischen‹ die Rede, was Johnson aber als zu unpräzise ablehnt (vgl. Johnson 2016, 238, Fn 2). Stattdessen betont diese Übersetzung auch aus meiner Sicht besser die Beziehung zwischen Natur und Menschen zueinander.
- 8] Bezogen auf das Verständnis von kulturellen Konventionen rekurriert die Zeichnerin an einer Stelle einmal kurz auf »Levi-Strauss[’][sic]«, Ansicht, »Japaner [machten] alles andersherum«, als man es in Frankreich gewohnt sei (JFM, 70, vgl. Lévi-Strauss, 113–115). Wie bereits erwähnt, wird die Zeichnerin auch anfänglich häufig auf ihre Distanz als Europäerin und Französin zur japanischen Kultur angesprochen. Dabei steigert sich der Dichter so in eine Diskussion mit der Zeichnerin hinein, dass er behauptet, seines »Erachtens [...] [könne] kein Westler Haikus verstehen oder erschaffen. Sie vermögen es nicht.« (JFM, 18). Der Tanuki derweil beteuert, dass sie Shodō oder das Prinzip dahinter »nie verstehen [könne], da [s]ie nicht von hier« stamme (JFM, 12). So tragen beide Figuren zum Konzept nihonjinron bei, was gerade daher bemerkenswert ist, da es sich hier um die beiden für Leser_innen sympathisch wirkenden Mentorfiguren für die Zeichnerin handelt, die Meurisse so essentialistisch über ›ihr‹ Land sprechen lässt. Der Comic selbst macht sich jedoch mit dieser Ansicht nicht gemein, wie der Verlauf der Handlung verdeutlicht, worauf an dieser Stelle aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden kann.
- 9] Die Thematisierung von ›Heimat‹ und nationaler Zugehörigkeit ließe sich mit Johnsons Konzeption von fūdo in Verbindung mit seinen Gedanken zur Heideggers Konstitution des ›Selbst‹ ebenfalls thematisieren, wobei hier Watsujis, nach Johnson (und wie auch von Henshall betont) »dubious analysis of the manner in which various national characters are shaped and almost even created by particular geographical conditions« kritisch zu hinterfragen ist (vgl. Johnson 2018, 1139–1141, 1143–1147, s. auch Anmerkung 8). La jeune femme et la mer versucht im Gegensatz dazu, darauf umfassendere Antworten zu finden, wenn die Zeichnerin sich an einer Stelle fragt, ob es die Verbindung mit der Erde [sei], die uns alle vereint? (JFM, 44). Dies geht an dieser Stelle jedoch über den Umfang dieses Aufsatzes hinaus.
- 10] Dabei ist es bemerkenswert, wie ausgerechnet in dieser Szene Sprachbarrieren überwunden werden: Zwar begrüßt die Zeichnerin die Maler mit ›Konnichiwa‹, jedoch unterhalten sie sich danach ohne Kommunikationsschwierigkeiten, die im Comic sonst häufig auftreten, wenn die Protagonistin mit Einheimischen spricht – sie reagiert auch nicht überrascht, dass die Maler sie verstehen. Fast wirkt es so, als ob sich die Gesprächsparteien durch die ›gemeinsame Sprache‹ der Kunst verständigen könnten.
- 11] Dem Satz kommt auch deswegen im Comic eine zentrale Rolle zu, da er während des gleichen ganzseitigen Panels ausgesprochen wird, der auch das Coverbild des Comics bildet (vgl. Abb. 1).
- 12] Neben der regulären kolorierten Version ist vom französischen Originalverlag Dargaud auch eine Sonderausgabe veröffentlicht worden, welche Meruisses Tuschezeichnungen in schwarz-weiß belässt. In dieser Version erinnern die Zeichnungen dann vielleicht eher an Sumi-e-Bilder, insbesondere, wenn man sich das Cover dieser Ausgabe ansieht (vgl. Meurisse: La jeune femme et la mer. Edition spéciale, Edition de Luxe (noir & blanc) 2021).
