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Menschliche Realität statt übermenschlicher Kräfte
Der dokumentarische Comic zwischen Fakt und Fiktion

Der dokumentarische Comic. Reportage und Biografie rezensiert von Tim-Florian Goslar und Jochen Henrik Hartz

Der Sammelband Der dokumentarische Comic. Reportage und Biografie versammelt Beiträge der 6. Wissenschaftstagung der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor), die im November 2011 an der Universität Passau stattgefunden hat. Zur Diskussion steht das Format des dokumentarischen Comics, dessen unerwarteter Facettenreichtum auf Ebene der Inhalte, der Gestaltungs- und Narrationsweisen zum Gegenstand vielfältiger Auseinandersetzungen wird.

In seiner Einleitung weist Dietrich Grünewald, Herausgeber und damaliger Vorsitzender der ComFor, Comics als nur »eine der vielen Variationsmöglichkeiten der Kunstform Bildgeschichte« (10) aus. Und Bildgeschichten – Geschichten, die Wort und Bild miteinander kombinieren – sind unserer Kultur seit jeher in Form »zeitgeschichtlicher Berichterstattung« (10) bekannt, die auf ihren dokumentarischen Gehalt hin befragt werden kann. Das Thema dieses Bandes liegt damit auf der Hand: Die Eigenheiten des dokumentarischen Comics, dessen Traditionslinien und Potenziale stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit, Reportagen und (Auto-)Biografien werden als Unterkategorien des Dokumentarischen im Spannungsfeld zwischen Subjektivität und Objektivität begriffen. Im Zuge dessen findet die spezifische Medialität des Comics gesondert Berücksichtigung, denn jeder Comic ist zwar Bildgeschichte, aber nicht jede Bildgeschichte zwangsläufig Comic. Nachfolgend geht der Band Bildgeschichten in Form des dokumentarischen Comics in sieben voneinander unterschiedenen Sektionen nach:

(1) Narrativ-ästhetische Grundlagen
Der Beitrag Thomas Hausmanningers soll zum Auftakt des Bandes provozieren (vgl. 13) und das Format des Comics selbst auf den Prüfstand stellen: Hausmanninger outet den Begriff der Graphic Novel als fragwürdigen Versuch, sich von der bloßen Unterhaltungsindustrie herkömmlicher Comics abzugrenzen, der den Konflikt zwischen Ernst und Unterhaltung, zwischen ›Schund‹ und ›Hochkultur‹-Comic erneut beschwört und sich im Zuge dessen gängiger Muster der Kulturkritik bedient.

(2) Fiktion und Authentizität
Das Bedürfnis nach Authentizität, dem Thema des Bandes implizit eingeschrieben, sitzt hier auf der Anklagebank. Bereits der Gegenstand ›Dokumentation‹ suggeriere Objektivität, doch werde vergessen, dass das Medium des Comics »allenfalls authentisch parodiert« (72) und immer schon zwischen Authentizität und Fiktion changiert, so Ole Frahm. Jennifer Willms geht es dabei um das Authentische hinter der Fiktion: Gerade in Will Eisners Werk spürt sie viele Auseinandersetzungen mit dem Judentum auf, wobei sie vor allem in deren Hintergründigkeit eine Analogie zum von Antisemitismus geprägten jüdischen Leben erkennt und die Geschichte der New Yorker Comicszene als eng verwoben mit jener des amerikanischen Judentums begreift.

(3) Dokumentation: Krieg und Gewalt
Im Zentrum steht die Frage, wie die Darstellung des Krieges in das Format des Comics übersetzt wird. Zwischen Fakt und Fiktion vermögen Comics abseits der gängigen medialen Berichterstattung unter die Oberfläche der Realität einer Gesellschaft zu blicken, in der sich die Kriegsgeschehen und Gewaltverbrechen ereignet haben. Nicht zwangsläufig geht es jedoch darum, die Wahrheiten unvorstellbarer Gräueltaten aufzudecken, waren diese – wie im Falle des Ersten Weltkriegs – den Zeitgenossen doch durchaus bekannt. Wie Detlev Gohrbandt anhand von The Patriot’s Progress (1930) aufzeigt, rücken stattdessen »die Ästhetik der Darstellung und die Ethik der Bewertung« (123) in den Vordergrund.

(4) Berichterstattung: Nah-Ost-Konflikt
Das gemeinsame Thema dieser Sektionsbeiträge ist die Erinnerungs- und Gedächtniskultur. In einem Zwischenraum abseits historischer Exaktheit, zwischen subjektiver Darstellung und scheinbarer Objektivität, kommt die Frage auf, wie Erinnerungen kollektiviert werden. So blickt Chantal Catherine Michel kritisch auf dokumentarische Kriegscomics. Obwohl die Autor_innen keinen »ethnisch oder kulturell bedingt[en]« (189) Bezug zum Nahostkonflikt aufweisen, verweist Michel auf deren eindeutig pro-palästinensische Position – bei den untersuchten Dokumentarcomics handele es sich deshalb um anti-israelische Propaganda. Mit dem Beitrag von Andreas Heimann wäre anzuschließen, dass Propaganda zwar »nicht notwendigerweise« auch bedeutet, »dass gelogen wird« (202) – nicht zu leugnen sei jedoch, dass die subjektiven Standpunkte der Autor_innen immer auch eine implizite politische Stellungnahme darstellen.

