Eigenlogik oder mediale Interdependenz?

Der Comic als Form. Bildsprache, Ă„sthetik, Narration rezensiert von Mara Stuhlfauth-Trabert und Florian Trabert

Zumindest Comiczeichner_innen scheinen sich Comicforscher_innen als eine komische Spezies vorzustellen. In Marc-Antoine Mathieus Le Livre des Livres (Das Buch der Bücher) von 2017 zeigt eine Doppelseite den Umschlag einer fiktiven »Ontologie des Comics«, genauer gesagt deren 17. Band mit dem Titel »Struktur der Sprechblase«. Unter einer riesenhaften Apparatur, die eher Assoziationen an die Kernphysik als an die Comicforschung wachruft, ist eine Sprechblase platziert, die von den anwesenden Forscher_innen nachdenklich, ja fast ratlos betrachtet wird. Wie lässt sich diese Ratlosigkeit erklären? Sollten Mathieus bezeichnenderweise stumm bleibende Figuren einfach mal miteinander reden, um die Funktionsweise von Sprechblasen zu begreifen? Oder können sie – eben weil sie ›nur‹ Comicfiguren sind – die Gesetze ihres eigenen Mediums gar nicht erkennen? Oder ist diese Ratlosigkeit am Ende ein Abbild der Comicforschung? Dann entspräche Mathieus Darstellung der Bestandsaufnahme von Jörn Ahrens in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Sammelbandes Der Comic als Form. Bildsprache, Ästhetik, Narration, der aus der gleichnamigen Tagung 2019 an der Justus-Liebig-Universität Giessen hervorging.

In seiner Einleitung hält Ahrens fest, dass sich die Comicforschung noch nicht darüber verständigt habe, »[o]b der Comic überhaupt ein Medium ist und wie er zu definieren sei« (8). Der 2021 im Christian A. Bachmann Verlag erschienene Band setzt sich das Ziel, einen Beitrag zur Verständigung über die Formgesetze des Mediums zu leisten, und stellt somit, wie bereits aus dem Titel ersichtlich wird, ein kaum weniger ambitioniertes Unterfangen als Mathieus fiktive Ontologie dar.

Für den Band ist das Bestreben leitend, die Comicforschung aus der von Ahrens postulierten doppelten Abhängigkeit von der Film- und Literaturwissenschaft zu lösen, um auf diese Weise »die formgebenden Bedingungen einer Eigenlogik des Mediums Comic« (27) reflektieren zu können, wie Ahrens ausführt. In strategischer Hinsicht ist dieses Postulat schon deshalb zu begrüßen, da es die Emanzipation der Comicforschung legitimiert, der ja bislang im Universitätsbetrieb eine institutionelle Basis weitgehend fehlt. In seinem eigenen Text gelingt es Ahrens anhand von Jeff Lemires und Andrea Sorrentinos Gideon Falls (2018–20) sehr überzeugend darzustellen, wie der Comic – insbesondere im Gegensatz zum Film – den Prinzipien der Repräsentation, der Mimesis und der Illusion, in denen der Autor elementare Grundsätze von Massenmedien sieht, gerade nicht Folge leistet. Die Welt des Comics bleibt aufgrund dieser amimetischen Tendenzen eine ›falsche Welt‹, und gerade hierin sieht Ahrens die reflexive Stärke des Mediums. Dem Comic kommt somit der paradoxe Status zu, ein Massenmedium zu sein, das gegen die Gesetze von Massenmedien verstößt (Vgl. 205). Indem Ahrens in diesem Zusammenhang allerdings wiederholt von einer Eigenlogik des Mediums, ja von einem »essenzielle[n] Charakteristikum einer Formsprache des Comics« (178) spricht, gerät er bisweilen in das Fahrwasser eines Medienessentialismus, den er selbst harsch zurückweist.