- 13] In der deutschen Version heißt es an dieser Stelle, dass der japanische Comic »oft dem Ziel größere Bedeutung zukommen […] [ließe] als dem Weg dorthin«, was ich jedoch als unpassende Übersetzung des oben aufgeführten englischen Originalzitats empfinde, da ich dessen Sinn ebenso – im Sinne von Watsujis Verständnis von fūdo – so auffassen würde, dass eher das ›Sein‹ an einem Ort zentral zu setzen ist, als das (nach McCloud ›westlich‹) zielorientierte Dorthin-kommen (McCloud 2001, 89). Weiter betont McCloud ebenfalls die Rolle von Intervallen in der japanischen Kultur und nennt als Beispiel Hokusais Unter der Welle im Meer von Kanagawa – wobei für ihn das Konzept des ›Negativraums‹ im Gemälde eine besondere Rolle spielt, welchen er augenzwinkernd als »Nature’s Yin and Yang« bezeichnet (1994, 82).
- 14] Naturkatastrophen sind spätestens seit dem Tsumani und Erdbeben, auf den die Atomkatastrophe von Fukushima im März 2011 (zumeist zusammengefasst in der Bezeichnung ›3/11‹) zurückzuführen ist, auch in der Fiktion wieder präsent – zuletzt eindrücklich in Makoto Shinkais SUZUME NO TOJIMARI. Laut Nachwort wurde »[d]ie Arbeit an dieser Graphic Novel […] durch den Taifun Hagibis beeinflusst, der die Kanto-Region im Jahr 2019 traf.« (JFM, 116) So entsteht vielleicht der Eindruck, dass der Comic »[b]y showing how the Japanese people’s ›true character‹ emerges most clearly in times of disaster, in particular how they respond to this […] catastrophe with exemplary virtue […] all the familiar nihonjinron (theory of the Japanese national character) stereotypes« bestärken würde (Starrs, 9). Im Rahmen dieses Artikels kann leider nicht weiter darauf eingegangen werden, was es für die nationale Identitätskonstruktion Japans bedeutet, in Fiktion häufig als von generell wiederkehrenden Desastern gebeutelte Nation dargestellt zu werden (vgl. jedoch u. a. Starrs, 7; Henshall, 187–192; Jeong 84; DiNitto 341–344). Siehe auch die nachfolgende Anmerkung.
- 15] Wie auch Anthropologin Joy Hendry in ihren 2011 in Japan getätigten Beobachtungen feststellt, begegnen die Japaner zu denen sie auf ihrer Reise Kontakt hatte, der Aussicht auf weitere Naturkatastrophen damit, dass sie ihr Leben normal weiterführen (vgl. Hendry 171–172).This is also true for the other sheets that have not been discussed in this context, some of which also reference curatorial decisions.
- 16] Hier stechen besonders zwei nebeneinanderstehende Panels auf Seite 53 hervor: Dort sieht man zuerst, wie die Burg Kumamoto von Gerüsten umhüllt ist, die während eines Erdbebens beschädigt wurde. Als der Tanuki davon spricht, dass »man sich [seitdem] um ihren Wiederaufbau« streite, erscheint die Burg in ihrem ursprünglichen hölzernen Zustand. Ob wir hier fokalisierend gesprochen die Perspektive des Tanukis einnehmen, oder es mit der Vorstellung der Zeichnerin zu tun haben, bleibt unklar.
- 17] Wie auch Japanologe Stephan Köhn kritisiert, gäbe es in der »›westlichsprachigen‹« Literatur, wie er sie bezeichnet, nur allzu häufig die Tendenz, das Land durch »kulturelle Überhöhungen und Verweise auf das Traditionelle« als besonders naturverbunden zu präsentieren, was jedoch eine zu verallgemeinerte Darstellung sei. Dies sei insbesondere dann der Fall, wenn sie durch religiöse Verweise auf dem im Shintoismus vorherrschenden Glauben beruhe, die Natur sei beseelt (268). Tatsächlich finde sich dieser ›Animismus‹ nicht nur im Shintoismus wieder, sondern in vielen Religionen aus dem asiatischen Raum (vgl. Nobutaka, 7).
- 18] Genau genommen handelt es sich bei dem Gott um Takemikazuchi, dem jedoch am Kashima-Schrein Tribut gezollt wird, weswegen er auch als Gottheit von Kashima bezeichnet wird.