(5) Aspekte therapeutischer Funktion: Traumata
An dieser Stelle wird auf verschiedenen Ebenen dem Verhältnis von Comics und Traumata nachgegangen. So versucht etwa Ute Friederich aufzuzeigen, dass Comic und Roman auf verschiedensten Ebenen »ähnliche Strukturen nutzen, und dass diese die Strukturen eines Traumas spiegeln« (209). Auf originelle Weise stellt sie dabei vor allem eine kreative (Re‑)Konstruktionsleistung als gemeinsames Strukturmerkmal sowohl der Rezeption des Comics als auch der Erinnerung heraus.

(6) Satirische Akzente
Diese Sektion wird durch den Aspekt der Satire lose zusammengehalten. Der Beitrag Michael Freunds widmet sich den satirischen Akzenten in den Doonesbury-Strips von Garry Trudeau, der die politischen Verwicklungen und Kriege der USA seit den 1970er Jahren karikiert. Freund zeigt auf, wie die satirische Kommentierung politischer Ereignisse – nicht zuletzt durch die vermehrte Recherchetätigkeit Trudeaus – zunehmend ernstere Züge angenommen hat und ins Zentrum der Doonesbury-Strips gerückt ist: Die satirische Distanz weicht der aktiven Stellungnahme.

(7) Biografie und Autobiografie
Die Beiträge dieser Sektion befassen sich mit den Potenzialen grafisch erzählter (Auto-)Biografien. Christian Heuer befasst sich dabei mit der popkulturellen Konjunktur lebensgeschichtlicher Narrationen im Comic. Diese und die professionelle Geschichtsschreibung sind für ihn dabei gleichrangige kulturelle Praktiken des narrative worldmaking, die gleichermaßen Einblicke in soziale Realitäten erlauben. So liest sich sein Artikel als Plädoyer dafür, die in Comics vorfindliche lebensgeschichtliche Wirklichkeit als authentische Narration zu begreifen und entsprechend zu erforschen.

Abseits der Einteilung in verschiedene Sektionen, sind es nicht zuletzt folgende Aspekte, die sich in unterschiedlicher Akzentuierung in vielen Beiträgen wiederfinden und das Spektrum bilden, welches das Format des dokumentarischen Comics diesem Band zufolge auszeichnet: die Konflikte und Differenzen zwischen Authentizität und Fiktion, zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Darstellung, die Auf- und Verarbeitung von Traumata, der Erinnerungs- und Gedächtnisdiskurs sowie die (Selbst-)Reflexivität des Comics und damit einhergehend ein beständiges Parodieren von Inhalt und Form – und nicht zuletzt das Potenzial dokumentarischer Comics, eine unsichtbare Wirklichkeit gesellschaftlicher Realität aufzudecken und abzubilden. Auffällig sind darüber hinaus die Bezüge zwischen Comic und Judentum, die immer wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken.

Nicht nur Überschriften wie Narrativ-ästhetische Grundlagen verweisen darauf, dass der vorliegende Band den dokumentarischen Comic nicht ausschließlich wissenschaftlichen Einzelanalysen unterzieht. Es geht auch um eine Verständigung über das Medium des Comics, um eine Standortbestimmung, aber auch um Stimmen aus dem Betrieb selbst. Der Band versammelt unterschiedlichste Positionen aus den verschiedensten Disziplinen der Geistes-, Kunst-, Kultur- und Medienwissenschaften sowie aus den Bereichen der Illustration bzw. der freischaffenden Kunst und führt Freiberufler_innen und etablierte Wissenschaftler_innen zusammen. Dies schlägt sich deutlich in den Analysen nieder, die sich unterschiedlichster Methoden bedienen – heterogene methodische Zugriffe stehen damit der inhaltlichen Gruppierung der Sektionen gegenüber. Beiträge, die mitunter sehr materialreich sind, zum Teil jedoch ohne deutliches Fazit auskommen, und Beiträge, die auf der Ebene theoretischer Grundlegung differenzierter, im Gegenzug jedoch weniger materialreich sind, wechseln einander ab – dass auch der animierte Dokumentarfilm waltz with bashir (2008) ausführlich behandelt wird, wirkt ein wenig inkonsistent, entspricht dieses Format doch nicht mehr der oben genannten Definition von Bildgeschichte. Letztlich wird ein multiperspektivischer Überblick geboten, der die mannigfaltigen produktiven und theoretisch fundierten Auseinandersetzungen unterschiedlichster Ausrichtung mit dem Medium ›Comic‹ veranschaulicht; dieser Sammelband bildet die methodische und thematische Vielfalt des vor allem in Deutschland noch sehr jungen akademischen Diskurses unter Einbeziehung aktueller Dissertationsvorhaben ab, zu welchem er selbst somit nicht zuletzt einen interessanten Beitrag darstellt.

 

Der dokumentarische Comic: Reportage und Biografie
6. Wissenschaftstagung der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor)
Dietrich Grünewald (Hg)
Essen: Ch. A. Bachmann, 2013
392 S., 36,00 Euro
ISBN 978-3-941030-27-5