Nicht ganz dem formulierten Anspruch einer Lösung von der Literaturwissenschaft wird der Band auch aufgrund des Umstands gerecht, dass gut die Hälfte der Beitragenden ›von Haus aus‹ den entsprechenden Disziplinen (Anglistik, Germanistik, Komparatistik und Romanistik) angehören, während ausgewiesene Bildwissenschaftler_innen nicht vertreten sind. Zur Verteidigung der Zunft (der zugegebenermaßen auch die beiden Rezensent_innen angehören) muss allerdings gesagt werden, dass die entsprechenden Beiträge eindrucksvoll zeigen, wie sich der Comic gerade in der Interdependenz mit anderen Medien entwickelt hat – wenn auch um den Preis, dass die für den Band leitende These einer Eigenlogik des Mediums durch diese Befunde eher geschwächt wird. So geht etwa Arno Meteling dem Lyrischen im Comic nach, während Monika Schmitz-Emans anhand einiger Frühformen des US-amerikanischen Comics (Outcault, McCay, Feininger, Herriman) die Geburt des Comics aus dem Geiste des Theaters beleuchtet. Anders als es diese Perspektive zunächst vermuten lässt, hat Schmitz-Emans dabei weniger die textliche als vielmehr die visuelle Ebene im Blick, die in inhaltlicher, aber eben auch in formaler Hinsicht zu einem wichtigen Impulsgeber des jungen Mediums wird:

»[N]icht nur die Figuren und Abläufe der Bildergeschichte dokumentieren vielfach eine Orientierung an Theatralem, sondern auch Formen der Bildinszenierung in Wochenendbeilagen und auf den humoristisch-unterhaltsamen Seiten verschiedener Blätter: Rahmungen ganzseitiger Bildszenen und Comics, Ornamente, Panelformen, Gestaltungen von Titeln etc. – lauter Dispositive, die den Raum des Comics als Schau-Raum akzentuieren – sind oft aus der Welt des Theaters und des Zirkus entlehnt.« (289)

Auf die Affinität des Mediums zur theatralischen und zirzensischen Sphäre geht auch Christina Meyer in ihrem gleichfalls Outcaults Yellow Kid (1895 –98) gewidmeten Artikel ein, wobei sie aus sozialkritischer Perspektive zusätzlich noch die Inklusions- und Exklusionsmechanismen der US-amerikanischen Gesellschaft in den Blick nimmt.

Dass sich aber schließlich auch Formelemente des Comics bestimmen lassen, die jenseits der wie stark auch immer amalgamierten textlichen und visuellen Ebene liegen, zeigt Joachim Trinkwitz in seinem Beitrag, der aus einer praxeologischen Perspektive die Interaktion der Rezipierenden mit der Materialität der Comicbände in den Blick nimmt. Anhand eines umfangreichen Korpus, das von Frühformen des Comics wie Frank Kings Gasoline Alley (1918 –) bis zu den Formexperimenten Mathieus reicht, entwickelt Trinkwitz eine Typologie möglicher Interaktionen zwischen Comicleser_innen und Comicseite. Das Spektrum umfasst einfache Formen des Drehens, Wendens und Faltens, dauerhafte Eingriffe des Schneidens, Klebens und Zerstörens oder komplexe Operationen wie dem Lösen von Rätseln und Reduplikationen. Überzeugend arbeitet Trinkwitz somit heraus, dass in diesen Formen der Interaktion insbesondere dann eine für den Comic spezifische Formkomponente zu sehen ist, wenn dessen taktile Dimension zum Tragen kommt.

Insgesamt vermittelt der Band, der eher Comicforscher_innen als interessierte Comicleser_innen adressiert, vielfältige Impulse für eine Auseinandersetzung mit formalen Aspekten des Comics, die gleichermaßen geschichtlich wie medientheoretisch dimensioniert sind. Die Beiträge liefern eher einzelne Bausteine als das Dach für eine umfassende Formtheorie des Comics, insofern sie teilweise eher dessen Eigenlogik, teilweise eher die Interdependenzen mit anderen Medien akzentuieren. Somit bilden die Texte die Methodenvielfalt der Comicforschung ab, ohne deshalb – und nicht unbedingt zu ihrem Schaden – immer durch die einleitend formulierten Prämissen gebündelt zu werden.

 

Der Comic als Form
Bildsprache, Ă„sthetik, Narration (Bildnarrative Bd. 10)
Jörn Ahrens (Hg.)
Berlin: Ch. A. Bachmann Verlag, 2021
336 S., 36,00 Euro
ISBN 978-3-96234-049-0